51

Rhapsody schüttelte die Krümel von der Tischdecke, faltete sie zusammen und legte sie auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Ashe war noch in der Hütte und hatte schon den Tisch abgeräumt und das Geschirr hineingetragen. Sie stellte die kleine Vase mit Winterblumen auf die Mitte des Tischs zurück, strich lächelnd über die steifen Blütenblätter und bewunderte ihre Schönheit und ihre Entschlossenheit. Lange nachdem die zarteren Blumen von Sommer und Frühherbst verwelkt und abgestorben waren, blühten diese hier weiter, trotzten dem unerbittlichen Griff der Winterweiße, und schenkten der frostigen Welt frische Farbe. Als Ashe wiederkam, fand er Rhapsody ganz in Gedanken versunken, wie sie mit einer der blutroten Blüten versonnen über ihre Wange strich. In ein paar Schritt Entfernung blieb er stehen und beobachtete sie, während seine Augen sich an dem prächtigen Bild ergötzten, das sie unbewusst komponiert hatte.

Ihr goldenes Haar war mit winzigen weißen Trockenblumen zu einem schimmernden Knoten hochgesteckt, nur ein paar Strähnen fielen weich um Gesicht und Nacken. Sie trug ein elegantes, hochgeschlossenes Kleid aus elfenbeinfarbener canderischer Waschseide mit einem weiten Rock und einem schmalen Spitzenbesatz, der sich an ihre Handgelenke und ihren Hals schmiegte, und obgleich von ihrer rosigen Haut abgesehen von den Händen und dem Gesicht nicht viel zu sehen war, hob das Kleid die Schönheit ihres Körpers raffiniert hervor. Erst einen Moment später merkte Ashe, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Er dachte zurück an ihre gemeinsame Zeit, und ihm wurde klar, dass Rhapsody heute Abend zum ersten Mal ihre natürliche Schönheit absichtlich betont hatte. Das Ergebnis war umwerfend. Während der Drache in ihm darüber nachdachte, wie viel ungenutzte Macht in ihr schlummerte, Macht, mit der sie ganze Völker lenken und verzaubern konnte, war der Mann entzückt über die Erkenntnis, dass sie sich für ihn herausgeputzt hatte und sich ganz offensichtlich wünschte, ihre letzte gemeinsame Nacht zu einer wunderbaren Erinnerung zu machen. Auf einmal kehrten ihre Gedanken von ihrer Wanderschaft zurück, sie drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein Lächeln, von dem er weiche Knie bekam. Mit natürlicher Anmut hob sie ihre bauschigen Röcke und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Er ergriff ihre Hände und küsste sie zart, doch dann schloss er Rhapsody in die Arme und genoss ihren frischen Duft und ihren warmen Körper in der seidigsteifen Fülle des Kleids. Sie war ein wahrer Schatz von Empfindungen, an denen sich der Drache endlos ergötzen konnte, und es war nicht leicht, das Verlangen danach erst einmal hintanzustellen.

»Danke für das wunderbare Essen«, sagte sie, entzog sich seiner Umarmung und lächelte ihn an. »Wenn ich gewusst hätte, dass du so gut kochen kannst, hätte ich dir öfter aufgetragen, das Essen zu bereiten.«

Er lachte und fuhr mit dem Zeigefinger über ihre Wange. »Nein, zusammen macht es viel mehr Spaß«, entgegnete er, legte ihre Hand in seine Armbeuge und wanderte mit ihr den Gartenweg entlang. »Das bezieht sich übrigens auf alle meine Lieblingsbeschäftigungen mit dir. Eine hervorragende Leistung in irgendeinem Bereich ist nicht viel wert ohne einen Partner, der sie zu schätzen weiß.« Er sah, wie ihre Porzellanhaut rosiger wurde, und staunte wieder einmal darüber, dass eine Frau, die so irdisch, so unbeeindruckt von anstößigem Humor und Verhalten war, dennoch so leicht errötete, wenn sie mit ihm allein war. Er liebte den Gedanken.

