34

Achmed kniete bereits auf dem Boden und untersuchte die Großmutter, als Rhapsody die Augen öffnete.

Das Mädchen schlief noch immer; kristallklare Schweißperlen bedeckten ihre Stirn wie Regentropfen, als hätte sie gerade ein heftiges Unwetter überstanden. Doch sie atmete frei und bewegte sich nicht.

Als Rhapsody sich vergewissert hatte, dass sie sich für den Augenblick um das Mädchen keine Sorgen zu machen brauchte, rannte sie hinüber zu Grunthor, der flach am Boden lag. Sie half ihm, sich aufzusetzen, und untersuchte ihn. Er presste die Hände an den Kopf.

»Da kommt etwas«, brummte er. Seine Augen waren glasig, er atmete flach.

»Was, Grunthor? Was kommt?«

Der Riese brummte weiter und verlor zusehends die Orientierung. »Es kommt; es hatte innegehalten, aber jetzt ist es wieder unterwegs. Etwas ... etwas kommt.« Rhapsody fühlte, wie sein riesiges Herz raste, so heftig, dass es ihr Angst machte.

»Grunthor, komm zurück«, flüsterte sie. Sie sprach seinen wahren Namen, eine seltsame Kombination aus pfeifenden Knurr und Knacklauten, gefolgt von den Benennungen, die sie ihm vor langer Zeit gegeben hatte, als sie durch das Feuer im Zentrum der Erde gegangen waren. Spross des Sandes unter freiem Himmel, Sohn der Höhlen and der finsteren Lande, sang sie leise. Bengard. Firbolg. Sergeant Major. Mein Spieß, mein Beschützer. Herr der tödlichen Waffen. Dero untertänigst zu gehorchender Autorität. Grunthors Augen klärten sich und richteten sich auf sie. »Schon gut, Schätzchen«, sagte er benommen und schob unbeholfen ihre Hand weg. »Mir geht’s schon wieder gut. Kümmre dich um die Großmutter.«

»Mit ihr ist alles in Ordnung«, sagte Achmed von der anderen Seite des Katafalks aus. Einen Augenblick später erhob er sich und half dann der alten Frau beim Aufstehen. »Was ist geschehen?«

Die Großmutter schien wieder fest auf den Beinen zu stehen, behielt die Hand aber am Hals.

»Grüner Tod«, murmelte sie in all ihren drei Stimmen. »Unreiner Tod.«

»Was bedeutet das, Großmutter?«, fragte Rhapsody leise.

»Ich weiß es nicht. In ihren Träumen werden diese Worte ständig wiederholt. Auf einmal konnte ich sie hören, und nun kann ich die Stimme nicht mehr zum Schweigen bringen.« Die Hand der alten Frau zitterte, und Achmed nahm sie behutsam zwischen seine. »Es war, als hätte dein Lied sie aus ihren Gedanken geholt und diese auf mich übertragen.« Die seltsamen Augen der Großmutter funkelten nervös im Halbdunkel. »Dafür danke ich dir, Himmelskind. Wenigstens weiß ich jetzt, was das Mädchen quält, auch wenn ich es nicht verstehe. Grüner Tod, unreiner Tod.«

»Sie träumt auch von etwas, das kommt«, fügte Grunthor hinzu. Er nahm das Tuch, das Rhapsody ihm hinhielt, und wischte sich die verschwitzte Stirn trocken.

»Hast du irgendeine Ahnung, was das sein könnte?«, fragte Achmed. Der Riese schüttelte den Kopf.

»Es tut mir so Leid«, wandte sich Rhapsody an beide. »Ich fürchte, ich bin für eure Visionen verantwortlich. Ich habe daran gedacht, wie du gesagt hast, du würdest gern meine schlimmsten Albträume auf dich nehmen, Grunthor. Vielleicht habe ich euch beide unabsichtlich dazu verurteilt, dies auch für sie zu tun.«

»Wenn du es getan hast, dann nur, weil wir beide dazu bereit waren«, sagte die Großmutter. Sie beugte sich vor, küsste das Schlafende Kind und wischte dem Mädchen die Feuchtigkeit von der Stirn. »Jetzt schläft sie wieder friedlich, wenigstens im Augenblick.« Mit einer letzten Liebkosung richtete sich die Großmutter wieder zu ihrer vollen Größe auf.

