In den Korridoren des Kessels war das Gestein so eisig, dass die Fackeln, die alle zehn Fuß in Wandhaltern brannten, die Kälte nicht vertreiben konnten. Es war eine eigentümliche Kälte, die schon im Granit geherrscht hatte, bevor die Firbolg den Berg erobert hatten, eine Kälte, die zur Vergangenheit des Ortes passte. Ein negativer, trostloser Ort. Schritte hallten einen Sekundenbruchteil wider und wurden vom leblosen Stein verschluckt. Irgendwie war es, als wanderte man in einer Gruft umher.
Ashe konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal so schlecht gelaunt gewesen war. Annähernd drei Wochen lang hatte er nun in ungehinderter Glückseligkeit gelebt, allein mit Rhapsody, ungestört in dem Paradies, das sie in Elysian allein dadurch erschaffen hatte, dass sie dort lebte. Solch einfache Freuden hatte er nie gekannt sie kochten phantasievolle Mahlzeiten, schwammen im gefilterten Mondlicht durch den kristallklaren See, er beobachtete sie im Feuerschein beim Nähen oder beim Reinigen der Waffen, half ihr beim Wäscheaufhängen, sang mit ihr, bürstete ihr die Haare, schlief mit ihr, schuf mit ihr gemeinsame Erinnerungen und er hasste es zutiefst, in die Realität zurückkehren zu müssen, in eine Realität, die ihm nicht mal einen Augenblick mit ihr allein gestattete. Dass er die langfristige Notwendigkeit des Besuchs einsah, linderte seinen Ärger nicht im Geringsten. In stillschweigendem Einvernehmen hatten sie nicht über die Vergangenheit gesprochen sie wussten, dass es für sie beide ein schmerzliches Thema war, das womöglich den Zauber ihres magischen Verstecks zerstören würde. Aus dem gleichen Grund hatten sie auch nicht über die Zukunft gesprochen. Aber sie waren übereingekommen, dass dies der Tag war, an dem sie Achmed ihr Anliegen vortragen würden. Deshalb schritt Ashe jetzt mit höllischen Kopfschmerzen, die dumpf hinter seinen Augen pochten, die staubigen Korridore des Königssitzes der Firbolg hinunter, zum Beratungssaal hinter der Großen Halle, wo Rhapsodys Kameraden sie erwarteten. Rhapsody, die neben ihm herging, spürte seinen Gemütszustand und drückte ermutigend seine Hand. Sie trug wieder ihre Reisekleidung das schlichte weiße Leinenhemd, die weiche braune Hose, die in hohen, robusten, mit Wildlederstreifen geschnürten Stiefeln steckte und natürlich ihren schrecklichen Umhang. Schon zweimal an diesem Morgen hatte Ashe gute Gründe dafür gefunden, sie dazu zu bewegen, sich auszuziehen, aber trotzdem hatte das schwarze Band den Weg zurück in ihr Haar gefunden und den glänzenden Wasserfall zu einem sittsamen Zopf gefesselt. Die hübschen, farbenfrohen Kleider waren wieder im Zedernholzschrank verschwunden, der Tarnung zuliebe, hinter der sie sich vor der Welt verbarg.
In diesen unscheinbaren Sachen hatte er sie zum ersten Mal gesehen und sein Herz an sie verloren. Aber nachdem er jetzt ihr wahres Selbst kennen gelernt hatte, konnte er es kaum ertragen, dass sie sich wieder verkroch. Wie zwanglos sie in Elysian herumlief, die Haare von Fesseln befreit, in Kleidern, die ihr selbst gefielen, erfreute sein Herz auf vielerlei Weise, und es tat ihm weh, sie dieser Freiheit wieder beraubt zu wissen.
Aber ihr schien es nichts auszumachen; sie lächelte ihn an, drückte seine Hand und trieb ihn an, um auch ja rechtzeitig zu dem Treffen mit jenen Kreaturen zu kommen, die er auf der ganzen Welt am allerwenigsten sehen wollte.