»Komm in meine Arme und tanz mit mir«, meinte er leichthin. Um nicht an den Gefühlen zu ersticken, die in seinem Herzen aufwallten, zog er sie wieder an sich und drückte ihren Kopf an seine Schulter. »Wir sollten üben, denn das nächste Mal treffen wir uns heimlich beider königlichen Hochzeit in Bethania. Wenn wir tanzen und (nicht auffallen wollen, dann wäre es nicht gut, wenn ich dir auf die Füße träte.«

Aber Rhapsody wich so plötzlich zurück, dass er zusammenzuckte. Vor seinen Augen wurde das rosige Gesicht alabasterblass. Ihre Augen suchten in seinem Gesicht nach etwas und füllten sich mit einer alten Traurigkeit, die sie jedoch gleich darauf wieder abschüttelte.

»Es wird spät«, sagte sie ein wenig nervös. »Wir sollten uns unterhalten und dann mit der Benennungszeremonie beginnen.«

Ashe nickte, wenn auch ein wenig traurig, denn beim Tanzen hätte er sie noch ein wenig länger im Arm halten, das Glück ein wenig ausdehnen können. »Bist du bereit?«, fragte er und zeigte zur Laube hinüber. Sie hatten vereinbart, dass er dort seine Geheimnisse offenbaren und ihr dann die Erinnerung nehmen würde. Doch nun senkte sie die Augen und spürte ihre Anspannung stärker werden, als sie den Kopf schüttelte.

»Noch nicht«, sagte sie und wandte sich zu einer kleinen Bank in einem verborgenen Winkel des Gartens. »Können wir uns einen Augenblick dort hinsetzen? Ich habe dir etwas zu sagen, und ich möchte mich gern daran erinnern können, dass ich es gesagt habe.«

»Selbstverständlich.« Ashe half ihr über eine kleine Steinmauer, und sie schlenderten Hand in Hand zu der Bank. Sie strich sich den Rock glatt, während er sich neben ihr niederließ und wartete, was sie ihm zu sagen hatte.

»Ehe du mir die Erinnerung an den Rest der Nacht wegnimmst, möchte ich dir sagen, dass du Recht hattest«, erklärte sie, und ihre Augen funkelten ihn in der Dunkelheit an.

»Rhapsody, du bist unglaublich«, sagte Ashe scherzhaft. »Gerade als ich dachte, es wäre nicht möglich, da fällt dir eine neue Methode ein, wie du mich sexuell erregen kannst. Sagst du das bitte noch einmal?«

»Du hattest Recht«, wiederholte sie und erwiderte sein Grinsen. »Muss ich mich jetzt ausziehen?«

»Bring mich nicht in Versuchung«, entgegnete er und fragte sich, ob das vielleicht ein Trick war, nicht mit ihm zur Laube zu gehen. Er wusste, dass sie nicht glücklich war über das, was sie dort vorhatten, und obgleich sie ihm vertraute, war sie bestenfalls mit Vorbehalten dazu bereit. »Tut mir Leid; also, was hast du gesagt?«

Jetzt wurde ihr Gesicht ernst, und ihre Augen verdunkelten sich im matten Licht der Papierlaternen, die er überall im Garten aufgehängt hatte. »Alles, was du gesagt hast, als du das erste Mal nach Elysian gekommen bist, war richtig, obwohl ich es damals nicht wusste.«

Einen Augenblick starrte sie auf ihre Hände, dann hob sie den Kopf, und ihre Augen glänzten von tiefen Gefühlen oder auch von Tränen, während sie ihn ansah.

»Ich möchte, dass du weißt, wie viel mir die Zeit mit dir bedeutet hat. Ich bin ... ich bin froh, dass wir zusammen waren. Und du hattest Recht es war genug.« Ashe sah, wie eine Träne zwischen ihren Wimpern hervorquoll und ihr langsam übers Gesicht rollte.

