17

Gegen Mittag gelangten sie zu der weiten Waldwiese, die den Großen Weißen Baum umgab. Seit sie den Waldrand erreicht hatten, war Rhapsody seinem Gesang gefolgt; was als tiefes Summen in ihrer Seele begonnen hatte, war jetzt eine laut schallende Melodie, langsam und nur leicht variierend, aber erfüllt von einer bezaubernden Schönheit und unverkennbaren Kraft.

Ganz ähnlich wie Sagias Lied, dachte sie und erinnerte sich an die Melodie des Baums auf der anderen Seite der Welt, durch den sie mit Grunthor und Achmed entflohen war; nur besaß die hiesige Melodie einen jugendlichen Schwung, der Sagia gefehlt hatte. Dafür barg Sagias Lied eine gelassene Weisheit und eine Tiefe in sich, mit denen sich das, was jetzt an ihr Ohr drang, nicht messen konnte. Vielleicht war es darauf zurückzuführen, dass die Sagia sich an dem Ort entwickelt hatte, an dem das erste Element der Äther geboren worden war, und dass der Große Weiße Baum dort stand, wo das letzte die Erde erschienen war. Alter und Jugend, zusammengehalten von der Geschichte und der Axis Mundi.

Als sie den Baum endlich sehen konnte, blieb Rhapsody vor Ehrfurcht unwillkürlich stehen. Der Stamm des Großen Weißen Baums maß gut und gern fünfzig Fuß im Durchmesser; der erste Hauptast zweigte mehr als hundert Fuß über dem Boden ab und führte mit immer mehr Ästen zu der ausladenden, in der grünweißen Pracht frischer Blätter erstrahlenden Krone. Die Mittagssonne schien auf die Rinde und verlieh ihr einen beinahe ätherischen Glanz, warf Flecken aus goldenem Licht zwischen die gigantischen Äste und ließ verschwommene Strahlen auf den Boden hinabregnen, erfüllt von verträumter Magie. Rund um den Baum, etwa hundert Fuß von der Stelle entfernt, wo die mächtigen Wurzeln die Erde durchbrachen, war ein Ring von Bäumen angepflanzt worden, einer von jeder auf der Welt bekannten Art und einige davon die letzten Vertreter ihrer Art, wie Llauron Rhapsody einst erklärt hatte.

Auf der anderen Seite der Wiese stand eine Gruppe uralter Bäume, allesamt sehr hoch und breit, aber in ihren Ausmaßen doch nie und nimmer mit dem Großen Weißen Baum vergleichbar. Zwischen den Bäumen und um sie herum lag ein großes, wunderschönes Gebäude, von sehr einfacher, jedoch zugleich atemberaubender Architektur. Bei seinem Anblick wurde Rhapsody warm ums Herz.

Llaurons verwinkeltes Haus war teilweise hoch in die Äste hinein, teilweise auf Stelzen gebaut, mit Fenstern, von denen aus man auf den großen Baum sehen konnte. Kunstvolle Schnitzereien verzierten das Äußere, vor allem den Turm, der hoch über den Baumkronen aufragte. Mit der Ankunft des Frühlings hatte das Haus einen ähnlichen Glanz angenommen wie die Rinde des Großen Weißen Baums; schimmernd stand es im kühlen Schatten des Wäldchens.

Eine hohe Steinmauer, gesäumt von blühenden Gärten, die geschlafen hatten, als Rhapsody das letzte Mal hier gewesen war, führte zu einem Teil des kleineren Gebäudeflügels, wo eine schwere Holztür, alt und scheinbar von Salzgischt ramponiert, zu beiden Seiten von Soldaten bewacht wurde.

In der oberen Ecke der Tür befand sich ein Hexenzeichen, eine Spirale, die einen Kreis bildete. In der Mitte der Tür war das Bild irgendeines mythischen Tiers zu erkennen, vielleicht ein Drache oder ein Greif, in Goldblatt gearbeitet, vom Zahn der Zeit und den Elementen allerdings ziemlich angegriffen. Und noch mehr Llauron hatte gesagt, dass diese Tür einmal der Eingang zu einem Gasthaus in Serendair gewesen sei. Dieses Etablissement hatte eine bedeutsame Rolle gespielt in der Geschichte des Krieges, der sich zusammengebraut hatte, als Rhapsody mit ihren beiden Gefährten die Insel verlassen hatte. So war sie für Rhapsody eine Erinnerung an die Heimat und an ihre eigene Verlorenheit zugleich.

