Langsam stand Ashe auf, wie benommen. Mit einer heftigen Bewegung zog er die Kapuze in die Stirn, ging dann auf die andere Seite des Zimmers und begann, seine Habseligkeiten zusammenzuraffen. Bekümmert sah Rhapsody ihm zu; trotz des Nebelumhangs spürte sie, dass die Muskeln in seinem Körper gespannt waren wie Sprungfedern, und sie wusste, dass er sich verzweifelt davon abhielt, loszurennen, Jo aus dem Bett zu zerren und sie zur Rede zu stellen. Wenigstens hatte er noch genug Verstand, um zu wissen, dass sie, wenn er seine Gegenwart offenbarte, mit einem Angriff des Dämons rechnen mussten, auf den sie nicht vorbereitet waren.
»Wir müssen uns auf die Jagd nach ihm machen, wir dürfen es nicht länger hinauszögern«, sagte Rhapsody. »Eigentlich hatten wir vor, bis zum ersten Tag des Winters zu warten, aber das ist eindeutig zu spät.« Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber als er sprach, war seine Stimme ruhig, und seine Worte klangen pragmatisch.
»Ist dir klar, dass sie jetzt womöglich unter seinem Bann steht, Rhapsody? Dass sie in der Gewalt des F’dor sein könnte?«
Rhapsody erwiderte nichts.
Sanft umfasste Ashe ihr Kinn, aber sie spürte, dass er vor Wut zitterte.
»Das weißt du, Aria, nicht wahr? Du darfst ihr jetzt nicht mehr vertrauen, in keiner Hinsicht. Vielleicht war der Kontakt kurz und hat sie nur für eine gewisse Zeit in seinen Bann geschlagen wie bei den Soldaten, die ihre eigenen Dörfer angreifen und sich später nicht mehr daran erinnern. Aber der Einfluss kann auch tiefer reichen und stärker sein; womöglich wird sie als Spionin benutzt.«
»Ich weiß.«
Vorsichtig hob Ashe ihr Gesicht an, sodass ihre Augen direkt in seine unter der großen Kapuze des Nebelumhangs blickten.
»Möglicherweise ist sie an ihn gebunden, Rhapsody. Er könnte Zugang zu ihrer Seele haben. Vielleicht gehört sie jetzt ihm.« Sie biss die Zähne zusammen, aber sie hatte aufgehört zu weinen. »Zwar ist es nicht sehr wahrscheinlich der F’dor braucht einen Blutvertrag, freiwillig oder unter Zwang, um eine unsterbliche Seele gänzlich zu verstricken. Hat sie erwähnt, ob er etwas von ihrem Blut genommen hat?«
Rhapsodys Gesicht wurde weiß; Ashe streichelte sie sanft.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie nach kurzem Nachdenken. »Sie hat gesagt, dass er sehr heftig war, aber nichts davon, dass er sie verletzt hat.«
»War sie noch Jungfrau?«
Rhapsody erstarrte. »Ja.«
Ashe ließ ihr Gesicht los und schnallte sich Kirsdarke um. »Ich glaube, du solltest dich auf das Schlimmste gefasst machen, Aria. Wenn sie an ihn gebunden ist...«
»Falls sie an ihn gebunden ist, dann werde ich mich ebenso um ihre Befreiung kümmern wie um deine, wenn ich den Rakshas töte«, entgegnete sie schroff. »Wir brechen morgen noch vor Tagesbeginn auf, sie wird nichts davon mitbekommen. Ich werde den Wachen sagen, sie sollen sie im Auge behalten, bis wir wieder zurück sind. Was immer getan werden muss, um sie zu retten, werde ich tun. Sie ist meine Schwester, Ashe. Sie war an mich gebunden, lange bevor sie den Rakshas getroffen hat. Ich habe den ersten Anspruch auf ihre Seele, bei den Göttern, nicht der F’dor.«
Ashe ergriff ihren Arm. »Opfere dich nicht für sie. Das ist es nicht wert.«
Ärgerlich machte Rhapsody sich los. »Wie kannst du es Wagen? Wer bist du, mir zu sagen, was mein Opfer wert ist? Darf ich es etwa nur für dich bringen?« Erschrocken über die Schärfe ihrer Worte starrte Ashe sie an, und obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, wie tief sie ihn getroffen hatte.
