Die große Basilika von Sepulvarta war das augenfälligste Bauwerk der Stadt, mit hoch aufragenden Mauern aus poliertem Marmor und einer Kuppel, die größer war als alle anderen in der bekannten Welt. Für tausende von Trost suchenden Seelen war in diesen Mauern Raum, doch in der heutigen, der heiligsten Nacht, war das Gotteshaus vollkommen leer. Am Nachmittag hatte man Rhapsody in der Basilika herumgeführt, und sie hatte sich an der Schönheit des Gebäudes von Herzen erfreut. Die vielfältigen Farben und Muster der Mosaiken, die Boden und Decke zierten, trugen ebenso zu seiner Pracht bei wie die kostbaren Vergoldungen auf den mit Fresken geschmückten Wänden und den farbigen Glasfenstern. Doch allein schon die Höhe und Breite des Bauwerks raubte ihr den Atem. Sogar in Ostend, der größten Stadt der Insel Serendair, hatte es nichts auch nur annähernd Vergleichbares gegeben; die Basilika dort hatte um die dreihundert Besucher gefasst und war insofern einzigartig gewesen, als sie ein paar Bänke ihr Eigen genannt hatte, auf denen die Reichsten unter den Gläubigen sich während des Gottesdienstes niedergelassen hatten. Der Grund für diesen Unterschied war neben der Tatsache, dass Sepulvarta um einiges wohlhabender war, dass Serendair seit Jahrhunderten dem Glauben an viele Götter zugleich angehangen hatte und zahlreiche Tempel von den Anhängern mehrerer verschiedener Glaubensrichtungen aufgesucht wurden. Zu der Zeit, als Rhapsody die Insel verlassen hatte, war der König und mit ihm sein Land eben erst zu dem Glauben an einen Gott übergetreten, und der Wechsel war in vielen Gegenden noch immer auf Widerstand gestoßen. Allein der Gebrauch des Wortes ›Götter‹ war für Monotheisten wie Rhapsodys Familie ein banaler Fluch gewesen und hatte schon zu Schlägereien auf der Straße geführt. Doch während sich die Bevölkerung mit der Vorstellung von einem einzigen wahren Gott angefreundet hatte, hatten immer mehr Tempel leer gestanden. An diesem Abend war es in Sepulvarta ebenso, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Wie der Patriarch Rhapsody erklärt hatte, wurden die Feierlichkeiten des Hochheiligen Tages von ihm allein durchgeführt, ohne dass jemand anderes zugegen war ganz im Sinne der vorherrschenden Religion, die den Patriarchen als direkten Kanal zu Gott ansah. Punkt Mitternacht würde der alte Priester am Altar mit den rituellen Handlungen beginnen, würde psalmodieren und Opfer für den Schutz der Gläubigen fürs nächste Jahr darbringen. Dieser Akt der Erneuerung des Gottesbundes machte Rhapsody neugierig, denn er war den filidischen Jahreszeitenritualen sehr ähnlich. Vielleicht waren die beiden Religionen doch nicht ganz so gegensätzlich, wie ihre jeweiligen Anhänger glaubten. Für diese Nacht hatte der Patriarch zuvor eine einfache Zeremonie vollzogen, in der er Rhapsody als seine Kämpferin benannt hatte. Der Name, den er ihr verliehen hatte, lautete Geweihte Rächerin, und sie hatte während des nüchternen Rituals der Namensgebung ständig gegen das Lachen ankämpfen müssen. Als sie aber begriffen hatte, was die Bezeichnung ›Rächerin‹ beinhaltete, war sie ernst geworden: Wenn sie in ihrer Beschützerrolle scheiterte, wäre sie gezwungen, im Namen der Gläubigen Rache zu üben. Doch eine solche Verpflichtung war ihr nicht geheuer, und sie wollte sich lieber darauf konzentrieren, dass dem Patriarchen in dieser Nacht nichts geschah.
So stand sie in der dunklen Basilika, die Tagessternfanfare griffbereit in der Scheide, den Blick aufmerksam in die weitläufige, menschenleere Kirche gerichtet. Sie stand im Kreis des Redners, einem auf den Marmorboden gemalten, vergoldeten Bild des Sterns, der die Turmzinne der Stadt krönte, am Ende der riesigen Marmortreppe, die von der Vorderseite der Basilika zum Altar führte. Der Altar selbst war ein einfacher, mit Platin eingefasster steinerner Tisch, der auf der zylindrischen Erhebung des Allerheiligsten genau in der Mitte der Basilika stand. So konnten alle Gläubigen ihn sehen, und Rhapsody hatte als Wächterin von ihrem Platz aus einen guten Überblick.