»Es tut gut, diesen Ort wieder zu sehen«, sagte sie zu Gavin, als sie an den breiten Blumenbeeten entlangschritten, die in üppiger Farbenpracht blühten. In den Gärten der Filiden war die Blütezeit dem Rest der Flora auf dem westlichen Kontinent weit voraus. »Ich habe ihn vermisst.«

Gavin lächelte und nickte den Wachen an der Tür zu, die vor ihm salutierten. »Du kannst gern hier bleiben, weißt du. Wenn dir der Luxus in Llaurons Haus nicht behagt, kannst du auch in meiner Hütte wohnen, ich bin sowieso nie zu Hause.« Er öffnete die Tür. Rhapsody folgte ihm in die Eingangshalle des Hauses. Sonnenlicht strömte durch die Fenster in der gewölbten Decke, hinter denen die Baumwipfel über dem hohen Dach zu sehen waren. Ein Duft nach Zedern und frischen Kiefernzweigen erfüllte die Luft des seltsamen Hauses, vermischt mit dem würzigen Aroma von Kräutern und Blumen. Dankbar atmete Rhapsody die tröstlichen Gerüche ein.

In der mittleren Halle stand eine kleine Gruppe von Männern und Frauen in einfacher, bäuerlicher Kleidung und unterhielt sich gedämpft, bis Gavin die Tür hinter sich schloss. Als Ersten erkannte Rhapsody Khaddyr, Llaurons Tanist und oberster Heiler. Khaddyr war der Mann, den die Kreisältesten zum Nachfolger des Fürbitters gewählt hatten, aber nun verbrachte er seine Tage damit, die Novizen in Medizin zu unterrichten und sie in der Pflege der Kranken und Sterbenden in den Hospizen der filidischen Siedlung zu unterweisen. Trotz seiner gelegentlich etwas barschen Art war Khaddyr ein aufopfernder Heiler und kümmerte sich ungezählte Stunden mitfühlend um die ihm anvertrauten Patienten. Seine Gesprächspartnerin war Lark, die stille lirinsche Kräuterfrau. Lark war schüchtern und zurückhaltend und sprach eigentlich nur, wenn jemand ihr eine Frage stellte oder sie in eine Diskussion über ein ihr besonders vertrautes Thema verwickelte. Ein Stück weiter den Gang hinunter stand Bruder Aldo, ein ebenfalls sehr scheuer, vor allem auf Waldtiere spezialisierter Heiler und Leiter der Gruppe, die den Stadtbewohnern bei der Pflege ihres Viehs halfen. Er unterhielt sich mit Ilyana, die für Landwirtschaft zuständig war und Llaurons Gewächshäuser verwaltete. Alle starrten Rhapsody an, als sie ebenso wie die anderen filidischen Oberpriester ihre Kapuze abnahm.

Doch dann schüttelte Khaddyr überrascht den Kopf, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Rhapsody! Welch eine Überraschung! Wie schön, dich hier zu sehen, meine Liebe.«

»Danke, Euer Gnaden, ich freue mich auch sehr, Euch zu sehen.« Damit verneigte sie sich höflich vor den anderen. »Ist auch Llauron zugegen?«

»Allerdings, das ist er«, erklang rechter Hand eine Stimme. Llauron stand in der Tür zu seinen Amtsräumen, gekleidet in sein übliches schlichtes, graues Gewand, in der Hand einen Stapel Papiere.

Das Gesicht des Fürbitters war angenehm und voller Runzeln, mit Lachfalten um die Augen, silberweißen Haaren, buschigen Augenbrauen und einem gepflegten, ebenso dichten Schnurrbart. Er war groß und recht zierlich, schien aber bei guter Gesundheit zu sein. Seine Wettergegerbte Haut zeichnete ihn als einen Menschen aus, der die meiste Zeit im Freien verbringt. »Und er freut sich sehr, dich zu sehen, obwohl ich keine Ahnung hatte, dass du kommen würdest. Entschuldigt mich bitte einen Moment, Eure Gnaden«, fügte er, an die Brüder gewandt, hinzu.