»Aber ich war schon lange vorher gern mit dir zusammen, und ich denke, wir waren unter anderem deshalb ein gutes Liebespaar, weil wir vorher schon gute Freunde waren. Und da Freundschaft letztlich das ist, was uns erhalten bleibt, möchte ich auch weiterhin gern mit dir befreundet sein, wenn die Umstände es erlauben. Ich habe mich nie zwischen einen Mann und seine Frau gestellt, und ich habe nicht vor, ausgerechnet jetzt damit anzufangen. Wenn es dir also keine Probleme macht und ... und wenn die cymrische Herrscherin auch nichts dagegen hat, dann denk bitte daran, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst um dir zu helfen, meine ich.« Verlegen stockte sie und blickte kurz zur Laube hinüber. Ashe tat das Herz weh. Er streckte die Hand aus und fing die Träne auf, als sie Rhapsodys Kinn erreichte; dann legte er sanft die Hand auf ihre Wange. Vorsichtig deckte sie ihre darüber.

»Ich liebe dich, Gwydion ap Gwylliam und so weiter, ich werde dich immer lieben«, sagte sie und sah ihn an. »Aber diese Liebe wird niemals dein Glück bedrohen, sie wird dich auf jede mögliche Art unterstützen Danke, dass du mir diese Zeit und diese Gelegenheit geschenkt hast. Es hat mir mehr bedeutet, als du jemals ermessen kannst.«

Jetzt hielt Ashe es nicht mehr aus. Er nahm ihr schönes Gesicht in die Hände und küsste sie, mit all dem wortlosen Trost, den er in seinen Kuss legen konnte. Ihre Lippen waren warm, aber sie erwiderten den Kuss nicht; sanft zog sie seine Hände von ihrem Gesicht und drückte sie freundlich.

»Bist du jetzt bereit?«, fragte er und nickte zur Laube hinüber. Rhapsody seufzte. »Ja, ich denke schon«, antwortete sie und stand auf. »Lass mich nur schnell meine Harfe holen, die brauche ich für die Zeremonie.«

»Das kann warten«, entgegnete Ashe. »Zuerst unterhalten wir uns. Dann machen wir die Benennungszeremonie. Ich muss dir etwas sagen, und eine Bitte habe ich dann auch noch.«

»Sehr gut«, meinte sie. »Ehrlich gesagt geht es mir genau so.«

Von der Laube aus hatte man einen atemberaubenden Blick über ganz Elysian, und von den kühlen Marmorbänken konnte Rhapsody nicht nur ihren gesamten Garten sehen, der sich auf den langen Schlaf des nahenden Winters vorbereitete, sondern auch die Hütte mit dem wuchernden Efeu, der sich allmählich zu einem düsteren Braun verfärbte, und in der Ferne den rauschenden Wasserfall, der stärker wurde, weil die Regenfälle die Bäche anschwellen ließen. Der See, der ihre geliebte Insel wie mit einer Umarmung umschloss, brodelte unter der Heftigkeit des herabstürzenden Wassers.

Zum ersten Mal dieses Jahr spürte Rhapsody Kälte in der Luft; der Winter nahte. Bald würde der Garten still sein, und die Vögel, welche einen Weg nach hier unten gefunden und in den Bäumen genistet hatten, würden wieder verschwinden. Das verborgene Paradies würde seine Farbenpracht einbüßen und sich zum Überwintern bereit machen. Rhapsody fragte sich, wie viel von dem Wärmeverlust in Land und Luft dem jährlichen Klimawechsel zuzuschreiben war und wie viel davon an dem verlöschenden Feuer in ihren Seelen lag, in denen die Liebe starb. Bald schon würde Elysian in seinen Winterschlaf versinken und dort, wo einst Pracht und Überfluss geherrscht hatten, würde es nur noch um die schlichte Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen gehen. Genau wie bei ihr selbst.

»Rhapsody?« Ashes Stimme holte sie aus ihrer Grübelei in die Wirklichkeit zurück. Sie blickte auf. »Ja? Oh, entschuldige. Was muss ich jetzt tun?«

Ashe setzte sich neben sie auf die Steinbank und streckte die Hand aus. In ihr lag eine gigantische Perle, wässrigweiß wie Milch, von opaleszentem Schwarz umgeben. »Das ist ein alter Kunstgegenstand aus dem Land deiner Geburt, das jetzt unter den Wogen des Ozeans liegt«, erklärte er mit ehrfürchtiger Stimme. »Früher hat die Perle die Geheimnisse des Meeres enthalten, und auch an Land ist ihr ein solches anvertraut worden. Benenne diese Perle, Rhapsody, und sag ihr, sie soll die Erinnerung an diese Nacht für dich aufbewahren, bis es für dich sicher ist, sie zurückzuerhalten.«