Die Basilika war dunkel bis auf die Lichtspiegelungen des Sterns auf dem gigantischen Turm, den Rhapsody tags zuvor gesehen hatte. Obgleich er auf der anderen Seite der Stadt aufragte, erhellte er die Basilika durch die Öffnungen in der Kuppel über dem Altar, tauchte ihr Inneres in ein gespenstisches Halblicht und ließ das Gesicht des Patriarchen schlohweiß erscheinen, während er den Altar für das Ritual vorbereitete. Schließlich trat der alte Mann langsam und mit zittrigen Schritten zu ihr an die Treppe.
»Ich bin bereit, Liebes.«
Rhapsody nickte. »Sehr gut, Euer Gnaden. So beginnt mit dem Ritual. Falls etwas passiert, versucht einfach weiterzumachen. Ich stehe Wache.« Damit lächelte sie dem gebrechlichen alten Mann zu, der in den voluminösen Gewändern seines Ordens gleichzeitig verloren und frappierend erhaben wirkte. Sie zog ihr Schwert, und er segnete sie. Dann kehrte er langsam zum Altar zurück und starrte in den einsamen Lichtstrahl, der aus der Kuppel herabfiel. Als er zu psalmodieren anhob, schloss Rhapsody die Augen und konzentrierte sich auf die Töne seiner heiligen Melodie. Sie entsprach dem Muster eines Schutzliedes; das erschien ihr sinnvoll, denn der Ritus selbst war ja eine Bitte um Schutz für die Gläubigen im kommenden Jahr. Sie richtete die Tagessternfanfare auf den Patriarchen und hielt die Klinge ruhig, bis sie einen der Töne auffangen konnte. Behutsam zog sie diesen in einem Kreis um den Altar, sodass er über dem Kirchenmann schwebte.
Wie ein in der Luft hängender Lichtkreis zirkulierte der Schutzring nun über dem Altar und dem Patriarchen und verstärkte den Lichtkegel aus der Kuppel so, dass er um den heiligen Mann herum fast zum Greifen wirkte. Auch die Stimme des Alten wurde ein wenig stärker, als der Kreis die einzelnen Töne seines Gesangs aufnahm und in einem sich drehenden Ring festhielt. Rhapsody steckte ihr Schwert in die Scheide zurück und nahm eine respektvolle Haltung an, ehrfürchtig in dem Bewusstsein, dass nur wenige andere jemals Augenzeuge dieses Rituals geworden waren.
Während Rhapsody so stand und schaute, spürte sie plötzlich hinter sich ein Prickeln, und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Langsam drehte sie sich um und sah zwei Gestalten durch die Türen der Basilika eintreten und auf ihre Mitte zustreben. Eine der beiden blieb unter dem Torbogen stehen, der ins Hauptschiff führte. Rhapsody konnte kaum Einzelheiten erkennen, nur dass die Gestalt einen großen schwarzen Umhang und einen ebenfalls schwarzen, gehörnten Helm trug. Undeutlich sah sie, dass um ihren Hals ein rundes Symbol hing, in dessen Mitte sich ein Stein zu befinden schien; seine Farbe konnte sie im Dunkeln allerdings nicht ausmachen.
Auch der zweite Eindringling war in einen schwarzen Umhang gehüllt, aber dieser war zurückgeschlagen und enthüllte eine silbern schimmernde Rüstung. Mit frechem Selbstvertrauen, hinter dem eine finstere, entschlossene Drohung lag, schritt er den langen Mittelgang entlang. Rhapsody hörte, wie der Gesang des Patriarchen zu einem disharmonischen Ende kam; der alte Mann wich mit angstvoll aufgerissenen Augen vom Altar zurück. Rasch trat sie zu ihm hinüber, stellte sich so gut es ging vor ihn und hoffte, er werde hinter dem Altar bleiben, der jetzt zwischen ihnen stand; aber stattdessen stolperte er nach vorn und stellte sich nun direkt hinter sie.