Die anderen nickten, und Llauron drückte die Papiere, die er mitgebracht hatte, Gavin in die Hand. Dann nahm er Rhapsody sanft beim Arm und führte sie in sein Studierzimmer. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, küsste der Fürbitter Rhapsody auf die Wange und ging zum Kamin, wo ein dampfender Kessel hing.

»Tee, meine Liebe?«

»Nein, aber trotzdem vielen Dank, Llauron. Es tut mir Leid, wenn ich Euch störe, indem ich unangekündigt hier hereinplatze.«

»Ganz und gar nicht, es ist eine erquickende Überraschung. Mach es dir gemütlich. Ich muss zwar das Treffen mit den Hohepriestern abhalten, aber ich werde Gwen und Vera Bescheid geben, dass du hier bist. Dann können sie dir ein Essen zubereiten und dein Zimmer fertig machen. Wie lange hast du vor zu bleiben, meine Liebe?«

»Gar nicht, fürchte ich«, entgegnete Rhapsody beklommen. »Ich bin unterwegs an einen anderen Ort und muss mich schon bald wieder auf den Weg machen.«

»Verstehe.« Die kühlen blaugrauen Augen des Fürbitters verengten sich leicht, doch sein Gesicht behielt den freundlichen Ausdruck bei.

»Ich habe gehofft, mich mit einer Bitte an Euch wenden zu dürfen.«

»Unbedingt. Was kann ich für dich tun?«

Rhapsody nahm ihre Handschuhe ab; plötzlich waren ihre Hände schweißfeucht. »Ich muss eine Botschaft nach Hause schicken, zu Achmed, und möchte lieber nicht auf die Karawane warten. Daher hoffe ich, Ihr werdet mir erlauben, mich eines Eurer Botenvögel zu bedienen.«

Llauron nickte nachdenklich. »Gewiss. Deshalb also habe ich so lange nichts von dir gehört; du warst auf Reisen.« Rhapsody machte sich auf die unvermeidlichen Fragen gefasst, aber anscheinend spürte Llauron, dass sie nicht willens war zu antworten, und hakte nicht nach.

»Nun, selbstverständlich können wir für dich eine Botschaft schicken. Setz dich doch und ruh deine Beine aus, meine Liebe. Ich werde dir von Vera etwas zu essen und neuen Proviant bringen lassen. Brauchst du Kräuter oder irgendeine Medizin?«

»Nein, nein, danke«, erwiderte sie und folgte seinem ausgestreckten Finger zu dem Rosshaarsofa, wo sie sich niederließ.

»Nun, vielleicht finden wir trotzdem ein paar spezielle Dinge für dich, die du mit nach Hause nehmen kannst. Ich bin sicher, die Bolg können etwas damit anfangen. Doch nun, meine Liebe, möchte ich, dass du dir das hier ansiehst.« Er ging zu einer von Täfelung und Bücherregalen verborgenen Tür auf der anderen Seite des Studierzimmers und öffnete sie;

Rhapsody kannte sie bereits, sie führte in Llaurons privates Studierzimmer.

»Erinnerst du dich an Mahb, die junge Esche in meinem hinteren Medizingarten?«

»Ja.«

»Hinter dem Baum liegt ein versteckter Eingang, den du benutzen kannst, ungefähr so wie diesen hier. Wenn du das nächste Mal kommst, darfst du dich gern seiner bedienen. Er führt dich in mein privates Studierzimmer, und falls deine Reise heikler Natur ist, was ich dieses Mal vermute, dann muss kein anderer von deiner Ankunft erfahren.«

»Danke«, antwortete sie, während Llauron die Tür wieder schloss. Der Fürbitter schenkte ihr ein herzliches Lächeln. »Keine Ursache. Nun, während du dich erfrischst, werde ich mich um meine Versammlung kümmern, und wenn ich zurückkehre, helfe ich dir beim Versenden deiner Botschaft.«

Rhapsody hatte gerade aufgegessen, was Vera ihr im Studierzimmer aufgetischt hatte, als Llauron zurückkehrte. Sorgsam schloss er die Tür hinter sich. Über seiner Schulter hing ein kleiner Beutel; in der Hand hielt er einen kleinen blaugrauen Wintervogel, ein kräftiges Tier von der Art, die häufig Nachrichten von ihm zu ihr nach Ylorc brachten.