Rhapsody nahm die Perle in beide Hände. Obgleich sie porös aussah, war ihre Stärke zu spüren, undurchdringlich, Schicht um Schicht fest gewordener Tränen des Ozeans. Sie schloss die Augen und sang das Benennungslied, wobei sie die Melodie den Schwingungen der Perle anpasste, bis sie vollkommen übereinstimmten.

Dann schlug sie die Augen wieder auf. Die Perle hatte zu schimmern begonnen, und ihr Licht erfüllte die Laube. Sie war durchsichtig, und in ihrer Mitte befand sich der hellste Punkt, der durch die nun erkennbar gewordenen Schichten hindurchschimmerte. In das Lied flocht Rhapsody den Befehl, um den Ashe sie gebeten hatte: dass die Erinnerung an den verbleibenden Rest der Nacht in der Perle aufbewahrt werden sollte. Als das Lied zu Ende war, gab Rhapsody die schimmernde Perle zurück. Ashe erhob sich von der Bank, ging zu dem leeren goldenen Käfig und legte die Perle hinein. Dann setzte er sich wieder neben Rhapsody und nahm ihre Hände, aber ehe er etwas sagen konnte, hielt sie ihn auf.

»Warte einen Augenblick, bitte, Ashe«, sagte Rhapsody. »Ehe du mir irgendetwas erzählst, möchte ich dich noch ein letztes Mal anschauen.« Ihre Augen musterten ihn durchdringend, nahmen seinen Blick in sich auf, die Umrisse seines Gesichts, die Farbe seines Haars, sein Äußeres in der hübschen Seemannsuniform mit dem dazugehörigen Umhang. Dann schloss sie die Augen und atmete tief, während sie versuchte, seinen Duft einzusaugen, die Art, wie er die ihn umgebende Luft formte. Sie zeichnete sozusagen ein Bild von ihm, das ein Leben lang Bestand haben musste. Schließlich senkte sie die Augen.

»In Ordnung«, sagte sie. »Ich bin bereit.«

»Sehr gut«, meinte Ashe mit einem nervösen Lächeln. »Rhapsody, was ich dir zu sagen habe, ist nicht angenehm für mich, und du wirst es auch nicht hören wollen. Ehe wir uns an die Arbeit machen, habe ich noch ein letztes Anliegen. Bitte hör mich an.«

»Selbstverständlich. Worum geht es denn?«

Er holte tief Atem; seine Stimme klang sanft. »Aria, ich weiß, dass du mir nie eine Bitte abgeschlagen hast, und du hast mir so oft deine Gunst gewährt, dass es unglaublich erscheint, wenn ich mich mit einem weiteren Anliegen an dich wende, aber ich muss es tun. Es ist das Wichtigste, um das ich dich jemals bitten werde, sowohl für mich als auch, mit ein wenig Glück, für das cymrische Volk. Wirst du es in Erwägung ziehen, bitte?«

Rhapsody sah ihm in die Augen; sie glänzten, und er schien den Tränen nahe. Die Sternformationen, welche die seltsamen vertikalen Pupillen umgaben, glühten intensiver, als sie es je gesehen hatte. Sie schloss die Augen und prägte das Bild für immer in ihr Gedächtnis ein. In den einsamsten Nächten ihres restlichen Lebens würde sie sich ihn so vorstellen, wie er jetzt gerade aussah. Sie wusste, dass die Erinnerung ihr Trost spenden würde.

»Natürlich, natürlich werde ich deine Bitte in Erwägung ziehen«, antwortete sie und drückte seine Hände. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich immer dein Freund und Verbündeter sein werde, Ashe. Du kannst mich um alles bitten, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen.«

Er lächelte, drehte ihre Hand in seiner um und küsste sie. »Versprochen?«

»Ja.«

»Gut. Dann heirate mich.« Seine Worte waren aus seinem Mund, noch bevor sein Knie den Boden vor ihr berührte.