»Entschuldige«, flüsterte sie. »Bitte entschuldige.«
»Die Antwort auf deine Frage lautet nein«, entgegnete Ashe und bückte sich, um seine Stiefel zu schnüren. »Nichts ist es wert, dass du dieses Opfer bringst. Ich meinte damit nur, dass dein Tod sie nicht retten kann.«
»Ich werde nicht sterben«, erwiderte Rhapsody und starrte auf ihre Hände hinab. »Nicht, um dich zu retten, und auch nicht, um sie zu retten.«
Einen Augenblick herrschte Stille. Schließlich sagte Ashe: »Ich sollte sofort aufbrechen, ehe der F’dor merkt, dass ich hier bin.«
Benommen nickte Rhapsody. »Es wäre wohl das Beste.«
Auch Ashe nickte und wandte sich dann ab. Rhapsody beobachtete, wie er sich mit der Hand durch die ungekämmten Haare fuhr, und versuchte, sich gegen die Verzweiflung zu wehren, die sie überkam, wenn sie ihm so beim Packen zusah. Die ganze Zeit hatte sie gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde, dass er sie verlassen würde, aber irgendwie hatte sie gedacht, es werde zu einem späteren Zeitpunkt geschehen und nicht gar so abrupt. Sie hielt die Tränen zurück, während er seinen Tornister über die Schulter warf, zu ihr ans Bett kam und sich neben ihr niederkauerte.
»Wie lange wird die Jagd wohl dauern?«
»Ich weiß es nicht. Alles hängt davon ab, wie weit entfernt er ist. Sobald du hier verschwunden bist, werde ich zu Achmed gehen und ihm sagen, dass wir sofort zur Tat schreiten müssen. Wir brechen morgen auf.«
»Sorge dafür, dass Jo nichts davon erfährt.«
»Natürlich. Aber sie kennt unseren gegenwärtigen Plan; wenn sie also etwas an ihn verraten hat, dann werden wir es bald merken.«
Unter der Kapuze hörte sie das leise Schnauben, das Ashes sarkastischstes Lächeln zu begleiten pflegte. »Na, dafür müssen wir dann wohl dankbar sein.«
Rhapsody schlang die Arme um seinen Hals. »Bitte, bitte sei vorsichtig.«
Er zog sie an sich und hielt sie ganz fest, damit er sich in dunkleren Zeiten immer daran erinnern konnte. »Sei du vorsichtig, Aria. Du wirst dem Rakshas gegenübertreten. Bis zu diesem Augenblick war mir war nie richtig bewusst, wie sehr mir davor graut.«
Beschwichtigend klopfte sie ihm auf die Schulter. »Ich werde schon zurechtkommen. Wir alle. Das letzte Mal bin ich schon fast allein mit ihm fertig geworden. Wenn Grunthor und Achmed bei mir sind und wir auch noch die Überraschung auf unserer Seite haben, dann müssten wir die Sache schnell und gut zu Ende bringen können, ein für allemal.«
»Als du mit ihm kämpftest, standest du auf heiligem Grund, in der heiligsten Nacht des Jahres. Unterschätze den Rakshas nicht, Aria, nur die Götter wissen, auf welche dämonischen Kräfte er zurückgreifen kann.«
»Ich unterschätze ihn nicht, Ashe, aber du solltest es auch nicht tun. Wir wissen, was wir tun. Aber du musst mir versprechen, dass du in sicherer Entfernung bleibst. Wir werden das Ding töten, dann bekommst du das verlorene Stück deiner Seele zurück, und der F’dor hat keine Macht mehr über dich. Wahrscheinlich ist es keine gute Idee, dich zu rufen, wie ich es zuvor getan habe, deinen Namen wieder über den Wind zu schicken. Wie soll ich dich finden und dir Bescheid geben, wenn alles vorüber ist?«