»Nochmals guten Tag«, sagte er, während er den Kopf des Vogels streichelte. »Bist du satt geworden?«

»Mehr als das, danke, Euer Gnaden«, antwortete sie und wischte sich schnell den Mund mit der Leinenserviette ab, die auf dem Tablett lag.

»Das hier ist Swynton, einer meiner besten Boten über große Entfernungen; ich glaube, du kennst ihn bereits. Auf dem Schreibtisch findest du eine Feder, ein Tintenfass und Pergament, falls du so nett sein möchtest, jetzt deine Nachricht zu schreiben; der Vogel ist ein bisschen durcheinander.

Ich habe ihn ziemlich unsanft aus dem Schlaf geholt, und ich habe das Gefühl, das will er mir noch nicht so ganz verzeihen.«

»Hit mir Leid.« Rhapsody ging eilig zum Schreibtisch, kritzelte eine Notiz, löschte die Tinte und rollte das Stückchen Pergament dann eng zusammen. Llauron lächelte, griff in seine Tasche und zog einen kleinen Metallbehälter heraus, den er Rhapsody reichte. Sie steckte die Botschaft hinein, der Fürbitter befestigte das Röhrchen am Fuß des Vogels und deutete mit einer Kopfbewegung zu der verborgenen Tür.

»Gehen wir durch die Geheimtür, damit du sie auch bestimmt wieder findest«, meinte er.

»Wenn du das nächste Mal kommst, haben wir hoffentlich mehr Zeit und können uns unterhalten. Ich habe dich schrecklich vermisst.«

Rhapsody öffnete die Tür. »Das würde ich sehr gern tun«, erwiderte sie. Dann folgte sie Llauron durch den versteckten Eingang, der sie durch einen dunklen Erdtunnel in den stillen Raum neben der Küche führte. Dort warteten sie, bis die Luft rein war und traten schließlich hinaus ins helle Licht des Spätnachmittags.

»Meinst du, dass du die Tür wieder findest?«, fragte Llauron, als er den Vogel freiließ.

»Ich denke schon.«

»Gut, gut.« Llauron legte die Hand schützend über die Augen, als der Wintervogel aufstieg, sich im Wind in die Kurve legte und kurz darauf über den Baumwipfeln verschwand. »Weg ist er. Keine Sorge, meine Liebe. Deine Freunde werden die Nachricht unbeschadet erhalten.«

Rhapsody lächelte den alten Mann an. Er hatte sie nicht im Geringsten nach ihrem Vorhaben ausgefragt und auch den Inhalt der Botschaft nicht wissen wollen. Sie blickte ihm ins Gesicht und sah dort väterliche Sorge.

»Vielen Dank noch einmal, Llauron«, sagte sie und ergriff seine Hand. »Entschuldigt, dass ich einfach so unhöflich hereingeplatzt bin und sofort weiterhaste.«

»Nun, manchmal geht es eben nicht anders, ganz gleich, wie sehr wir uns alle über einen längeren Besuch von dir freuen würden, meine Liebe. Gwen hat deinen Proviant schon gepackt.« Damit nahm er den Beutel von seiner Schulter und überreichte ihn ihr. »Wenn du mir erlaubst, einen Segen für dich zu sprechen, so bitte ich den Allgott darum, dass er dich auf deiner Reise beschützt, bis du unversehrt wieder zu deinen Freunden nach Ylorc zurückkehrst.«

»Danke.« Rhapsody neigte respektvoll den Kopf; Llauron legte seine Hand auf ihr Haar und sprach ein paar Worte in Altcymrisch, der Sprache ihrer Kindheit, die inzwischen fast vergessen war und nur noch für religiöse Zwecke verwendet wurde. Als seine Fürbitte beendet war, tätschelte der alte Mann sanft Rhapsodys Wange, hob dann ihr Kinn an und musterte ihr Gesicht.

»Sei vorsichtig, meine Liebe; ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt. Wenn du irgendetwas brauchst, solange du dich in meinem Land aufhältst, sage bitte jedem, dem du begegnest, dass du unter meinem Schutz stehst; dann wird man dir helfen.«

»Noch einmal danke, Llauron. Doch nun muss ich aufbrechen. Bitte dankt auch Gwen und Vera von mir.« Rhapsody streckte die Arme aus und umarmte den alten Herrn geschwind.

»Bitte passt auch auf Euch selbst gut auf.«

Der Fürbitter erwiderte ihre Umarmung, und als er sie losließ, leuchteten seine Augen voller Zuneigung.