Als die zweite Gestalt in der Mitte der Kirche angekommen war, warf sie die Kapuze zurück. Rhapsody stockte der Atem. Heller als die Rüstung glänzte rotgoldenes Haar, schimmernd wie blank poliertes Kupfer, wenn auch nicht ganz so metallisch wie damals im Sonnenlicht des versteckten Tals hinter dem Wasserfall. Das hübsche, haarlose Gesicht, das sie zuletzt unter einem Stoppelbart gesehen hatte, grinste breit, und ihr Herz zog sich zusammen, als ihr einfiel, wie sie ihn ans Rasieren erinnert hatte. Selbst aus dieser Entfernung sah sie seine blauen Augen, die sie hell und klar fixierten. An der ersten Bankreihe blieb er stehen.
»Hallo, meine Liebe. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich habe dich vermisst.« Seine Worte hallten in der weitläufigen Basilika wider. Ungläubig starrte Rhapsody ihn an. Auf ihren Lippen formte sich ein einziges Wort.
»Ashe.«
»Oh, dann weißt du also noch, wer ich bin? Ich fühle mich geschmeichelt.«
Mit leiser, fester Stimme entgegnete sie: »Geh jetzt, dann wird dir nichts geschehen.«
Ein hässliches Lachen war die Antwort. »Wie großzügig von dir. Ich fürchte, ich kann deiner Aufforderung nicht entsprechen, aber ich möchte dir das gleiche Angebot machen.« Langsam ließ er seinen Umhang auf den Marmorboden gleiten und trat einen Schritt auf Rhapsody zu. Auf einmal spürte Rhapsody die knochige Hand des Patriarchen auf ihrer Schulter. »Geh jetzt lieber, mein Kind. Ich kann nicht von dir verlangen, dass du dieses Opfer bringst.«
Rhapsody ließ das anziehende Gesicht, das sie jetzt genau so anlächelte, wie es das in ihren Träumen getan hatte, keine Sekunde aus den Augen. So freundlich er in der Vergangenheit auch gewesen sein mochte, jetzt war er ihr Gegner, und sein Verrat drehte ihr den Magen um. Ohne sich umzusehen, antwortete sie dem Patriarchen: »Ihr habt nichts von mir verlangt. Ich bin freiwillig gekommen, erinnert Ihr Euch?«
Ihr Gegner kam näher. »Hör lieber auf Seine Gnaden, mein Schatz. Das hier ist nicht dein Kampf. Geh zurück nach Hause, ins Firbolg-Land, geh und mach dem Fürsten der Ungeheuer eine Freude. Das ist etwas, was ich nie verstehen konnte so eine schöne Frau und so ein hässliches Schicksal.«
»Bleibt in Eurem Kreis, Euer Gnaden«, rief Rhapsody und befreite sich mit einem Schulterzucken sanft von der zittern den Hand, während sie ihren Gegner auf sich zukommen sah. »Vollzieht Euer Ritual und lasst Euch nicht beunruhigen. Konzentriert Euch auf Eure Zeremonie.«
Aus den kristallblauen Augen verschwand das unverschämte Blitzen. »Ich habe dieses Spiel satt«, sagte er, und seine Stimme wurde gemein. »Je länger du mich dazu bringst, es zu spielen, desto mehr werde ich mit dir spielen, nachdem ich den Alten dort getötet habe. Ich habe lange darauf gewartet, dich endlich zu besitzen.«
Zorn ließ Rhapsodys Gesicht hart werden. »Dann komm«, sagte sie, während ihre Augen schmal wurden, mit tödlich ruhiger Stimme. »Ich werde mich bemühen, dieses Erlebnis für dich unvergesslich zu machen.« Ihre Hand legte sich auf das Heft der Tagessternfanfare.
»Versprochen?«, fragte er anzüglich und trat langsam zur Seite, die Hand geöffnet und bereit.
»Ich kann es kaum erwarten.« Damit zog er das Schwert, ein Schwert, das sie noch nie gesehen hatte. Es war aus schwarzem gehärtetem Stahl, und die Luft um ihn herum zischte, als er es vor sich hob.