Er trat einen Schritt zurück und nahm ihr Gesicht zärtlich zwischen seine Hände. In der Kapuze konnte sie seine blauen Augen leuchten sehen. »Das kannst du nicht. Wenn ich gefunden werden könnte, wäre ich längst tot. Ich werde in einem Monat hierher zurückkommen, bis dahin wirst du aller Wahrscheinlichkeit auch wieder da sein, nicht wahr?«
»Ja, das hoffe ich, bei den Göttern. Wohin wirst du gehen?«
»Ich weiß es nicht, vielleicht an die Küste. Aber mach dir um mich keine Sorgen, Rhapsody. Bring die Sache hinter dich und pass auf, dass dir nichts passiert. Kümmere dich im Notfall lieber nicht um das Seelenfragment wenn dir etwas zustößt, ist es ohnehin wertlos für mich.«
»Mir wird nichts zustoßen. Ich schaffe es.«
»Ich werde jeden Augenblick, bis ich dich wieder sehe darum beten, dass du Recht behältst.«
Seine Finger glitten durch ihr Haar, als er sich zu ihr herabbeugte und sie küsste. Noch immer spürte sie die Wut in ihm, und auch ihre Lippen zitterten, denn sie hatte Angst, dass sein Zorn ihn tollkühn machen könnte. Ihre Lippen pressten sich auf seine und füllten sie mit Wärme, als sie ihn wortlos zu besänftigen versuchte, aber es nützte nicht viel. So wutentbrannt hatte sie ihn noch nie erlebt.
Mit großer Anstrengung machte Ashe sich los, eilte zur Tür und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Einen Augenblick blieb Rhapsody wie betäubt sitzen, dann sprang sie auf die Füße, rannte zur Tür und spähte in die Halle, aber er war schon verschwunden. Er hatte nicht auf Wiedersehen gesagt. Sie hatte ihm nicht gesagt, wie sehr sie ihn liebte. Zum zweiten Mal in dieser Nacht schlich Rhapsody den Gang hinunter, immer noch auf der Hut vor den Bolg-Wachen. Da sie niemanden sah, stellte sie den Korb mit den Heiltrünken vor Jos Zimmer ab, öffnete leise die Tür und spähte hinein.
Das Mädchen, das sie wie eine Schwester liebte, schlief und schnarchte leise, zusammengerollt wie ein werdendes Kind im Mutterschoß oder ein Mädchen mit Bauchschmerzen. Traurig sah Rhapsody sie an; sie wusste, wie sehr sie gelitten hatte und wie sehr sie noch immer leiden musste.
Hass flammte in ihrem Herzen auf, und sie spürte, wie sich ihre Hände zu Klauen bogen, als sie sich unbewusst das selbstgefällige Grinsen des Rakshas vorstellte. Es würde all ihre Willenskraft erfordern, ihm nicht die Augen auszukratzen, wenn sie ihm gegenübertraten. Allerdings war sie noch nicht sicher, ob sie es sich auch verbieten würde, ihn zu kastrieren. Während sie sich seinen Tod ausmalte, erschien Ashes Gesicht vor ihrem inneren Auge, und sie erschrak; manchmal vergaß sie, dass ihre Gesichter identisch waren. Bei dem Gedanken, dass er so überstürzt aufgebrochen war, ohne ihr das Versprechen zu geben, sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben, wurde ihr eiskalt im Magen, und ihr Herz krampfte sich angstvoll zusammen. Vielleicht war er dem Rakshas jetzt schon auf den Fersen, um sie zu schützen. Einen Augenblick später war sie plötzlich sicher, dass genau das der Fall war. So schnell sie konnte, eilte sie in ihr Zimmer zurück, schlüpfte in ihre Stiefel, warf den Umhang über und rannte zu den Toren des Kessels.
