25

Rhapsody war frühzeitig aufgewacht, das Gedicht aus ihren Träumen noch immer im Kopf. Sie hatte gebadet und sich angekleidet, aber die Worte piesackten sie weiter und ließen ihr einfach keine Ruhe.

An der Tür lauschte sie, ob ihre Geschäftigkeit vor Morgengrauen Oelendra gestört hatte, aber aus den anderen Räumen war nichts zu hören. Entnervt beäugte Rhapsody die Laute in der Ecke; sie wusste, wenn sie erst einmal mit Komponieren anfing, musste sie die Sache auch zu Ende führen, vorher würde sie an nichts anderes denken können. Als Erstes kochte sie sich eine Tasse Tee. Während sie die dampfende Flüssigkeit schlürfte, dachte sie an Ashes beleidigende Kommentare und überlegte, warum er das Getränk so verabscheute. Ihr schmeckte es ziemlich gut.

Schließlich ergab sie sich seufzend in ihr Schicksal, machte es sich in dem Sessel gegenüber dem Kamin bequem, stimmte die Laute und zupfte vorsichtig. Zuerst war das Lied kalt und wollte nicht fließen, aber schon nach wenigen Minuten nahm die Melodie allmählich Form an. Rhapsody spielte leise, um ihre Gastgeberin nicht zu stören. Bald summte der Raum vor kreativer Energie und verstärkte das Licht und die Wärme, die hier bereits herrschten. Im Kamin sang das Feuer, knisterte im Rhythmus der Töne ihrer Laute, zischte im Takt. Als die Tür aufging, war Rhapsody ganz in ihre Musik versunken.

»Bist du bereit?«, fragte Oelendra. Sie trug ihre übliche Lederrüstung, abgenutzt vom jahrelangen Gebrauch, und hatte ihren Umhang mit dem hohen Kragen dabei. Rhapsody blickte von ihrer Laute zum Fenster mit dem Eisengitter. Noch mindestens eine Stunde bis Tagesanbruch.

»Es ist noch dunkel draußen, Oelendra«, erwiderte sie, während ihre Finger weiter über die Saiten glitten.

»Ja, aber du bist wach oder tust zumindest recht erfolgreich so.«

Rhapsody lächelte sie an. »Ich bin fast fertig mit diesem Lied«, meinte sie, und ihre Augen kehrten zu dem Instrument zurück. »Noch vor Sonnenaufgang bin ich so weit. Dann stehe ich Euch augenblicklich zur Verfügung.«

»Sonderbar«, entgegnete Oelendra leise. »Ich habe geglaubt, du stündest mir ohnehin immer zur Verfügung.«

Bei dieser seltsamen Bemerkung schaute Rhapsody wieder auf. Oelendra musterte sie durchdringend. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte sie, und Rhapsody erwiderte das Lächeln mit dem Gefühl, dass sie irgendetwas nicht mitbekommen hatte.

»Wenn ich dieses Lied aus dem Kopf habe, kann ich mich heute besser konzentrieren«, erklärte sie, während sie sich wieder ihrer Laute widmete.

»Wirklich?«, fragte Oelendra mit freundlicher Stimme.

»Ja«, antwortete Rhapsody und machte sich an einer verstimmten Saite zu schaffen. »Diese Laute ist eine strenge Zuchtmeisterin. Die ganze Zeit hat sie im Schlaf an mir gezerrt, deshalb bin ich so früh aufgestanden. Sie holt meine Konzentration ständig zu diesem Lied zurück und verlangt, dass ich es vollende. Ich glaube nicht, dass sie mich in Ruhe lassen wird, ehe ich damit fertig bin.«

»Welch ein lästiges Instrument. Nun, wenn das alles ist...« Unvermittelt streckte Oelendra die Hand aus und entriss Rhapsody die Laute. Als Rhapsody den Mund aufmachte, um zu protestieren, schleuderte Oelendra das Instrument gegen die Wand und warf es dann quer durch den Raum ins Feuer, wo es mit kreischenden Saiten zerbarst. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sah Rhapsody zu, wie das Holz Feuer fing.