Rhapsody fühlte ihr Schwert in der Scheide und veränderte ihren Griff minimal, wie Achmed es sie gelehrt hatte, während sie ihre Aufmerksamkeit zuerst auf sich richtete. Sie war stark, sie war gut vorbereitet, sie stand auf heiligem Boden. Ihr Gefühl, das sie seit uralten Tagen und auch schon in jenem scheinbar anderen Leben durchströmt hatte, sagte ihr, dass sie unter dem Schutz der Basilika stand. Es sagte ihr, dass dieser Boden sie nicht verletzen würde, selbst wenn sie stürzte. Rhapsody schloss die Augen und konzentrierte sich, wie Oelendra es ihr beigebracht hatte.
Auf der Schwelle ihres Bewusstseins befanden sich die drei nun näher kommenden anderen Gestalten. Der vertraute Singsang des Patriarchen floss durch den Ring. Das am weitesten entfernte Wesen erschien als fremdes Glühen am Rande ihres Blickfelds. Ihr unmittelbarer Gegner, der Mann, den sie Ashe genannt hatte, drang direkt von vorn auf sie ein. Rhapsody untersuchte sein Abbild nach Blut nahe der Oberfläche, irgendeinem Zeichen von Schwäche oder Verletzung. Zwar fand sie nichts, aber sie erkannte, dass es nicht die gleiche Schwingungssignatur trug wie die Gestalt im hinteren Teil der Basilika. Seltsamerweise erschien Ashe nicht als Mann auf dem Schwingungsraster in ihrem Kopf, sondern als ein Ding, ein Geist oder eine Maschine, die dabei war, sie anzugreifen. Er war nicht lebendiger als sein Schwert, was bedeutete, dass sie nicht wusste, ob sie ihn töten konnte.
Ein Rakshas hat immer das Aussehen der Seele, die ihm Kraft gibt. Elynsynos’ Worte hallten in ihrem Gedächtnis wider. Rhapsody öffnete die Augen und warf einen kurzen Blick auf die Gestalt im Hintergrund, dankbar, in dieser, der heiligsten Nacht des Jahres, auf geweihtem Boden zu stehen; denn sicher war es der Wirt des F’dor selbst, der sich hinter dem Schutz des gehörnten Helms verbarg. Sie hätte gern Einzelheiten erkannt, irgendwelche Hinweise auf seine Identität, aber stattdessen wurde ihre Aufmerksamkeit nun ganz von dem Gegner in Anspruch genommen, der sich ihr unaufhaltsam näherte. Langsam stieg sie die schillernden Marmorstufen hinunter und vergrößerte den Bogen des musikalischen Zylinders, der über und um den Patriarchen schwebte, als sie auf der untersten Stufe Halt machte. Vom Altar hinter ihr intonierte der alte Kirchenmann mit schwacher Stimme aufs Neue die feierlichen Worte, die seine letzte Zeremonie des Hochheiligen Tages besiegelten.
Im Hintergrund des Kirchenschiffs gestikulierte die Gestalt mit dem gehörnten Helm voller Ungeduld. Der Mann, dem sie vertraut hatte, mit dem sie gereist war, neben dem sie gekämpft und geschlafen hatte, war inzwischen seines Umhangs ledig und stürzte sich mit Mordlust in den Augen auf sie.
In den Sekunden vor dem Zusammenprall senkte sich Frieden auf Rhapsody herab. Es war die kalkulierte Ruhe, mit der sie in gefährlichen Situationen stets gesegnet war, gestählt von ihrer Ausbildung, geschliffen von ihrem Schwert, als verstriche die Zeit auf einmal viel langsamer; alle Winkel, alle Funktionen, jede Ebene und jede Kurve waren ihr klar, und sie war bereit, ihre Position einzunehmen. Auf ihrem Gesicht lag eine tödliche Heiterkeit; sie holte tief Atem und verstärkte ihre Konzentration auf die Schwingungen des Musikkreises und auf den rasch näher kommenden Mann, der jetzt nichts weiter war als eine Vielzahl mathematischer Berechnungen und Vektoren. Für sie war er kein Bekannter mehr, sondern nur noch der Feind, und jede Faser ihres Wesens und des Wesens ihres Schwerts war auf seine Vernichtung ausgerichtet.