»Das ist nicht komisch, Ashe«, sagte Rhapsody ärgerlich. »Steh auf. Worum geht es denn wirklich?«

»Entschuldige, Rhapsody, aber das ist meine Bitte. Von Anfang an ist sie das gewesen. Ich habe keine Witze darüber gemacht oder mit dir darüber gestritten oder das Thema auch nur angeschnitten, bis ich sicher war, dass du mir unvoreingenommen zuhörst, denn ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so ernst gemeint.« Er sah, wie sie blass wurde, ergriff wieder ihre Hände und preschte weiter vor, denn er wollte nicht, dass sie ihm jetzt schon eine Antwort gab.

»Ich weiß, dass du lange in dem von meinem Vater kräftig unterstützten Glauben gelebt hast, dass es eine Hierarchie gibt, zu der du deiner Herkunft wegen nicht gehörst, und dass dies irgendwie ein guter Grund ist, uns das Glück zu verweigern und dem cymrischen Volk die beste Königin vorzuenthalten, die es sich wünschen könnte. Aria, das ist nicht wahr. Die Cymrer haben vielleicht ein Familienerbrecht, aber sie sind ein freies Volk. Sie können bei dem Rat, der einberufen wird, um einen König zu krönen, jeden bestätigen oder ablehnen, der ihnen beliebt.

Ich habe keine Ahnung, ob sie mich nicht sowieso hochkant hinauswerfen, aber dann bauen wir eben zusammen die schönste Ziegenhütte, welche die Welt je gesehen hat, und unsere Tage werden gesegnet sein mit Ruhe und Frieden Vielleicht wirst du dich auch dafür entscheiden, am Hof der Lirin zu regieren, denn ich weiß, dass die Lirin sich eben das von dir wünschen werden. Dann werde ich dein ergebener Diener sein, dir nach einem Tag auf diesem unbequemen Thron Hals und Rücken massieren und dich unterstützen, wo ich nur kann, als dein treuer Gatte.

Ich weiß nur, dass ich nicht mehr ohne dich leben kann. Ich meine das nicht als blumige Schmeichelei, sondern wörtlich. Du bist mein Schatz. Bestimmt weißt du ja, was das für einen Drachen bedeutet. Ich darf nicht einmal daran denken, wie es wäre, dich zu verlieren, aus Angst, dass meine zweite Natur die Oberhand gewinnt und das Land in Schutt und Asche legt. Bitte, Rhapsody, bitte heirate mich. Ich weiß, dass ich dich nicht verdiene aber du liebst mich, das weiß ich, und ich vertraue auf diese Liebe. Ich würde alles darum geben ...«

»Hör auf, bitte«, flüsterte Rhapsody. Tränen strömten über ihr Gesicht, und ihre Hände zitterten heftig.

Ashe schwieg. Der Schock auf ihrem Gesicht war so überdeutlich, dass er im ersten Moment nur staunte. Aber dann spürte er, wie sehr ihre Reaktion ihn verletzte. »Ist der Gedanke, mich zu heiraten, denn so grässlich, Rhapsody? Habe ich dich so erschreckt, dass ...«

»Hör auf«, wiederholte sie, und ihre Stimme war voller Schmerz. »Natürlich nicht, es ist schrecklich von dir, so etwas zu sagen.« Sie begann zu schluchzen und vergrub das Gesicht in den Händen.

Ashe schloss sie in die Arme und hielt sie fest, bis der Ansturm der Tränen verebbte; dann zog er ein leinenes Taschentuch aus der Brusttasche und reichte es ihr.