Im Beratungsraum hinter der Großen Halle stand ein großer, roh behauener Tisch, von jahrhundertelangem Gebrauch glatt geschmirgelt. An den Wänden hingen ein paar alte Wandteppiche, die nach Moder rochen und von Rauch und Alter bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt waren. Die gegenüberliegende Wand wurde fast gänzlich von einer großen Feuerstelle eingenommen, in der ein abstoßend riechendes Höllenfeuer brannte, welches das einzige Licht im Raum spendete; trotz des Lichtmangels würden die Laternen nicht vor Einbruch der Nacht angezündet werden. Als sie den Raum betraten, sprang Grunthor von seinem massiven Stuhl auf, knallte die Hacken zusammen und machte eine elegante Verbeugung in Rhapsodys Richtung. Rhapsody lief zu ihm und umarmte ihn, während Ashe dastand und staunte, dass ein so riesenhaftes Wesen sich so graziös bewegen konnte. Dann suchte er mit den Augen den Rest des Saales ab.
Achmed war sitzen geblieben; er las in einer gebundenen gelben Pergamenthandschrift und hatte einen Fuß auf den Tisch gelegt. Er blickte nicht einmal auf, als die Gäste hereinkamen. Rhapsody trat hinter den Firbolg-König und küsste ihn auf die Kapuze. Dann sah sie sich naserümpfend im Raum um.
»Himmel, Achmed, was verbrennt ihr denn da? Na egal, ich will es gar nicht wissen.« Damit legte sie ihren Rucksack auf den Tisch und kramte darin herum, bis sie schließlich ein bernsteinfarbenes Glasfläschchen ans Licht beförderte, das in Vanille-Anis-Öl gekochten Kalmus enthielt, sowie einen Beutel aus Ziegenleder mit mehreren verschiedenen Fächern. Aus einer der mittleren Falten entnahm sie ein paar getrocknete, mit Zedernholzspänen vermischte Gewürze, warf sie mit zusammengekniffenen Augen, um sich vor dem stinkenden Qualm zu schützen ins Feuer und ließ gleich noch einen ordentlichen Spritzer aus dem Fläschchen folgen. Sofort verschwand der eklige Geruch, und an seine Stelle trat ein frischer, süßer Duft, der die Luft einen Augenblick später neutralisiert hatte.
»Oh, wie nett«, meinte Grunthor anerkennend. »Jetzt riechen wir alle wie eine Gänseblümchenwiese. So was mögen die Soldaten ganz besonders. Danke, mein Liebchen.«
Doch Rhapsodys Gesicht wurde nur noch bekümmerter, während sie sich im Raum umschaute.
»Ihr habt hier überhaupt nichts renoviert, oder? Was ist aus den seidenen Wandteppichen geworden, die ich euch aus Bethe Corbair geschickt habe?«
»Wir haben sie hergenommen, damit der Fußboden im Stall nicht mehr so knarrt«, antwortete Achmed, immer noch ohne von seinem Buch aufzuschauen. »Die Pferde sind dir sehr dankbar.«
»Oh, und ich habe einen meiner Lieblingsleutnants darin begraben«, fügte Grunthor bereitwillig hinzu. »Seine Witwe war ehrlich gerührt.«
Ashe musste ein Lachen unterdrücken. Sicher, Rhapsodys Freunde waren ein Problem, aber man konnte nicht leugnen, dass die Beziehung zwischen den dreien für amüsante Unterhaltung sorgte. Trotzdem schmerzte sein Kopf, und er konnte es kaum abwarten, mit Rhapsody allein nach Elysian zurückzukehren. Er hüstelte höflich.
»Oh, hallo, Ashe«, sagte Grunthor. »Du bist also auch da?«
»Anscheinend ließ es sich nicht vermeiden«, sagte Achmed zu Grunthor. »Wenn du krank bist, Ashe, kann ich für dich nach einem Arzt schicken lassen.«
»Das ist nicht nötig, danke«, sagte Ashe.
»Na, da kommt ja das kleine Fräulein«, meinte Grunthor, als Jo in den Beratungssaal trat.
»Gib uns ein Küsschen, mein Schatz.«
Jo tat es, dann eilten sie und Rhapsody aufeinander zu und umarmten sich herzlich.