In den Zahnfelsen herrschte pechschwarze Finsternis. Die Berge hielten die Nacht fest, als versuchten sie, sich vor den neugierigen Augen der Welt abzuschirmen, indem sie ihre Gipfel in fremde Nebel hüllten. Ein gemeiner, kalter Wind fegte über die kärgliche Vegetation, die in der herbstlichen Luft bereits starr wurde, sich beugte und bog, weit weniger lebendig als in der Feuchte des Sommers. Das alljährliche Todesritual des Landes hatte seinen Anfang genommen. In der Dunkelheit war nichts zu spüren von dem Versprechen, das bei Tageslicht von den bunten Blättern des Waldes ausging dass der Sommer nur vorübergehend sterben würde. Jetzt schien es vielmehr so, als wäre die Welt für alle Zeit zu Kälte und Finsternis verdammt.
Rhapsody klammerte sich an die Felswand des Bergpasses und bemühte sich, sich im röhrenden Wind aufrecht zu halten. Die bittere Kälte, die unter den hastig übergeworfenen Umhang und das Nachthemd kroch, ließ ihre Beine zittern; sie fühlte sich, als klammerte sie sich an den Mast eines Schiffs, das mit vollen Segeln übers Wasser dahinflog. Zum Glück kannte sie sich aus, denn sonst wäre sie sicher in eine der Schluchten gestürzt, die sich jäh hinter einer jeden Wegbiegung auftaten. So undurchdringlich war die Dunkelheit, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte.
Von jeder Anhöhe rief sie Ashes Namen, aber der Wind verschluckte ihre Stimme und warf sie, vermischt mit seinem eigenen Heulen, zu ihr zurück. Sein Nebelumhang würde Ashe verbergen, das wusste sie, und wenn er sie nicht hörte, hatte sie keine Möglichkeit, ihn zu finden. Mit jedem Schritt wurde ihr Herz schwerer; sie vermochte die Furcht nicht abzuschütteln, die an ihrer Seele nagte, seit sie früher in dieser Nacht den Ausdruck auf Jos Gesicht gesehen hatte. Bald wird er die Steppe erreicht haben, dann werde ich ihn niemals einholen, dachte sie und schützte die Augen mit der Hand vor den winzigen Steinpartikeln, die der Sturm ihr ins Gesicht fegte, als sie auf die dem Wind zugewandte Seite der Felswand kam.
So wild wütete hier der Sturm, dass eine der Laschen von Rhapsodys Umhang abriss und sie ihn um ein Haar verloren hätte. Vor Schmerz und Kälte schrie sie laut auf und suchte eilends Unterschlupf bei dem letzten Felsvorsprung vor dem jähen Abstieg auf die viertausend Fuß unter ihr liegende Steppe. Im Lauf der Jahrhunderte hatte der Wind mitten auf dem Pass eine Nische ausgehöhlt und so einen schmalen Unterstand geschaffen, zu beiden Seiten offen, aber massiv. Rhapsody beschloss, hier einen Augenblick Kraft zu schöpfen, ehe sie sich auf den Rückweg machte. Lebend käme sie hier nicht weiter voran.
Rhapsodys aufgeschürfte Finger brannten wie Feuer. Als sie die Nische erreichte und Halt suchte, spürte sie, wie sie abglitt. Verschwommen nahm sie wahr, dass ihre Hände bluteten, doch es gelang ihr gerade noch, sich in den Unterstand zu ziehen. Erschöpft lehnte sie den Kopf an die Felsmauer, während sie Atem holte. Als sie wieder sprechen konnte, rief sich Ashes Namen ein letztes Mal in den Wind. Dann ließ sie sich an die Felswand sinken und hörte den Wind zu beiden Seiten durch den Steinbogen heulen. Auf der Südseite ihrer Zufluchtstätte verstellte teilweise ein Schatten den Ausblick.
»Was ist los? Bei allen Göttern, was machst du hier draußen? Der Rakshas könnte überall sein, vielleicht sucht er die Gebirgspässe ab, nach ... nach einem von uns.«
Noch immer keuchend blickte Rhapsody auf und sah, dass die Dunkelheit, die den Eingang versperrte, die Umrisse eines Mannes hatte. Panik lag in seiner Stimme. Mit großer Mühe antwortete sie.