»Wahrscheinlich brauche ich dir nicht zu sagen, dass das nicht gerade die Reaktion ist, die ich mir erhofft habe«, meinte er, während er ihr zusah, wie sie sich die Augen trocknete. Seine Stimme klang ganz locker, aber sein Blick war besorgt.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte sie und gab ihm sein Taschentuch zurück. »Das war auch nicht gerade die Frage, die ich erwartet habe.«

»Das kann ich mir denken«, erwiderte er, umfasste ihr Kinn und hob ihr Gesicht ein wenig an, damit er ihr in die Augen sehen konnte. »Und es tut mir Leid. Aber ich wollte dich nicht länger in dem Glauben lassen, dass ich es auch nur in Erwägung ziehen könnte, eine andere zu heiraten. Ich bin nicht zu allem bereit, was mein Vater und die Verantwortung der Regentschaft von mir verlangen, es gibt eine Grenze. Aber meine Liebe zu dir hat keine Grenzen, sie wird immer die Oberhand behalten. Und obwohl du von dieser Nacht keine bewusste Erinnerung haben wirst, hoffe ich, dass du dich ganz tief in deinem Innern an meine Bitte erinnern wirst und nicht mehr die Verzweiflung fühlst, die wir beide jetzt teilen. Aria, keiner dieser Menschen, nichts, spielt für mich wirklich eine Rolle. Denke einmal in deinem Leben an dich. Triff die Entscheidung, die dich glücklich macht. Natürlich kann ich nicht entscheiden, welche das sein mag. Ich weiß nur, dass ich dich unbeschreiblich liebe und dass ich dein Glück zu meinem Lebensziel machen möchte. Es wäre für mich die größte Freude meines Lebens, wenn du meine Frau werden würdest. Bitte vergiss alles andere, was ich gesagt habe, und gib mir eine Antwort, nicht als das, was ich dir sonst noch zu sein scheine, sondern als dem Mann, der dich über alles liebt.«

In seiner Stimme lag eine Schlichtheit, eine Klarheit, die den Berg ihrer Gegenargumente aushöhlte und ihr die Entscheidung klar vor die Füße legte.

Mit neuen Augen blickte sie zu ihm auf, ohne die Tränen, die alles zum Verschwimmen brachten. Es war, als hätte er ihr den Weg durch einen dunklen Wald gezeigt, einen Weg, den sie verloren hatte, seit die drei in dieses Land gekommen waren, ein verdrehtes Land, kompliziert durch die Pläne und Erwartungen anderer, diktiert von deren Bedürfnissen und Vorurteilen. Und auch von ihren eigenen; von Anfang an war Rhapsody davon ausgegangen, dass es für sie und Ashe aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft keine Zukunft gäbe, aber Ashe hatte das Thema vermieden und sich geweigert, darüber zu diskutieren. Jetzt erkannte Rhapsody, dass sie die ganze Zeit schon gewusst hatte, was sie wollte, und nur gewartet hatte, bis sie sicher war, dass sie ihn liebte, ehe sie die Sache auf den Tisch brachte. Während er die Tränenspuren von ihrem Gesicht wischte, dachte Rhapsody an ein Gespräch mit ihrem Vater, nicht lange, bevor sie von zu Hause weggelaufen war. Wie ist es gekommen, dass die Leute ihre Meinung über unsere Familie geändert haben? Und warum bist du im Dorf geblieben, obwohl Mama so schlecht gelitten war?

Im Gedächtnis sah sie sein Gesicht vor sich, die Falten um die Augen, sah, wie er die Holzschnitzerei polierte, an der er arbeitete, unfähig, untätig zu bleiben. Wenn du in deinem Leben findest, was dir wichtiger und teurer ist als alles andere, bist du es dir schuldig, dass du daran festhältst. Einen solchen Fund machst du kein zweites Mal, mein Kind. Lass dich durch nichts davon abbringen. Auf lange Sicht werden dir auch die Leute zustimmen, die dir anfangs etwas anderes einzureden versucht haben. Finde das, was wirklich zählt alles andere ergibt sich von selbst.

Einst hatte die Erinnerung ihr Weisheit in Bezug auf ihre Loyalität geschenkt. Nun blickte sie in Ashes Augen und wusste abermals, was ihr Vater gemeint hatte. Es war, als fiele ein schwerer Mantel von den Schultern, die jammernden Stimmen in ihren Ohren verstummten, und zurück blieb nur das Lied eines einzigen Mannes, des Mannes, der ihr ganzes Herz erobert hatte. Er bot ihr an, sie aus dem Wald zu führen, so sicher und zuverlässig, wie er ihr den Weg zu Elynsynos’ Drachenhöhle oder nach Tyrian gezeigt hatte. Und sie wollte ihm folgen, um jeden Preis.