»Nun denn«, meinte Oelendra leichthin, »das Problem hätten wir gelöst. Bist du jetzt bereit?«

Es dauerte einen Moment, ehe Rhapsody ihre Stimme wieder fand. »Ich kann nicht glauben, was Ihr soeben getan habt.«

»Ich warte.«

»Was, im Namen des Allgottes, ist nur in Euch gefahren?«, rief Rhapsody und deutete auf die Feuerstelle. »Dieses Instrument war unglaublich wertvoll, ein Geschenk von Elynsynos, uralt und voller Wissen. Und nun ist es ...«

»Nun hält es das Zimmer warm.«

»Findet Ihr das lustig?«

»Nein, Rhapsody, ich finde das nicht lustig.« Jede Spur von Höflichkeit war aus Oelendras Gebaren gewichen, und an ihre Stelle war eine kalte, zornige Entschlossenheit getreten. »Ich finde es nicht lustig, und ich glaube auch nicht, dass es ein Spiel ist, wie du anscheinend annimmst. Es ist so todernst, wie man es sich nur denken kann, und du solltest lieber anfangen, dich so zu benehmen, als wüsstest du das. Du bist die Iliachenva’ar. Du bist eine der Drei du hast eine Aufgabe zu erfüllen.«

»Aber das entschuldigt nicht, was Ihr getan habt! Ich habe außer dieser Aufgabe noch andere Pflichten. Ich bin auch Benennerin. Ich muss meinen Beruf ausüben, sonst verliere ich ihn.«

Rhapsody schluckte heftig in dem Versuch, die Wut im Schach zu halten, die hinter ihren Augen brannte.

Oelendra begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. »Vielleicht, aber so selten sie auch sein mögen, gibt es noch andere Benenner auf der Welt. Doch es gibt nur eine einzige Iliachenva’ar. Du hast eine enorme Verantwortung, der du gerecht werden musst. Deine sonstigen Interessen spielen keine Rolle.«

Rhapsody spürte, wie sich ihre Fäuste vor Wut ballten. »Wie bitte? Wollt Ihr mir jetzt vorschreiben, was ich bin? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich freiwillig für diese Stellung angeboten habe.«

»Nein, du wurdest eingezogen«, entgegnete die LirinKämpferin barsch. »Jetzt steh auf.«

»Oelendra, was ist los mit Euch?«

Eine Waschschüssel und ein Krug landeten klirrend auf dem Boden, sodass die Scherben nur so durch die Gegend flogen. Als Nächstes schleuderte die Lirin-Kämpferin den Waschtisch selbst gegen die Wand.

»Ich kann das verdammte Ding nicht töten, das ist mit mir los!«, fauchte Oelendra. »Wenn ich es könnte, wäre es schon seit zehn Jahrhunderten nichts als Asche im Wind. Aber ich habe versagt; ich habe Fehler gemacht, und der Preis dafür war immens hoch. Du darfst es nicht wieder entfliehen lassen, Rhapsody. Dein Schicksal ist prophezeit worden, da kannst du die Achseln zucken, so viel du magst. Du wirst den F’dor töten oder bei dem Versuch sterben. Du hast keine andere Wahl. Meine Verantwortung ist es, dir die Möglichkeit zu geben, erfolgreich zu sein, und nun verschwendest du meine Zeit.«

Rhapsody klappte den Mund zu, der seit dem Beginn von Oelendras Tirade offen gestanden hatte. Sie versuchte, Worte zu finden, die ihre Lehrerin beruhigen würden, doch ihr wurde sofort klar, dass sie das nicht konnte. In Oelendras Augen stand mehr als Zorn, es war etwas Tieferes darin verborgen, das Rhapsody nicht ermessen konnte. Sie erinnerte sich an die Warnungen anderer vor Oelendras Wut und an ihren Ruf als strenge Lehrmeisterin. Sie konnte weiter nichts tun, als zu versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen.