»Ich habe was vergessen.«
Nun kam er zu ihr an die geschützte Stelle, ließ seinen Tornister fallen und umfasste ihre Schultern. »Was?«
In der Dunkelheit konnte Rhapsody ihn kaum sehen, obwohl er direkt vor ihr stand. Sie spähte in seine Kapuze und versuchte, Augenkontakt aufzunehmen. Dann schluckte sie schwer und stieß mühsam hervor: »Dein Versprechen.«
Sie spürte, wie sich seine Armmuskeln anspannten und er sie schüttelte; ihr war bewusst, dass er sich bemühte, ihr mit der Heftigkeit seiner Gefühle nicht wehzutun. »Bist du von Sinnen?«, fragte er ungläubig. »Man würde deine Leiche niemals finden, wenn du hier auch nur einen falschen Schritt machtest. Bei den Göttern, Rhapsody, welches Versprechen könnte denn so wichtig sein?«
Sie musste husten, als er ihre Hände in seine nahm und die blutenden Finger an seine Lippen führte, sie mit einer rauen Trostgeste liebkoste. »Du musst mir schwören, ihn nicht zu verfolgen«, antwortete sie, und ihre Kehle war wie zugeschnürt, während der Wind durch die Felsnische heulte und seine Kapuze peitschte.
Die dunkle Gestalt schwieg und bedeckte ihre Finger jetzt mit zärtlicheren Küssen. Rhapsodys Hand zitterte, und sie wusste, dass sie Recht gehabt hatte; er war losgezogen und hatte sich auf die Suche gemacht nach dem entstellten Wesen, in dem sich ein Teil seiner Seele befand. Wie verzweifelt musste er sein, wenn er so ein furchtbares Wagnis einging! Plötzlich wurde ihr klar, dass es nur einen einzigen Grund geben konnte, aus dem er die eigene Verdammnis riskieren würde: Er wollte verhindern, dass ihr dieses Schicksal widerfuhr.
»Du musst dich von ihm fern halten«, sagte sie, und ihre Worte waren kaum mehr als ein angstvolles Keuchen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich ihn töten kann und dass ich nicht allein sein werde. Versprich es mir, Ashe. Schwöre mir, dass du ihn nicht verfolgst. Lass mich das machen. Vertrau mir, bitte.«
Die Kapuze senkte sich, und sie wusste, dass er den Kopf unter der Last ihrer Forderung beugte. »Ich kann dich das nicht tun lassen«, sagte er schließlich mit schmerzverzerrter Stimme. »Ich könnte es nicht ertragen wenn ...«
So heftig sie konnte, schlug sie ihm beide Handflächen auf die Schultern und stieß ihn gegen die Felswand. Sein Kopf fuhr hoch, und sie starrte wieder in die Kapuze, wobei sie diesmal ein Schimmern der vor Schreck weit aufgerissenen Augen wahrnahm. Sie packte den Kragen seines Umhangs am Hals.
»Hör mir zu«, fauchte sie, mit leiser, tödlicher Stimme, aber trotz des Winds deutlich hörbar.
»Das wirst du mir nicht antun! Du wirst mir gefälligst glauben, dass ich weiß, wozu ich fähig bin, und du wirst unerschütterlich darauf vertrauen. Und wenn du dazu nicht in der Lage bist, dann wirst du meiner Bitte trotzdem Folge leisten und mir aus dem Weg gehen! Ich habe bereits zugelassen, dass dieser Unhold meiner einzigen Schwester etwas angetan hat. Er hat sie zerstört, und es ist meine Schuld. Ich werde dich nicht auch noch an ihn verlieren, Ashe.«
Plötzlich begann sie unkontrolliert zu zittern, und er nahm sie fest in den Arm, während sie von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde.