»Ja«, sagte sie, und ihre Stimme war ganz leise, kaum hörbar, wegen der Tränen, die ihr die Kehle zuschnürten. Unzufrieden damit, hustete sie laut und sagte noch einmal: »Ja«, und dieses Mal war ihr Ton klarer und sicherer. Vor ihr verwandelte sich Ashes Miene, denn ihre Worte trieben ihm das Blut ins Gesicht und ließen seine Drachenaugen funkeln. Die grässliche Angst, die er unter seinem gelassenen Äußeren zu verbergen versucht hatte, löste sich auf, und Rhapsody sah, wie sich reine Freude in ihm ausbreitete.

»Ja!«, rief sie laut und fügte mit ihrem Wissen als Benennerin Worte hinzu, die ihre Entscheidung unwiderruflich machten. Der Klang erfüllte die Laube und hallte von den Felswänden wider, schwirrte über den See und tanzte im Wasserfall lachte, als er sich über den Rand ergoss. Mit dem wirbelnden Echo entstanden Wärme und Licht; wie ein Komet, der durch die Höhle sauste, blitzte Rhapsodys Ja durch die Luft und erleuchtete die Höhle mit einem Strahlen wie von tausend Sternschnuppen. Der Klang sammelte noch andere Harmonien auf, während die berührten Stellen ihre Antwort bestätigten, und ein Lied füllte die Luft um sie herum, ein Lied der Freude.

Die Feuer von Elysian loderten zustimmend auf, und das Gras, das im Schlaf trocken und steif geworden war, wurde wieder grün, als hätte die Hand des Frühlings es berührt. Die Blumen in Rhapsodys Garten hielten ihr letztes Strahlen fest und blühten zusammen mit den roten Winterblumen, die ihren Tisch geschmückt hatten. Als der Licht-Ton sie berührte, nahm er ihre Farben in sich auf und schleuderte sie zum Himmel empor, und sie explodierten in einem funkelnden Feuerwerk, als sie an die Kuppel des Firmaments stießen. Staunend beobachtete Ashe das Schauspiel, dann blickte er in ihr Gesicht, das ebenfalls gen Himmel gewandt war, und das Schauspiel der Farbschwingungen über ihnen schimmerte in ihren wunderschönen Augen.

»Du liebe Zeit«, lachte er. »Bist du auch wirklich sicher?«

Rhapsody stimmte in sein Lachen mit ein, und die Heiterkeit befreite sie von dem bedrückenden Gefühl von Pflicht und Einsamkeit, unter dem sie so lange gelitten hatte. Wie ein Glockenspiel in einer kräftigen Brise, so ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf; der Klang ihres Lachens gesellte sich zum Klang ihrer Zustimmung und füllte die Höhle mit einer Musik, wie sie hier noch nie gehört worden war.

Ashe umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und betrachtete es in all seiner Fröhlichkeit; dieses Bild brannte er fest in sein Gedächtnis ein. Er würde es brauchen, um das zu bewältigen, was ihm bevorstand, das wusste er. Dann beugte er sich über sie, berührte ihre Lippen mit den seinen und küsste sie so zärtlich, dass er erneut die Tränen in ihr aufsteigen fühlte.

So standen sie da, verloren ineinander und in die Leidenschaft des Kusses, bis das Licht langsam verlöschte und die Musik verstummte, bis nur noch ein einzelner Ton zurücktrieb, der irgendwann leiser wurde und endlich ganz erstarb. Als die Wärme aus der Luft verschwand, zog sich Rhapsody von ihm zurück und blickte zu ihm auf. Inzwischen hatte sich das Feuer in ihren Augen beruhigt, doch eine stille Zufriedenheit lag nun in ihnen, die ihn erzittern ließ.

»Ja, ich bin sicher«, antwortete sie schlicht auf seine Frage. Nun nahm er sie wieder in die Arme und hielt sie so fest er konnte. Diesen Augenblick wollte er für immer in seinem Herzen bewahren, die Magie, die notwendig war, um das zu überleben, was er ihr nun zu sagen hatte.

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