»Kommt.«

Auch Rhapsody beugte sich hinab und küsste die Stirn des Schlafenden Kindes. »Deine Mutter Erde hat so viele schöne Kleider«, flüsterte sie in das steingraue Ohr. »Ich werde versuchen, ein Lied für dich zu schreiben, dass auch du sie sehen kannst.«

Die Inschrift auf dem Bogen über der Kammer des Schlafenden Kindes leuchtete, als das Fackellicht über sie hinweghuschte. Ruß und bröckliger Schutt hatten die Kerben im Lauf der Jahrhunderte allmählich aufgefüllt.

»Wie lautet diese Inschrift?«, fragte Rhapsody.

Die Großmutter steckte die Hände in die Ärmel ihres Gewandes. ›»Lass das, was in der Erde schläft, ruhen; sein Erwachen kündet von ewiger Nacht‹«, antwortete sie. Rhapsody wandte sich an Achmed. »Was denkst du, worauf sich dieser Satz bezieht?«

Seine ungleichen Augen verdunkelten sich im Dämmerlicht des Felsengangs. »Ich denke, das hast du selbst schon gesehen.«

Sie nickte. »Ja. Ich glaube, du hast Recht, aber nur teilweise.«

»Erklär uns das.«

»Offenbar taucht in mehr als einem Mythos eine Gestalt auf, die man als Schlafendes Kind bezeichnet«, sagte sie. »Im serenischen Sagenschatz gab es den Stern, der unter den Wellen vor der Küste von Serendair schlief. Ich glaube, wir wissen, wie treffend die Prophezeiung die Folgen seines Erwachens vorausgesagt hat. Dann gab es noch« sie zuckte unter Achmeds durchdringendem Blick zusammen »dann gab es noch das, was wir auf unserer Reise hierher gesehen haben, das, was die Drachen das Schlafende Kind nennen. Wenn dieses erwacht, hätte das noch weiter reichende Folgen.

Und nun haben wir das Erdenkind, das hier in dieser Kammer schläft. Mir scheint, dass die Prophezeiung der Dhrakier, wenn es sich bei dieser Inschrift denn darum handelt, vor folgenschweren Katastrophen warnt, falls das Kind erwachen sollte.« Rhapsody starrte in die nun wieder ganz dunkle Kammer.

»Wenn wir sie von ihren Albträumen befreien, können wir vielleicht dafür sorgen, dass sie weiterschläft«, meinte Achmed.

Doch die Großmutter wandte sich unvermittelt um und trat in den Schatten des Ganges, der zu der riesigen zylinderförmigen Höhle führte, und ihre Worte hallten in dem hohlen Korridor wider.

»Kommt.«

Das gigantische Pendel schwang durch die Höhle und kreuzte bei jedem Schwung den Kreis auf der Steinplatte. In der Dunkelheit sah Rhapsody das Gewicht am Ende der Spinnenseide glitzern.

»Was ist das für ein Gewicht, das an dem Pendel hängt?«, fragte sie, und ihre Stimme klang schwer im sandigen, toten Wind.

»Das ist ein Diamant aus Lorthlagh, dem Land jenseits des Riffs, dem Geburtsort unserer Rasse«, antwortete die Großmutter. Ihr schwerer Umhang bewegte sich in der abgestandenen Luft. »Er ist ein Gefängnis; in ihm wird ein Dämonengeist gefangen gehalten, aus dem Kampf, in dem das Schlafende Kind verwundet wurde. Wenn man es richtig anstellt, kann ein sehr reiner und großer Diamant einen Dämon festhalten, wenn auch nicht so gut wie Lebendiger Stein. Allerdings müssen es spezielle Diamanten sein, die man nur an Orten findet, wo Sternstücke auf die Erde gefallen sind und ätherische Kristalle hinterlassen haben. Diese Kristalle stammen aus einer Zeit vor der Entstehung der Erde, ehe das Feuer geboren wurde sie sind älter als alle anderen Elemente mit Ausnahme des Äthers. Ihre Macht ist größer als die des F’dor.«

Wie als düstere Antwort blitzte das Gewicht des Pendels auf. Ein roter Blitz huschte über die Höhlenwände und verschwand wieder.