»Hör mir zu, Rhapsody. Ich habe vierundachtzig voll ausgebildete Krieger nach diesem Biest ausgeschickt, und keiner von ihnen, kein Einziger, ist jemals zurückgekehrt. Du hast mehr Talent, mehr Potenzial als irgendeiner von ihnen, aber dir mangelt es an Disziplin und Willenskraft. Dein Herz möchte die Welt retten, aber dein Körper ist träge. Du verstehst nicht die Tiefe des Bösen, das da draußen lauert und nur darauf wartet, dich zu vernichten. Und wenn du beim Gedanken an deinen eigenen Tod und die Verdammnis nicht zitterst, dann denke an die Menschen, die du liebst. Denk an deine Freunde, deine Schwester, an die Kinder, für die du sorgst. Hast du überhaupt eine Ahnung, was ihnen bevorsteht, wenn du versagst, wie ich versagt habe? Nein, das hast du nicht, denn sonst wärst du jetzt da draußen und würdest beten, dass du dieses Ding zu fassen kriegst und es mit deiner Klinge durchstößt, wieder und wieder und wieder um seinen Tod auf deiner Hand zu schmecken und die Freude der Rache für all die grässlichen Taten zu verspüren, die es in den Jahrtausenden seines Lebens vollbracht hat.«

Rhapsody wandte den Blick ab; sie konnte Oelendras Ausbruch nicht ertragen. Tief in ihrem Innern senkte sich Ruhe herab, das Gefühl des Friedens, das ihr drohende Gefahr signalisierte. Aber es war nicht Oelendra, die sie bedrohte, es war die Panik, die in ihrer Kehle aufstieg, wenn sie an die vor ihr liegende Aufgabe dachte.

»Weißt du überhaupt, was deiner Familie, deinen Freunden durch die Hände dieser Wesens zugestoßen ist? Weißt du, was mit Ostend geschehen ist, Rhapsody?«

»Nein«, flüsterte sie.

Oelendras Augen wurden wieder klar, als hätte die Stimme der Sängerin sie aufgeweckt.

»Dann sei dankbar, es war nämlich alles andere als schön«, meinte sie etwas ruhiger. »Du hast die Möglichkeit, dem ein Ende zu bereiten, Rhapsody, das Leid ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Du besitzt von Natur aus eine Verbindung zu den Sternen und zum Feuer, und du hast die Unterstützung eines Dhrakiers. Du bist eine der Drei. Das Böse weiß, dass du hier bist. Es hat ebenso lange auf dich gewartet wie ich. Aber wenn du nicht bereit bist, wird es dich unerwartet überfallen, und angesichts dessen, was es dir und denen, die du liebst, antun wird, ist der Tod ein Segen. Und ich hätte ihm das Schwert schon vor langer Zeit einfach überlassen können.«

Rhapsody holte tief Luft und zwang sich erneut zur Ruhe. Unter Oelendras heftigem Ton lag eine Verzweiflung, die Rhapsody rührte und deren Widerhall sie in sich spürte. Es war der Klang unaussprechlicher Qual, einer Qual, die sie selbst erfahren hatte, als sie in dieses Land gekommen war. Ohne Zweifel war die alte Kriegerin weit weniger mit der Vergangenheit im Frieden, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Außerdem wohnte, so unmöglich es auch erscheinen mochte, eine kalte Furcht in Oelendra, eine Furcht, deren Tiefe Rhapsody nicht annähernd ermessen konnte.

»Oelendra, wir müssen das lösen«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich möchte nicht, dass Zorn zwischen uns herrscht. Würdet Ihr Euch bitte setzen und kurz mit mir reden? Danach werde ich gern mit Euch auf die Wiese hinausgehen, und Ihr könnt bis Sonnenuntergang und noch länger mit mir arbeiten, wenn es Euch beliebt. Aber es wird nicht fruchtbar sein, wenn wir diese Angelegenheit zuvor nicht klären.«

Zögernd ließ sich die alte Kriegerin am Tisch nieder. Rhapsody holte sich den gegenüberstehenden Stuhl und setzte sich ebenfalls.

»Oelendra, ich kann nicht die Iliachenva’ar sein, die Ihr wart.«

»Mach dich nicht lächerlich, Rhapsody. Ich wurde nicht mit dem Schwert in der Hand geboren, ich musste den Umgang damit ebenso erlernen wie du. Es braucht Hingabe. Konzentration. Und Durchhaltevermögen. Man kann keine widerwillige Kriegerin sein.«

»Aber ich kann nur eine widerwillige Kriegerin sein«, erwiderte Rhapsody. »Ich habe keine andere Wahl. Doch das habe ich gar nicht gemeint. Ich weiß, dass ich den Umgang mit dem Schwert erlernen kann. Ich habe eine weitaus bessere Lehrerin, als Ihr sie hattet ich habe die Beste. Aber wir haben unterschiedliche Gaben. Ihr seid mit einer Kraft gesegnet, die ich nicht besitze, und Euer Verstand funktioniert wie ein feines Instrument.« Sie warf einen Blick auf die brennenden Bruchstücke der Laute im Feuer. »Nun, das war vielleicht kein so guter Vergleich.«