»An mir kommst du nicht vorbei«, sagte sie mit der vollen Autorität einer Benennerin. In dem Sekundenbruchteil, bevor er zuschlug, sah Rhapsody sein Gesicht, verzerrt vor Wut, gärend vor Hass. Die Augen, von denen sie geträumt hatte, spieen Feuer, die Pupillen waren winzige Punkte eines flammenden blauen Lichts, die vertikalen Schlitze verschwunden. Sie schätzte seine Kraft und seine Körpermasse auf etwa das Doppelte ihrer eigenen, doch sie glaubte, dass sie schneller und ihm technisch überlegen war, obgleich sie seine Waffe nicht kannte. Seine Wut war größer; ob sich das als Vorteil für sie oder für ihn herausstellte, musste sich zeigen.
Sie hatte ihn schon im Kampf erlebt, aber niemals so wie heute. Er bewegte sich mit der Schnelligkeit und Behändigkeit eines Wolfs, und sein grässliches Knurren klang eher nach einem wilden Tier als nach einem Menschen. In einem einzigen Moment hatte er die Entfernung zu ihr überwunden und sich, das Schwert aus dem Handgelenk schwingend, auf sie gestürzt.
Sie war wie angewurzelt stehen geblieben und ließ sich gerade genug Zeit, um die Tagessternfanfare zu ziehen, sodass der Blitz, den das Schwert hervorrufen würde, wenn es aus der dunklen Scheide führe, mit dem Gipfelpunkt des musikalischen Kreises über ihr zusammentreffen würde. Als die Klinge ihres Feindes auf ihre Kehle zusauste, um sie zu enthaupten, hörte sie das Geräusch, von dem Oelendra gesprochen hatte, das Wispern im Wind; und sie wusste, dass sie, tot oder lebendig, durch ihre Wächterrolle den Rang eines Sippschaftlers erhalten hatte.
Ohne einen Laut, mit einer Schnelligkeit, wie nur die Erfahrung sie schenkt, zog Rhapsody die Tagessternfanfare aus der Scheide, in einem Winkel, der den Schlag ihres Gegners aufhielt und parierte. Als das Schwert vorschoss, gab es einen fürchterlichen Lichtblitz, den der summende Kreis über Rhapsody in alle Richtungen durch die Basilika verteilte. Ein metallisches Dröhnen, das an das Schmettern einer Silbertrompete gemahnte, zerriss die Luft. Wie Hammer auf Amboss, so prallte das Schwert gegen die schwarze Waffe, und das Echo des Knalls wurde von den Glocken der Basilika zurückgeworfen. Die mächtige Schallwelle brachte den Turm zum Erzittern, fegte übers Land und ließ die ganze Zinne beben.
Rhapsody wendete die Kraft und Größe ihres Gegners gegen ihn selbst, um den Schlag auf den Boden zu lenken. Sie zog ihr Schwert über seine Seite, und wo es durch seine Rüstung drang, versengte es ihn. Rasch wirbelte sie in ihre Ausgangsstellung zwischen ihm und den Altarstufen zurück, wobei sie schon fast erwartete, ihn auf dem Boden zu sehen. Doch er war noch da und ging, ohne auf seine verwundete Seite zu achten, erneut auf sie los. Wieder musste sie ihn abwehren, aber dieses Mal zielte sie bei ihrem Gegenschlag auf seine Augen. Obgleich sie fühlte, dass sie ihn getroffen hatte, drang er mit dem Schwertarm weiter auf sie ein, während er den anderen Arm hob, um sein Gesicht zu schützen. Rhapsody duckte sich unter seinem Zugriff hindurch, warf sich herum und versuchte, von ihm loszukommen, aber er war zu dicht bei ihr. Mit einer abrupten Bewegung packte sie die Tagessternfanfare mit beiden Händen und hackte ihrem Angreifer den Daumen vom Heft seines schwarzen Schwertes. Die Waffe fiel klirrend zu Boden, gefolgt von dem blutenden Finger, während sie ihren Feind mit den Ellbogen von der Treppe drängte. Dann sprang sie selbst wieder zwei Stufen hinauf, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen.