»Der Reinheitsdiamant, von dem Oelendra dir erzählt hat, muss ein ebensolcher Kristall gewesen sein«, meinte Achmed. »Klingt so, als wäre er groß genug, um sogar den stärksten Dämonengeist gefangen zu halten.«

»Kein Wunder, dass der F’dor ihn zerstört haben wollte«, bemerkte Grunthor.

»Warum hängt man so einen wertvollen und potenziell gefährlichen Gegenstand über einen endlosen Abgrund?«, fragte Rhapsody und starrte in die kreisförmige Kluft, welche die flache Formation in der Mitte umgab. »Wird das Risiko nicht größer, dass der Diamant verloren ist, wenn das Seil reißt?«

Die Schwingung der Großmutter wurde intensiver, und die drei Freunde spürten ein Jucken auf der Haut.

»Was ihr vor euch seht, ist die Macht der Winde«, erwiderte sie. »Um dieses Felspodest sind sie geknotet, alle vier, die oben wehen deshalb wurde hier auch das Bannen gelehrt. An diesem Ort sind sie verankert und sorgen dafür, dass das Pendel im Rhythmus der Erdumdrehung schwingt, sodass der Diamant sicherer ist als irgendwo sonst in den Bergen.«

Wieder wandte sie sich an Achmed. »Wenn du das Ritual lernst, werden diese Winde deine Lehrer sein.« Damit deutete sie auf die baufällige Brücke, die den Abgrund überspannte.

»Folgt mir zum Kreis der Lieder, dann zeige ich euch, was über euch geschrieben steht. Euer Schicksal. Wenn ihr es leugnen wollt, dann solltet ihr euch besser gleich in die Tiefe stürzen.«

Die Matriarchin ignorierte den Blick, den die drei austauschten, als sie auf die Brücke trat, dem böigen Wind trotzend.

»Warum nennt man diese Stelle den Kreis der Lieder?«

Vorsichtig ging Rhapsody um das im Boden eingelassene Muster herum und achtete dabei darauf, dass sie nicht in die Bahn des Pendels geriet. Zwar erkannte sie die Symbole der vier Winde, aber keine der sonstigen Inschriften, obwohl ihr klar war, dass sie teilweise eine alte Uhr darstellen sollten.

Schweigend starrte die Großmutter hinauf in die Stille der endlosen Höhle, als schaute sie in die Vergangenheit. Eine ganze Weile ließ sie die Frage der Sängerin schwer in der staubigen Luft hängen, während ihre schwarzen Augen die uralten Gänge absuchten, die jetzt nichts weiter waren als leere Löcher in dem, was einst das Herz einer großen Zivilisation gewesen war. Endlich hob sie an zu sprechen.

»Die Lirin sind die Nachfahren der Kith und der Seren, Kinder des Winds und der Sterne. Die Dhrakier sind nur vom Wind gezeugt; wir Zhereditck stammen direkt von den Kith ab, doch wegen unserer Gewissenhaftigkeit und unseres Durchhaltevermögens wurden wir dazu erkoren, die Oberwelt zu verlassen und in der Erde zu leben, um die F’dor für alle Zeiten zu bewachen. Erst als dieser Kerker aufgebrochen wurde, kamen wir wieder in die Oberwelt und schlössen uns der großen Jagd an, um jene Dämonen, die entflohen waren, zu finden und zu zerstören. Doch unsere Wurzeln waren im Wind, nicht in der Erde.«

Endlich riss die alte Frau ihren Blick von dem weit über ihr aufragenden Bauwerk los und konzentrierte ihn stattdessen auf die alte Steinbrücke, die ihren Standort mit dem Rest der Kolonie verband.