Gegen ihren Willen musste Oelendra lächeln, und ihr Ärger legte sich ein wenig. »Ich verstehe schon, was du meinst.«

»Und ich habe Fähigkeiten, die Ihr wiederum nicht habt. Ich bin eine andere Person; wenn ich versuche, wie Ihr zu sein, werde ich scheitern. Mir scheint, im Kampf gegen einen Feind dieser Stärke sollte jede Fähigkeit eingebracht werden. Deshalb muss ich mit dem Schwert so gut werden, wie ich eben kann, und das wird mir auch ohne Zweifel gelingen, denn ich kann auf Eure Weisheit und Erfahrung zurückgreifen ganz zu schweigen von Eurem Stiefel, der mich bei Bedarf in den Hintern tritt. Aber ich glaube nicht, dass es sinnvoll wäre, die anderen Waffen zu ignorieren, die mir zur Verfügung stehen. Ihr schärft mir immer wieder ein, meine Stärken im Kampf zu entwickeln; ich soll mich auf meine Schnelligkeit und mein Talent verlassen und nicht kämpfen wie ein Bolg das ist doch richtig, oder?« »Kommst du irgendwann zum springenden Punkt?« Rhapsody atmete aus. »Vielleicht. Ich hoffe es. Es gibt viele Arten von Waffen, und alle sind auf ihre Art und zu ihrer Zeit machtvoll. Der Punkt ist, dass Musik für mich die mächtigste Waffe sein kann, noch mächtiger als das Schwert. Musik ist kein Zeitvertreib, keine Erholung; Musik ist mein größtes Talent, Oelendra, mein größtes. Doch das vermindert keineswegs mein Engagement für das Schwert.«

Lange starrte Oelendra sie schweigend an, dann schaute sie zu Boden und stieß langsam die Luft aus. »Du hast Recht. Es war falsch von mir, meinen Schmerz an dir auszulassen. Es tut mir Leid wegen der Laute.« Irgendetwas in ihrer Stimme klang nicht richtig; sie hatte einen Unterton, der Rhapsody die Stirn runzeln ließ.

»Oelendra, seht mich an.« Als keine Reaktion erfolgte, hakte Rhapsody nach. »Bitte.«

Einen Moment später hob die ältere Frau den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. In Oelendras Augen standen Tränen, die Rhapsody zutiefst erschreckten. »Oelendra? Was ist los? Bitte sagt es mir.« »Heute.« Es war nicht mehr als ein Flüstern. »Was ist heute?«

Oelendra blickte ins Feuer. »Der Jahrestag.« »Heute ist Euer Hochzeitstag? Oh, Oelendra.«

»Nein«, entgegnete die Kriegerin mit einem traurigen Lächeln. »Nein, Rhapsody, nicht mein Hochzeitstag. Heute ist sein Todestag.«

Rhapsodys Gesicht wurde weich vor Trauer. »Oh, ihr Götter. Es tut mir so Leid.« Sie sprang vom Tisch auf, rannte hinüber zu ihrer Lehrerin und schlang ihr von hinten die Arme um die breiten Schultern. Lange hielt sie Oelendra so umfangen, und deren Hand legte sich auf ihre. Doch schließlich gab Rhapsody sie wieder frei und ging zum Waffengestell.

»Gut, Oelendra«, sagte sie, während sie sich das Schwert umgürtete. »Jetzt bin ich bereit.«

In der Dunkelheit ihres Traums sah Rhapsody ein Licht. Es kam aus der gegenüberliegenden Zimmerecke; sie setzte sich auf und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie es heller wurde. Nach einer Weile erkannte sie, dass an einem dünnen Spinnseidenfaden ein winziger Stern in der Luft schwebte.

Während sie ihn anstarrte, bemerkte sie, dass in der Dunkelheit noch mehr Lichter funkelten, zusammengesetzt aus tausenden kleiner Lichtpunkte. Sie schimmerten wie Broschen im Schaukasten eines Juweliers, glänzende Edelsteine vor dem schwarzen Samt der Nacht. Dann blickte sie nach unten und sah, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer in Oelendras Haus war, sondern auf einem dünnen Wolkenfetzen weit oben im Himmel schwebte, über dem in Nacht gehüllten Land.