Seine Lippen berührten ihr eiskaltes Ohr. »Was mit Jo passiert ist, war nicht deine Schuld«, flüsterte er. »Wenn jemand dafür verantwortlich ist, dann ich. Ich hätte gründlicher nach ihr suchen müssen auf der Heide habe ich nicht mal nachgeschaut.«
»Weil ich es dir gesagt habe«, stieß Rhapsody hervor. »Ich habe dir gesagt, du sollst sie nicht bedrängen, weil ich dachte, sie sitzt in ihrem Zimmer und weint. Ich hatte keine Ahnung, wie weh wir ihr getan haben, ich hätte nie gedacht, dass sie allein nach draußen laufen würde. Oh, ihr Götter, was habe ich getan?« Das Schluchzen wurde stärker, und ihre Tränen benetzten seine Wange. Er lehnte sich an den Felsen, legte die eine Hand auf ihren Hinterkopf, die andere auf ihren Rücken und hielt sie mit all seiner Kraft, während sie weinte und einer Trauer freien Lauf ließ, die man ihr nie zugestanden hatte.
Der Wind heulte, als wollte er ihr Schluchzen begleiten, und als sie endlich innehielt, um Atem zu holen, nahm Ashe ihr Gesicht in die Hände und küsste sie leidenschaftlich. Auch ihre Reaktion war heftig, ihre Hände glitten unter seinen Umhang, krallten sich in seinen Rücken, und ihr Mund suchte den rauen Trost, die ihr der seine gewährte. Er fuhr mit den Händen durch ihr wehendes Haar, hielt aber lange genug inne, um die Handschuhe abzustreifen und sie neben den Tornister auf den Boden zu werfen. Dann umfasste er unter ihrem Umhang ihre Taille, zog sie dichter an sich und löste seine Lippen von ihren.
»Du bist in Nachthemd und Umhang auf die Zahnfelsen geklettert. Wo sind deine Waffen? Bei allen Göttern, was ist nur in dich gefahren?«
»Versprich mir, dass du ihn nicht verfolgen wirst«, flüsterte sie mit angsterfüllter Stimme.
»Bitte. Bitte, ich liebe dich. Ich liebe dich. Tu es für mich. Bitte.«
Sie fühlte, wie auch er zu zittern begann, fast im Gleichklang mit ihr. Dann nickte er.
»In Ordnung«, antwortete er mit brüchiger Stimme. »In Ordnung, Rhapsody, ich bin dazu bereit. Aber wenn er dich besiegt, dann werde ich ...«
Sie küsste ihn wieder und versuchte, ihn mit ihren Lippen zum Schweigen zu bringen. »Er wird mich nicht besiegen«, sagte sie; ihre Hände ließen von seinem Rücken ab und bewegten sich über seine Brust. »Hab Vertrauen zu mir.«
Er drückte sie fester an sich. »Ich habe unendliches Vertrauen zu dir, Rhapsody, aber du vergisst, dass ich selbst mit diesem Dämonengeist gekämpft habe. Er hat in meine Brust gegriffen, als wäre sie ein offener Sack Getreide, und hat, ohne sich dafür anstrengen zu müssen, ein Stück meiner Seele herausgerissen. Das hat unseren Blutvertrag besiegelt. Hätte ich mich damals nicht befreien können, hätte er mich in Besitz genommen. Er war wie eine Schlingpflanze, die sich um mein Innerstes rankte und sanft wie ein Windhauch Teil von mir wurde, sich ohne Zögern ausbreitete, bis er meinen Brustkorb zur Gänze ausfüllte. Was glaubst du denn, was mich so zugerichtet hat? Ich selbst habe mir genauso schlimme Verletzungen zugefügt wie der Dämon, ich habe ihn gewaltsam aus mir entfernt, ehe er mich ganz verzehren konnte. Das Stück von mir, das er geraubt hat, musste ich ihm opfern, wie ein Tier, das sich in der Falle den eigenen Fuß abbeißt. Es dauerte nur einen Augenblick, Rhapsody; doch ich weiß nicht, ob ich ein zweites Mal so glimpflich davonkommen würde. Ich weiß auch nicht, ob du es kannst.«
»Hör auf damit«, entgegnete sie scharf. »Ich trete noch nicht gegen den F’dor an, vorerst töte ich nur sein Spielzeug. Und ich habe viel eher einen Grund dazu. Außer dem, was er dir angetan hat, hat er sich jetzt auch noch an Jo vergangen und sie erniedrigt. Sie hat in ihrem Leben genug gelitten, das hat sie nicht verdient. So viel Hass habe ich in meinem ganzen Leben noch nie empfunden wenn ich ihm nicht Luft verschaffe, werde ich bei lebendigem Leibe verbrennen.« Ihre Stimme versagte. »Hörst du mich, Ashe? Ich werde bei lebendigem Leibe verbrennen.« Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust, und wieder verformten sich ihre Hände zu Klauen.