»Wir hörten die Schwingungen in der Musik des Windes, genau wie dein Volk. Aber wir reagieren noch empfänglicher auf solche Botschaften als du, Himmelskind. Es war das größte Opfer, das wir gebracht haben uns vom Wind zu trennen, um unter die Erde zu gehen. Einige, die wie ich später geboren sind, haben ihn nie gekannt, ihn nie auf ihrer Haut gespürt, frei von den Fesseln der Erde, die uns umgibt. Diese Trennung hat von uns einen hohen Preis gefordert; sie verweigerte uns die Gegenwart, die Fähigkeit festzustellen, was auf der Welt vor sich ging, im Leben um und über uns. Wir lebten in Dunkelheit, ohne Wissen außer einem.

Genau wie ein Mitglied der Kolonie von Geburt an dazu erzogen wurde, Matriarchin zu werden, so wurde auch ein Zephyr auserwählt, unser Prophet. Im Allgemeinen wurden die Kandidaten aufgrund der Empfindsamkeit ihrer Hautnetze ausgewählt und aufgrund ihrer Fähigkeit, den Wind zu schmecken, seine Schwingungen aufzunehmen und seine verborgene Weisheit zu verstehen. Denn der Wind ist zwar ein flüchtiger Bewahrer des Wissens, aber dennoch ein vielfältiger, und man kann viel lernen, wenn man ihm zuhört. Hast du den Wind sprechen gehört, Himmelskind? Hast du seinem Singen gelauscht?«

»Ja«, antwortete Rhapsody. »Und dem von Erde und Meer ebenfalls. Auch das Lied des Feuers habe ich vernommen, Großmutter, und obgleich Ihr vorhin meintet, dass die Sterne ihr Wissen nicht preisgeben, kann ich Euch versichern, dass sie singen; sie teilen ihre Weisheit denjenigen mit, die ihre Bahn am Himmel beobachten. So lautete der Glaube des Volks meiner Mutter es ist der Grund, aus dem die Liringlas beim Aufgang der Sonne und der Sterne ihre Gebete singen.«

»Und all diese Schwingungen, ganz gleich, welchem uralten Wissen sie entstammen, werden vom Wind davongetragen«, sagte die Großmutter. »Der Zephyr konnte sie hören, sogar unter der Erde, hier im Kreis der Lieder. Hoch oben gibt es eine hohle Struktur, die einem der Berggipfel ähnelt, durch die der Wind in die Erde hinuntergreift, hierher. Er tanzt um diesen flachen Felsvorsprung und bildet einen Luftkorridor, der zufällige Schwingungen von der Oberwelt mit sich bringt. Der Wind singt; sein heiliges Lied war der Lobgesang der Brüder. Wenn der Zephyr das Lied hörte, überbrachte er die Neuigkeiten, die er erfuhr, dem Rest der Kolonie. So konnten die Zhereditck den Kontakt zur Oberwelt weiterhin aufrechterhalten, obgleich sie nicht mehr Teil von ihr waren.

Aus diesen Schwingungszeichen erwarb der Zephyr nicht nur Wissen über das, was oben geschah, manchmal konnte er oder sie auch erkennen, was die Zukunft bringen würde. Doch solche Prophezeiungen waren äußerst selten genau genommen kenne ich nur eine einzige. Ihr steht jetzt auf ihr.«

Die drei blickten auf die Worte, die das in den Steinboden eingelegte Muster umgaben. Achmed bückte sich und berührte nachdenklich die Buchstaben.