»Du kommst nicht an mir vorbei«, wiederholte sie atemlos. Sie spürte, wie die Wut ihrer beiden Gegner sich verstärkte. Ein Blick auf ihre Schwingungssignaturen zeigte ihr, dass sie mit einer dunkelroten Flamme pulsierten, schwarz brennend vor Zorn. Offenbar störte es die Gestalt im Hintergrund ganz besonders, dass die Auseinandersetzung inzwischen nicht mehr im Verborgenen stattfand; unruhig blickte der Vermummte sich in der Basilika um und lauschte auf die Geräusche, die von draußen hereindrangen. Alarmglocken und Rufe erschallten immer lauter von der Stadt herauf. Doch die Wut ihres Gegners zielte nicht direkt auf sie. In seinen Augen erkannte sie eine zornige Verwirrung, als hätte er ihre Stärke falsch eingeschätzt. Doch das erschien ihr wiederum äußerst unwahrscheinlich, denn Ashe war lange genug bei ihr gewesen und hatte oft an ihrer Seite gekämpft, um sie beurteilen zu können. Und er wusste doch auch, dass sie bei Oelendra gelernt hatte. Wodurch seine Verwirrung indes ausgelöst worden sein mochte, sie ging vorüber. Hass verdunkelte sein Gesicht, und er stürzte sich auf Rhapsody, sprang durch die Luft mit einer unnatürlichen wölfischen Anmut und riss sie zu Boden, sodass sie unter ihm zum Liegen kam.
Offensichtlich war er zu dem Schluss gekommen, dass sie die bessere Waffe besaß, und setzte nun auf seine körperliche Überlegenheit. Mit der unverletzten Hand ließ er ihren Kopf auf die Marmorstufe aufschlagen. Rhapsody wehrte sich mit dem Schwert, das jedoch abprallte; aber ihr freier Handballen stieß von unten gegen seine Nase, sodass sie zu bluten anfing. Doch es war gar nicht Blut, was da zum Vorschein kam, sondern vielmehr eine Art Lauge, die ihr in den Augen und auf der Haut brannte. Das Zeug zischte und sandte einen stechenden Schmerz durch ihren ganzen Körper.
Aneinander geklammert, rollten sie über den Boden der Basilika. Rhapsody landete auf dem Rücken und versuchte aufzustehen, aber eine behandschuhte Hand legte sich auf ihre Kehle und drückte so heftig zu, dass sie wiederum auf dem Stein aufschlug. Einen Herzschlag lang wurde die Welt um sie herum dunkel, und sie bekam keine Luft mehr. Mit Bauch und Beinen presste er sie zu Boden und richtete sich dann keuchend über ihr auf. Blut füllte ein Auge und tropfte aus seiner Nase, sein Gesicht war vor Wut und Bosheit grotesk verzerrt.
Rhapsodys Arme fielen kraftlos zur Seite. Ihr ganzer Körper tat weh, und von dem widerlichen Gestank, der vom Blut ihres Gegners aufstieg und die Luft wie eine Giftwolke verpestete, wurde ihr übel. Doch sie zwang sich zur Ruhe und bewegte langsam und unmerklich die Arme nach oben, bis sie direkt über ihrem Kopf lagen; zwar gab sie sich damit eine Blöße auf Bauch und Brust, aber dort schützte sie ja der Panzer aus Drachenschuppen. Sein Griff um ihre Kehle verstärkte sich; jetzt hatte er sich fast zu einer sitzenden Position erhoben und umklammerte ihren Hals mit beiden Händen, die Beine gespreizt, die Genitalien jedoch zu ihrem Bedauern außer Reichweite ihrer Knie.
»Wie schade«, keuchte er und setzte sich hart auf ihren Bauch. »Schon seit langem hatte ich vor, dich flachzulegen, aber ich glaube, meinen ursprünglichen Plan hätten wir beide etwas mehr genossen.« Die Worte kamen nur mühsam aus seinem Mund, er atmete flach. »Aber egal. Ich denke, ich nehme deinen Körper einfach mit und vergnüge mich trotzdem noch ein bisschen damit. Wahrscheinlich habe ich dann sogar mehr Spaß mit ihm als in lebendigem Zustand, weil du nicht mehr ständig plapperst. Obwohl deine Schreie wären Musik für meine Ohren gewesen. Nun ja.«
Rhapsody konzentrierte sich auf seinen Helm. Immer wieder schwand ihr für einen Augenblick das Bewusstsein, aber schließlich glaubte sie die Naht seiner Rüstung am Hals ausfindig gemacht zu haben. Mit unendlicher Geduld drehte sie das Heft der Tagessternfanfare in der Schwerthand und bewegte langsam die Hände aufeinander zu. Dann nahm sie all ihre eigene und die Kraft des Schwertes zusammen, und als sie spürte, dass sie harmonierten, atmete sie aus, wurde schlaff in der Umklammerung ihres Feindes und ließ das Schwert aus ihren Händen auf den Boden der Basilika fallen.