»Für dich, meine Liebe, würde ich alles tun. Gute Reise und grüße deine Freunde in Ylorc herzlich von mir.«

Als Rhapsody am Abend zur Wegmarkierung kam, wartete Ashe dort bereits auf sie.

»Wie ich sehe, hast du es gefunden.«

Er lachte leise. »Ja. Konntest du deine Botschaft abschicken?«

»Ja, danke. Ashe?«

Er hatte sich bereits nach Süden gewandt, bereit zum Aufbruch. »Ja?«

»Danke, dass ich nicht rennen muss, um Schritt mit dir halten zu können.«

»Gern geschehen, Rhapsody. Wie ich dir schon damals bei den Zahnfelsen sagte wenn du anfangen würdest zu rennen, käme ich wahrscheinlich nicht mehr mit.«

Die Reise nach Süden durch den erwachenden Wald verlief ereignislos, gekennzeichnet durch Dickichte aus blühenden Bäumen und grünem Blattwerk, so weit das Auge reichte. Rhapsody fragte sich, wann die Welt wohl nicht mehr wie ein endloser Wald aussähe, durch den sie wanderten.

Der Frühling war bis ins Blut vorgedrungen; Rhapsody atmete die Luft tief ein, und ihre Augen strahlten. So schritt sie mit einem Gefühl von Ehrfurcht einher und fragte sich, was Elynsynos mit ihrer tiefen Verbundenheit zur aufblühenden Erde wohl fühlen mochte. Sie hoffte, dass diese Jahreszeit für die Drachin angenehm war.

Nach einigen Tagen spürte sie, dass sie sich lirinschem Land näherten. Eines Nachmittags wandte sie sich Ashe zu und berührte seinen Arm.

»Ashe?«

»Ja?«

»Jetzt sind wir in Tyrian, oder?«

»Ja, ich denke schon.«

»Ich glaube eigentlich, dass wir schon seit ein paar Stunden in Tyrian sind.«

»Da könntest du Recht haben.«

»Nun«, meinte Rhapsody und blieb stehen, »dann sind wir dort angekommen, von wo aus ich allein weitergehen sollte.«

Ashe antwortete nicht, sondern schnallte seinen Tornister ab und legte den Wanderstab auf den Boden.

Auch Rhapsody entledigte sich ihrer Sachen. Dann blickte sie in die dunkle Kapuze empor, in der Hoffnung, dort einen Blick in seine blauen Augen zu erhaschen. Aber sie konnte nichts dergleichen entdecken.

›»Danke‹ ist wirklich nicht genug, um auszudrücken, wie sehr ich es zu schätzen weiß, was du alles für mich getan hast«, sagte sie und hoffte, dass sie im richtigen Winkel zu ihm aufschaute. »Aber trotzdem sage ich vielen Dank.«

276

»Ich bin gern bereit, auf dich zu warten und dich zurück nach Ylorc zu begleiten«, sagte Ashe.

Rhapsody lachte. »Nochmals danke, aber ich glaube, ich habe deine Zeit lange genug in Anspruch genommen. Du möchtest doch bestimmt in dein eigenes Leben zurückkehren, und falls du keines hast, dann such dir eines, um Himmels willen.« Von Ashe kam keine Reaktion.

»Außerdem hoffe ich, dass Oelendra mich als Schülerin aufnimmt, und wenn sie das tut, werde ich voraussichtlich eine ganze Weile hier sein. Und ich bin in der Lage, auf mich selbst aufzupassen. Wirklich.«

»Das weiß ich.«

»Aber falls Herzog Roland mich zu seiner Hochzeit einlädt, kannst du mich gern begleiten«, sagte sie, immer noch lachend. »Unsere Kleidung passt jetzt schon so gut zusammen.« Damit hob sie einen Zipfel ihres Umhangs in die Höhe.