»Was ist los?«, fragte Jo, während Rhapsody den Arm um ihre Taille legte und zum Tisch ging. »Wo warst du?«
»Wie meinst du das?«, fragte Rhapsody verwundert. »Hast du meinen Brief nicht bekommen?«
»Welchen Brief?«
Zum ersten Mal hob Achmed den Blick und sah zu Grunthor hinüber. »Uhhhhrrrumph.« Der Riese räusperte sich verlegen, und seine Haut wurde dunkler.
Rhapsody wandte sich mit einem ungläubigen Blick an Grunthor. »Uhhhhrrrumph? Was meinst du mit uhhhhrrrumph? Hast du ihr meinen Brief nicht gegeben?«
»Sagen wir mal, ich hab ihn immer an meinem Herzen getragen«, erwiderte der riesige Firbolg verlegen und holte das zusammengefaltete Pergament aus seiner Brusttasche.
»Das tut mir sehr Leid, Jo«, sagte Rhapsody und starrte Grunthor finster an. »Kein Wunder, dass du verwirrt bist.«
Sie sah zu Ashe hinüber, und ihr Blick sprach Bände. Endlos hatten sie an diesem Brief gefeilt, hatten versucht, ihre neue Beziehung auf eine Art zu erklären, die für Jo akzeptabel war, in einer Sprache, die einfach zu lesen war und ihre Gefühle nicht verletzte. Die dazwischen liegenden Wochen waren sorgsam bedacht gewesen, um dem Mädchen Zeit zu geben, sich an die veränderte Situation zu gewöhnen. Nun waren offenbar all ihre guten Absichten umsonst gewesen.
Jo nahm den Brief und begann ihn zu lesen. Einen Moment später runzelte sie die Stirn, und Rhapsody hatte das Gefühl, sich einmischen zu müssen.
»Komm, Jo, gib mir den Brief. Jetzt, da ich selbst hier bin, ist er ja unnötig, wir können uns einfach unterhalten. Meine Herren, wir sind ...«
Doch Jo hielt abwehrend die Hand in die Höhe, und Rhapsody schwieg. Jos sonst so bleiches Gesicht wurde rot, und sie blickte sich nervös im Zimmer um. Für die Umstehenden waren die widerstreitenden Gefühle nur allzu deutlich zu erkennen: Langsam verdaute sie den ersten Schlag, dann dämmerte ihr die volle Bedeutung der Worte, und schließlich kam mit der Erkenntnis, dass ihre Freunde die ganze Zeit Bescheid gewusst und sich über ihre Reaktion Sorgen gemacht hatten, die zweite Demütigung, die schlimmer zu sein schien als die erste. Rhapsody sah, wie sehr ihre Schwester litt, und versuchte noch einmal, den Arm um sie zu legen, doch Jo stieß sie heftig zurück und rannte schluchzend aus dem Beratungszimmer. Die vier Zurückgebliebenen starrten einander in hilflosem Schweigen an. Dann sagte Rhapsody betroffen: »Ich muss nach ihr sehen.«
»Nein, lass mich das machen«, widersprach Ashe sanft. »Es ist meine Schuld, dass ich nicht früher mit ihr darüber gesprochen habe; außerdem werdet ihr drei euer Treffen ohne mich wahrscheinlich sowieso mehr genießen.«
»Du bist ein kluger Mann«, stellte Achmed fest.
Ashe küsste Rhapsodys Hand, und sie berührte kurz seine Schulter. »Aber bedräng sie nicht zu sehr«, meinte sie und blickte hinauf in seine Kapuze. »Vielleicht möchte sie lieber allein sein. Und setze bitte nicht deine Drachensinne oder sonst etwas ein, das Achmed stört. Er reagiert sehr empfindlich auf derartige Dinge.«
»Wie du wünschst«, antwortete er und verschwand.
Grunthor warf einen einzigen Blick auf Rhapsodys finsteres Gesicht, als sie sich von der Tür abwandte. »Es ist wahrscheinlich am besten, wenn du für uns beide sprichst, Herr«, meinte er nervös zu Achmed. »Ich bin so ungefähr mit allem einverstanden, was sie möchte, nur damit sie endlich ein anderes Gesicht aufsetzt.«