Er würgte sie noch einmal mit brutaler Heftigkeit, lockerte schließlich aber den Griff, fasste sich mit beiden Händen an sein blutendes Gesicht und wollte dann, auf ein Knie gestützt, die Tagessternfanfare ergreifen. In diesem Augenblick rief Rhapsody in Gedanken ihr Schwert. Sofort sprang die Tagessternfanfare zurück in ihre Hände. Rhapsody warf sich nach vorn und stach mit der spitzen Klinge in den Schlitz im Harnisch ihres Gegners. Sie traf das angepeilte Ziel mit solcher Genauigkeit, dass er nach hinten geschleudert wurde. Die Tagessternfanfare jedoch steckte fest in seinem Hals.
Ein hässliches, ersticktes Japsen entrang sich seinem Mund, seine Augen weiteten sich vor Überraschung und Schmerz. Rhapsody nahm am Rande wahr, dass die Pupille des unversehrten Auges groß und rund geworden war. Mit einem heftigen Ruck zog sie das Schwert wieder aus seinem Hals und hieb es ihm gegen die Knie. Er stürzte, versuchte aber, auf, allen vieren sein eigenes Schwert zu ergattern. Doch Rhapsody schleuderte es mit einem mächtigen Schwung der Tagessternfanfare in den Gang, wo er es nicht mehr erreichen konnte.
»Tut mir Leid, dass ich dich enttäuschen muss«, sagte sie und folgte ihm, als er sich kriechend zurückzog. »Wenn du dich so nach mir sehnst, werde ich gern zu Diensten sein. Roll dich mal ein bisschen auf die Seite.« Drohend schwang sie das Schwert gegen ihn, dann spürte sie plötzlich, dass etwas die harmonischen Schwingungen der Tagessternfanfare störte. Beschämt begriff sie den Grund dafür: In ihrer Wut hatte sie ihren wehrlosen Feind verspottet, und das war einer Sippschaftlerin und der Iliachenva’ar nicht würdig.
»Halt still, dann beschere ich dir ein schnelles Ende«, sagte sie freundlicher, hob das Schwert und richtete es auf seinen Hals.
Auf einmal ertönte ein Höllenlärm aus dem hinteren Teil der Kirche. Rhapsody konnte gerade noch der Feuerwand ausweichen, die ohne jede Vorwarnung aus dem Boden zwischen ihr und ihrem blutenden Feind in die Höhe schoss, eine schwarze Feuersbrunst, die denselben Gestank verbreitete wie sein Blut. Die Wand aus Hitze und Flammen stieg bis auf die Höhe des Altars empor und umringte Rhapsody von allen Seiten und sie konnte sie nicht durchbrechen. Doch es war kein natürliches Feuer; es zischte und fauchte, und seine Bosheit war greifbar. Auf der anderen Seite der Flammen sah Rhapsody hastige Bewegungen. Sie sammelte all ihr Wissen um sich wie einen Umhang und bereitete sich darauf vor, durchs Feuer zu gehen, als es plötzlich verschwunden war. Auch die beiden Attentäter waren nirgends mehr zu sehen. Der Patriarch sang noch immer mit leiser, unsicherer Stimme, war inzwischen aber fast am Ende des Rituals angekommen.
Keuchend und völlig ausgelaugt, wartete Rhapsody, bis der Priester fertig war. Erst als er sich vom Altar abwandte und die Stufen zu ihr hinabstieg, setzte sie sich hin und strich sich mit den Fingern über ihre malträtierte Kehle. Ihr Kopf dröhnte, und in ihrem Körper wuchsen die Schmerzen.
Mit vor Schreck bebender Stimme rief der Patriarch: »Kind! Mein Kind! Seid Ihr unversehrt?« Er zitterte so heftig, dass Rhapsody schon Angst bekam, er könne die Altartreppe hinunterfallen.
»Ja, Euer Gnaden, es geht mir gut«, antwortete sie, erhob sich mühsam und streckte dem gebrechlichen alten Mann beide Hände entgegen. Seine Augen waren voller Besorgnis, aber er schien wenigstens keine Angst mehr zu haben.