Eine plötzliche kühle Brise fuhr durch die Baumgruppe, blies Rhapsody die losen Haarsträhnen ins Gesicht und betonte das drückende Schweigen. Nochmals berührte sie Ashes Arm. »Nun, dann auf Wiedersehen«, sagte sie. »Ich würde dich gern auf die Wange küssen, aber ich weiß mal wieder nicht, wo sie ist.«

Ashe legte einen behandschuhten Finger auf ihre Lippen, als wollte er sie zum Schweigen bringen. »Wenn du mir gestattest, dich zu führen, würde ich deinen Mund an die richtige Stelle lenken.«

Rhapsody grinste, schloss die Augen und reckte das Kinn nach oben. Behutsam brachte er ihr Gesicht in die richtige Position, und als sein Finger zu ihren Lippen zurückkehrte, folgte sie ihm nach oben ins Innere der weiten Kapuze. Dann zog er seine Hand zurück, und statt den kratzigen Bartstoppeln begegneten ihre Lippen den seinen und drückten sich einen Moment lang auf sie, warm und weich. Sie war nicht wirklich überrascht. Schnell gab sie ihm noch einen Kuss und bückte sich dann, um ihre Sachen aufzuheben.

»Also dann auf Wiedersehen«, wiederholte sie, als sie sich aufrichtete und zum Gehen wandte. »Ich wünsche dir eine gute Reise. Und sei bitte vorsichtig.«

»Du ebenfalls.«

Rhapsodys Gesicht wurde ernst. »Ashe?«

»Ja?«

»Bitte denk über das nach, was ich gesagt habe. Wegen des Barts.«

Aus der Kapuze glaubte sie ein leises Lachen zu hören.

Rhapsody setzte ebenfalls die Kapuze auf, wandte sich um und ging davon. Nach ungefähr zehn Schritten machte sie noch einmal kehrt. »Ich hoffe, dass wir uns eines Tages wieder sehen.«

Aus der Stimme, die aus dem nebligen Umhang kam, konnte man das Lächeln beinahe heraushören. »Wenn ich ein Spieler wäre, würde ich darauf wetten.«

Rhapsody blickte ihn nachdenklich an. »Ja, aber wir wissen beide, dass du kein Spieler bist.«

Noch einmal lächelte sie ihm zu, dann wandte sie sich um und verschwand. So lange wie möglich sah Ashe ihr nach. Noch eine ganze Weile konnte er ihre Stimme hören, wie sie das Flüsterlied der Bäume sang, wie sie die wortlose Melodie des Windes über das Hochgras pfiff und mit der Schwingung der Erde summte, hier an diesem Ort, wo sie nach Antworten suchte und den sie, so hoffte er, eines Tages regieren würde. Und so wurde sie eins mit Tyrian, lernte sein Lied, seine Geheimnisse kennen.

Erst als sie gut zwei Meilen entfernt war, konnte er ihren Duft nicht mehr wahrnehmen und sich körperlich nicht mehr erinnern, wie ihn der Geruch ihres Haars an einen heraufdämmernden Morgen gemahnte. Noch einmal acht Meilen dauerte es, bis er die Wärme ihres inneren Feuers nicht mehr spürte. Der würzigsüße Geschmack ihres Mundes und die schüchterne Sanftheit ihres Kusses würden noch viele Wochen auf seinen Lippen verweilen. Er wusste, dass die Bilder, wie sie sich von ihm verabschiedet und wie sie im Schatten des Feuerscheins ausgesehen hatte, ihn sein Leben lang begleiten würden. Er hatte sie nicht berührt außer mit der behandschuhten Hand und bei einem kurzen freundschaftlichen Kuss. Doch seine Finger taten noch immer weh, ein stechender Schmerz, der sich in seinem Körper ausbreitete und ihm mit grässlicher Härte seine Einsamkeit vor Augen führte. Mit großer Heftigkeit wallte die Qual wieder auf, die beinahe geschlummert hatte. Der Drache in ihm zürnte wegen des Verlusts ihres eingeborenen Zaubers; der Mann in ihm vermisste noch viel mehr.

Und mit der Rückkehr seiner Einsamkeit und seines Schmerzes kam die Erinnerung an das, was bevorstand, und an die Rolle, die er dabei spielen würde. Die Erkenntnis, dass auch sie solch grausamen Schmerz erfahren würde, war unerträglich für sein gemartertes Herz. Ashe fiel auf die Knie und krümmte sich zusammen, bis seine Stirn den Boden berührte. Den Kopf mit den Händen umklammert, weinte er, sog den scharfen Geruch des Waldweges ein und benetzte die Erde mit Drachentränen, die ein Stück Obsidian zurückließen, mit goldenen Sprenkeln, die im Sonnenlicht glitzerten.

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