Von ihrem luftigen Ausguck beobachtete sie, wie am östlichen Horizont klar und golden die Sonne aufging. Ihr Licht berührte das Land, und nun zeigte sich, dass der winzige Stern das Minarett in Sepulvarta war, der hoch aufragende Turm, den sie auf Herzog Stephens Bildern bewundert hatte. Das Sonnenlicht blitzte hell auf und griff dann auf den Rest des Landes über, bis es das gesamte Gebiet von Roland zu ihren Füßen erhellte. Die Juwelenbroschen entpuppten sich als Städte und hörten erst auf zu funkeln, als das Licht der Sonne auf sie fiel. Im Hinterkopf spürte Rhapsody den Drang, ihre Morgenaubade zu singen, aber sie bekam keinen Ton heraus. Sie schüttelte den Kopf, und plötzlich sah sie einen Schatten übers Land ziehen, einen tiefen Schatten, der sich auf Sepulvarta zubewegte. Voller Entsetzen sah sie mit an, wie der Schatten über den Turm fiel, die Basilika verschluckte und sie in Finsternis tauchte. In der Dunkelheit stand ein alter Mann. Nun war Rhapsody nur mehr wenige Schritte von ihm entfernt; betend stand er am Altar der weitläufigen Basilika, das Gesicht leichenblass. Um ihn herum brannte schwarzes Feuer; er sang, aber auf einmal floss Blut aus seinem Mund und seiner Nase, und die weißen Gewänder, die er trug, färbten sich purpurrot. Rhapsody, noch immer unfähig zu sprechen, sah, wie das schwarze Feuer ihn verzehrte. Einen Augenblick später klärte sich das Bild, und fünf Männer betraten die Basilika. Sie liefen zu der Blutlache, wo der alte Mann gelegen hatte, und standen eine Weile betend davor. Zwei von ihnen ein junger Kerl und ein gebrechlicher Alter mit hohlen Augen starrten hilflos auf das Blut am Boden. Zwei andere zogen die Schwerter blank und begannen über die Lache hinweg gegeneinander zu kämpfen. Der Letzte, ein älterer Mann mit einem freundlichen Gesicht, machte sich daran, Papiere zu sortieren, für alle Tee zu bereiten und aufzuräumen. Mit ausgestreckter Hand bot er auch Rhapsody eine Tasse Tee an. Doch als sie den Kopf schüttelte, machte er einfach mit seinen Verrichtungen weiter. Von draußen drang ein Geräusch zu ihnen, und Rhapsody trat zum Fenster der Basilika, um hinauszusehen. Rund um die Basilika ging es zu wie an jedem anderen Tag; Passanten zogen vorbei, Kaufleute boten ihre Waren feil, doch zur selben Zeit wälzte sich ein mächtiger, kniehoher Blutstrom durch die Straßen. Die Menschen schienen ihn nicht zu bemerken, nicht einmal, als er so anschwoll, dass er über ihre Köpfe reichte und sie zu ertränken drohte. Rhapsody konnte hören, wie der Bäcker an seinem Ladenfenster der Waschfrau Wechselgeld herausgab, während sein Mund sich langsam mit Blut füllte.

Auf einmal ertönte ein furchtbarer Lärm, und Rhapsody blickte zum Himmel empor. Der Stern oben auf der Turmspitze baumelte herunter und stürzte dann in den roten Blutsee, der einmal Sepulvarta gewesen war, genau wie der Stern aus ihren früheren Träumen. Als er aufschlug, fuhr ein gigantischer Lichtblitz über den Himmel und blendete sie. Eine Weile darauf, als sie wieder sehen konnte, saß sie im Großen Weißen Baum, das Diadem von Tyrian auf der Stirn, umgeben von Lirin, die leise mit ihr sangen, während sich der Baum langsam in die Wellen des Ozeans aus Blut hinabsenkte. Der Traum wäre noch weitergegangen, aber Rhapsody wurde von ihrem eigenen Schreien wach. Oelendra kauerte auf ihrer Bettkante und hielt ihre Arme an den Ellbogen fest.