»Lasst mich Euren Hals ansehen«, bat er, zog den Kragen ihrer Weste beiseite und untersuchte die anschwellenden purpurnen Flecke. »Ihr seht furchtbar aus.«
Rhapsody zuckte zusammen, als seine Finger ihren Hals berührten. »Ja, aber er sieht noch schlimmer aus, und darauf kommt es an.«
»Wo ist er geblieben?«, fragte der Patriarch und sah sich in der Basilika um. Rhapsody beugte sich vor und versuchte, möglichst tief und ruhig zu atmen, um die Schmerzen zu bewältigen. »Ich weiß es nicht. Er hat wohl den Schwanz eingeklemmt und ist weggelaufen, mit Hilfe seines hässlichen Freundes.«
»Er hatte Hilfe?«
»Ja, da war noch einer, mit einem gehörnten Helm. Ich bin ziemlich sicher, dass er es war, der das Feuer herbeigerufen hat.«
»Das Feuer? Ich kann nicht glauben, dass ich nichts davon mitbekommen habe. Einmal habe ich einen großen Lärm gehört, aber als ich den Ritus vollzogen hatte, wart nur noch Ihr in der Kirche. Offenbar musstet Ihr teuer dafür bezahlen, dass Ihr mich beschützt habt. Es hätte Euch das Leben kosten können.«
Gerührt nahm Rhapsody seine Betroffenheit zur Kenntnis und lächelte ihn aufmunternd an.
»Gut, dass Ihr Euch nicht habt ablenken lassen, Euer Gnaden, so soll es sein. Wir sind beide unserer Pflicht nachgegangen. Konntet Ihr das Ritual erfolgreich beenden?«
»O ja. Die Zeremonie des Hochheiligen Tages ist vollständig, das Jahr gesichert, und mit Hilfe des Allgottes wird nächstes Jahr ein anderer meinen Platz einnehmen. Jetzt kann ich in Frieden Abschied nehmen. Danke, meine Liebe, danke. Wärt Ihr nicht gewesen, hätte ich ...«
Er starrte zu Boden, und sein Mund öffnete und schloss sich leise, ohne dass Worte herauskamen.
Rhapsody streichelte seine Hand. »Es war mir eine Ehre, Euch als Beschützerin zu dienen.«
In diesem Augenblick flog die Tür der Basilika auf, aufgeregter Lärm erhob sich, und Wachen, Soldaten, Novizen und Stadtbewohner strömten in die Kirche, um nach dem Patriarchen zu sehen. Rhapsody steckte ihr Schwert in die Scheide und kniete vor dem Priester nieder.
»Ich werde Euer Amt in dem Ring für Euch bewahren, Euer Gnaden, bis ein anderer an Eure Stelle rückt. Betet für mich, dass ich meine Aufgabe mit Weisheit erfülle.«
»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte der alte Mann und lächelte auf sie herab. Dann legte er die Hand auf ihren Kopf und erbat auf Altcymrisch, der heiligen Sprache seiner Religion, einen Segen. Rhapsody verbarg ihr Lächeln, als ihr einfiel, wann sie diese Sprache im alten Land zum letzten Mal gehört hatte. Was jetzt mystische heilige Worte waren, gehörte damals zum Jargon fluchender Wachsoldaten; Prostituierte hatten in dieser Sprache ihre Kunden geworben, Fischweiber hatten sie gekeift, Betrunkene gelallt. Doch jetzt wurde das Cymrische feierlich und mit Ehrfurcht gesprochen, so bedeutungsvoll wie ein Lirin-Lied. Der letzte Teil des Segens war ein einfacher Spruch, den sie schon als Kind gehört und den man den alten Seren zugeschrieben hatte.
»Vor allem aber mögest du Freude finden.«
»Danke«, antwortete sie mit einem Lächeln. Dann erhob sie sich, wenn auch etwas mühselig, verbeugte sich und machte sich zum Abschied bereit. Doch als sie sich zum Gehen wandte, berührte der Patriarch sie an der Schulter.
»Mein Kind?«
»Ja, Euer Ehren?«
»Wenn die Zeit kommt, würdet Ihr dann vielleicht in Erwägung ziehen ...« Seine Stimme erstarb, und er schwieg verlegen.
»Ich werde da sein, wenn ich irgend kann, Euer Ehren«, sagte sie leise. »Und ich bringe meine Harfe mit.«