Er zog sie weg und küsste sie immer wieder, hart und drängend. »Jetzt hör du mir zu«, stieß er zwischen zwei Küssen hervor, »du klingst schon wie ich. Das ist ein Verbrechen. Du hast mich davon überzeugt, dass die Liebe in dieser schlechten Welt mehr ist als eine verdrehte Phantasie. Wage es nicht, dich jetzt selbst davon abzuwenden. Werde nicht so wie wir anderen, sonst überlässt du uns für immer unserem Hass.« Sein letzter Kuss währte lange; in ihm fühlte sie seinen ganzen Schmerz, und das Gefühl war ihr fremd, so ganz anders als die Sanftheit, die sie sonst immer in ihm wahrnahm. »Ich liebe dich. Ich glaube an dich. Und ich werde wegbleiben, mögen die Götter mir verzeihen.« Die letzten Worte spie er fast aus. Ein heftiger Seitenwind fegte durch die Nische, schob sie beide von der Felswand und ließ Rhapsody in ihrer dünnen Kleidung heftig frösteln. Er packte sie, als sie aus dem Fels versteck stolperte, zog sie wieder unter den Bogen und drückte sie eng an die Felswand.
»Alles in Ordnung?«, keuchte er. Als er merkte, dass sich ihre Haut ganz kalt anfühlte, versuchte er sie warm zu reiben, voller Verzweiflung und Angst; er wollte sie, wollte sie vor allen Gefahren verstecken, sie in seiner Seele bewahren, sie mit seinem Körper schützen, mit seinem Leben.
Sie fühlte dieselbe Sehnsucht, klammerte sich an ihn und schmiegte sich an ihn zu einem Kuss ein Liebespaar, das nicht wusste, ob dieser Kuss der letzte sein mochte. Ihre Hände glitten über seinen Oberkörper und machten sich dann daran, die Bänder seiner Hose aufzubinden, die ihn von ihr trennte. Heftig zitternd spürte sie, wie seine Hände unter ihrem Nachthemd nach oben wanderten, und sie überließ sich der Dunkelheit der Angst. Dort auf dem Gebirgspass, an die Felswand gepresst, nur von einem offenen Felsbogen geschützt, liebten sie sich, voller Furcht, verzweifelt, im Nachtwind, unter der Decke der nebligen Finsternis, die pechschwarz die Gipfel der Zahnfelsen verhüllte. Doch sie fanden wenig Trost und keine Freude, nur ein rasendes Bedürfnis danach, vereint zu sein, womöglich zum letzten Mal. Kein Kleidungsstück wurde abgelegt, kein Wort gesprochen, nur einem wilden Verlangen nachgegangen, doch ohne dass es sie besänftigte. Als der Aufruhr ihrer Gefühle sich legte, hielten sie einander fest, noch immer gegen die Bergwand gepresst, und flüsterten einander ihre Schwüre ins Ohr, er, dass er den Rakshas nicht verfolgen werde, sie, dass sie vorsichtig sein werde. Dann küsste er sie, half ihr, den Umhang festzuziehen, und fuhr mit der Hand zärtlich über ihr Haar, ehe er sie zu dem Pfad Zurückbegleitete, der in den Kessel hinunter führte. Sie sah ihm nach, bis die Dunkelheit ihn verschlungen hatte, dann wanderte sie zurück zu den Lichtern des firbolgschen Regierungssitzes, gepeitscht vom heulenden Wind.