»Rhapsody? Was ist los?«

Doch sie konnte Oelendra nur anstarren. Sie zitterte und blinzelte heftig, um sich an das Traumbild zu erinnern. Offensichtlich war es irgendeine Art Vision gewesen, eine Warnung, die sie nicht ignorieren wollte. Oelendra spürte ihren inneren Kampf und ließ sie allein, um wieder in die Klarheit zurückzufinden.

»Ist es warm genug?«

Rhapsody nahm einen Schluck dol mwr und nickte. »Ja, danke, es ist wunderbar. Tut mir Leid, dass ich Euch geweckt habe.«

Oelendra sah zu, wie ihre Schülerin trank, und befahl ihrem Herzen, sich zu beruhigen. Sie hatte sich an Rhapsodys Albträume gewöhnt und merkte nur selten etwas davon, aber heute hatten die Schreie sie geweckt. Nachdem die junge Sängerin ihr den Inhalt des Traums dargelegt hatte, wunderte sie sich allerdings nicht mehr über ihre heftige Reaktion. Als Rhapsody ihren Bericht beendet hatte, stellte sie den Becher ab. »Ich muss gleich morgen früh nach Sepulvarta reisen.«

Oelendra nickte. »Der Mann in der weißen Robe könnte deiner Beschreibung nach natürlich der Patriarch sein, obgleich niemand außer seinem inneren Kreis ihn je zu Gesicht bekommt; daher weiß ich nicht, wie er wirklich aussieht. Von den anderen weiß ich nichts, es könnte sich auch nur um Symbole handeln.«

»Den jungen Mann, der mit den anderen hereinkam, habe ich erkannt es war der Segner von Canderre-Yarim«, sagte Rhapsody. »Ich bin ihm einmal begegnet, als der Friedensvertrag zwischen Roland und Ylorc ausgehandelt wurde, und er schien mir ein recht anständiger Kerl zu sein. Ich denke, die Betroffenheit, die er in meinem Traum gezeigt hat, wäre eine angemessene Reaktion auf den Tod des Patriarchen.«

»Vielleicht sind die vier anderen die verbleibenden Seligpreiser«, schlug Oelendra vor.

»Vielleicht«, stimmte Rhapsody ihr zu. »Es tut mir Leid, dass ich so plötzlich aufbrechen muss. Ich wünschte, wir könnten noch viel länger zusammenbleiben.«

»Aber es ist an der Zeit«, entgegnete Oelendra schlicht. »Du weißt alles, was du wissen musst, Rhapsody. Ich habe mich geirrt, als ich meinte, du wärst noch nicht bereit. Du bist stark und nun auch im Gebrauch des Schwerts geübt, und du hast ein kluges, großzügiges Herz. Hier hast du nichts mehr zu tun, du musst nun deinem Schicksal folgen. Ich werde dir helfen, wo ich nur kann. Denk daran, dass du hier jederzeit willkommen bist, wie lange auch immer du bleiben möchtest. Und wenn du dich entschließt, den Versuch zu wagen und die Lirin und die Cymrer zu vereinen, dann komm zu mir, und ich werde dich auch darin unterstützen.«

Rhapsody lächelte sie an, aber ihre Augen waren ernst und traurig. »Ich glaube, Euch Lebewohl zu sagen wird mir schwerer fallen als alle bisherigen Abschiede, Oelendra. In der kurzen Zeit, die ich hier verbringen durfte, habe ich mich zum ersten Mal, seit ich Serendair verlassen habe, wirklich zu Hause gefühlt. Nun kommt es mir fast so vor, als würde ich meine Familie noch einmal verlieren.«

»Dann sag mir einfach nicht Lebewohl«, antwortete Oelendra, stand auf und ging zur Tür.

»Solange hier jemand an dich denkt, wirst du auch ein bisschen da sein. Und das wird immer so bleiben. Versuch dich jetzt auszuruhen. Viel zu bald wird der Morgen grauen.«

»In der Religion des Patriarchen ist der erste Tag des Sommers der Hochheilige Tag«, erklärte Oelendra, während sie Rhapsody eine Satteltasche reichte. Die Sängerin nickte und warf die Tasche über den Rücken der kastanienbraunen Stute, die Oelendra ihr gegeben hatte. Das Tier war stark und friedfertig; Rhapsody konnte in seinen Augen eine angeborene Klugheit erkennen. »Wenn du über Land reitest und die Straßen meidest, kannst du es rechtzeitig schaffen.«

Doch Rhapsody war sich da nicht so sicher. »Sepulvarta liegt zwei Wochen von hier entfernt, habt Ihr gesagt. Wenn ich nicht den Straßen folge, werde ich mich wahrscheinlich verirren. Ich bin noch nie dort gewesen.«

Oelendra lächelte. »Der Turm mit seinem Stern ist wie ein mächtiger Leitstrahl. Wenn du dich konzentrierst, müsstest du ihn in deiner Seele fühlen können, selbst ohne die Tagessternfanfare. Mit dem Schwert als Führer kannst du dich nicht verirren. Außerdem ist keine Lirin-Seele jemals bei Nacht unter den Sternen verloren.«

»Das hat mein Großvater immer von den Seeleuten behauptet«, sagte Rhapsody lächelnd. Ihr Lächeln verblasste, als sie plötzlich wieder die Stimme ihrer Mutter vernahm.

Wenn du zum Himmel emporschaust und deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren sein, niemals.

»Ich habe noch eine letzte Lektion für dich, eine, die du nie vergessen darfst«, erklärte Oelendra mit blitzenden Augen. »Ich hätte es dir eines Tages ausführlich erzählt, aber ich wusste nicht, dass unsere gemeinsame Zeit so schnell zu Ende gehen würde. Im alten Land gab es eine Bruderschaft von Kriegern, genannt die Sippschaftler. Sie waren Meister der Kampfkunst, dem Wind und dem Stern verschworen, unter dem du geboren bist. Zwei Dinge waren notwendig, um in die Bruderschaft aufgenommen zu werden: überragende kämpferische Fähigkeiten und die Rettung eines Unschuldigen unter Einsatz des eigenen Lebens.

Eines Tages wird dir diese Ehre vielleicht zukommen, Rhapsody; du hast das Zeug für diese Bruderschaft. Am Klang des Windes in deinen Ohren, am Flüstern deines Herzens wirst du es erkennen. Hier im neuen Land bin ich nie einem Mitglied dieser Bruderschaft begegnet, und ich weiß nicht, ob sie noch besteht. Doch falls ja, wird jeder Sippschaftler deinen Hilfeschrei im Wind hören, wenn du selbst zur Bruderschaft gehörst. Hör gut zu, ich werde ihn dich lehren.« Mit zitternder Stimme hob Oelendra an zu singen. Die Worte waren Altcymrisch.

Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.

»Vergiss nicht zu rufen, wenn es nötig ist«, sagte Oelendra. »Ich weiß nicht, ob ich dich hören werde, aber wenn, dann kannst du sicher sein, dass ich so schnell wie möglich zu dir komme.«

Tränen brannten in Rhapsodys Augen. »Ich weiß, aber macht Euch keine Sorgen, Oelendra, ich werde schon zurechtkommen.«

»Natürlich wirst du das.«

Rhapsody tätschelte den Hals der Stute. »Nun, ich sollte Losreiten. Danke für alles.«

»Nein, Rhapsody, ich danke dir«, entgegnete die Lirin-Kriegerin. »Du hast viel mehr hierher gebracht, als du mitnimmst. Gute Reise, und pass auf dich auf.«

Rhapsody beugte sich herab und küsste die Wange der alten Kämpferin. »Ich werde Euch alles erzählen, wenn ich zurück bin.«

»Das wird bestimmt eine wundervolle Geschichte«, erwiderte Oelendra und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. »Jetzt reite los. Du hast einen langen Tagesritt vor dir.« Damit gab sie dem Pferd einen Klaps auf die Flanke und winkte, während Rhapsody davonritt, die Letzte einer langen Reihe von Schülern und Schülerinnen vor ihr, die Oelendra mit ihren Gebeten begleitete. Doch jetzt war es anders, das wusste sie. Zwar wagte sie nicht mehr zu hoffen dafür sie hatte zu viele junge Kämpfer sich verabschieden sehen, die nicht zurückgekehrt waren. Aber dieses Mal ritt ihr Herz mit. Wenn Rhapsody nicht wiederkam, würde es auch nicht wiederkommen.

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