»Der Wind, der diese Prophezeiung brachte, war heiß und heftig, und er kam von der anderen Seite der Welt«, fuhr die Großmutter fort. »Er trug Tod auf seinen Schwingen, Tod und Hoffnung. Das geschah vor vielen Jahrhunderten, nur eine kurze Zeit bevor die Erbauer kamen.«

Achmed fing Rhapsodys Blick auf und sah in ihren Augen den gleichen Gedanken, der auch ihm in den Sinn gekommen war. Bei der Erinnerung an den letzten Sklaven des Meisters zuckte er zusammen, den einen verbliebenen Shing, der ihm aus Serendair gefolgt war. Der einzige Überlebende von Tsoltans Tausend Augen hatte sehr leise gesprochen, ehe er verschwunden war.

Wo sind die anderen Augen?, hatte Rhapsody gefragt. Wo ist der Rest eurer Tausendschaft?

Verschwunden, hatte der sterbende Shing geantwortet, verglüht in der Hitze des Schlafenden Kindes und in alle Winde verstreut. Ich allein bin zurückgeblieben, habe den weiten Ozean überquert, um ihn zu suchen. Das ist mir geglückt.

In der Hitze des Schlafenden Kindes. Der Wind, der von der Zerstörung ihrer Inselheimat gesprochen hatte.

Der Wind, der ihr Kommen vorhergesagt hatte.

»Wie lautete die Prophezeiung?«, fragte Grunthor.

»Kannst du sie lesen?«, wandte sich die Großmutter an Achmed. »Irgendetwas davon?«

Achmed schüttelte verneinend den Kopf. »Dann müssen wir dich nicht nur im Bannritual unterweisen, sondern auch in der Sprache.« Nun bückte auch sie sich und berührte die Buchstaben.

Im Innern des Kreises der Vier wird stehen ein Kreis der

Drei

Kinder des Windes sie alle, und doch sind sie’s nicht, Der Jäger, der Nährer, der Heiler.

Furcht führt sie zueinander, Liebe hält sie zusammen, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksal: Der, welcher jagt, wird auch beschützen, Der, welcher nährt, wird auch verlassen, Der, welcher heilt, wird auch töten, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

Höre, o Letzter, auf den Wind:

Der Wind der Vergangenheit wird sie geleiten nach Haus

Der Wind der Erde wird sie tragen in die Sicherheit

Der Wind der Sterne wird ihr singen das Mutterlied,

das ihrer Seele am vertrautesten klingt,

Um das Kind vor dem Wind zu verbergen.

Von den Lippen des Schlafenden Kindes werden kommen

Worte von höchster Weisheit: Hüte dich vor dem Schlafwandler, Denn Blut wird das Mittel sein, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

»Blut wird das Mittel sein«, murmelte Rhapsody. »Mir gefällt das nicht. Wird hier am Ende ein Krieg vorhergesagt?«

»Nicht unbedingt«, entgegnete Achmed. »Obgleich ich denke, er wird unvermeidlich sein.«

»Wunderbar.«

»Was erwartest du, Rhapsody? Du kennst die Geschichte. Das Einzige, wonach der F’dor strebt, ist Zwietracht, Zerstörung, Chaos. Wo ist das besser zu finden als in einem Krieg?«

»Wenn wir ein wenig vom Blut des F’dor hätten, könntest du ihn dann aufspüren, Achmed? Wie du es auch in der Alten Welt gemacht hast? Das Blut des F’dor ist alt, möglicherweise bist du noch imstande, ihm deinen Herzschlag anzupassen.«

Die Augen des Bolg-Königs wurden stählern. »Wenn ich Blut von ihm hätte, würde ich ihn nicht aufspüren müssen«, knurrte er. »Dann wüssten wir nämlich, wer sein Wirt ist, da wir das Blut ja von ihm bekommen hätten.«

»Können wir es nicht dem Rakshas abnehmen?«, fragte Rhapsody. »Er wurde doch aus dem Blut des Dämons erschaffen.«

»Vermischt mit mehreren anderen, Blut von einem Wolf und auch von den Kindern, wenn ich mich nich irre«, mischte sich Grunthor ein und unterband damit eine weitere ungeduldige Bemerkung von Achmed. »Es müsste aber rein sein, Gnädigste, damit wir den Richtigen finden können.«

Wieder blickte Achmed nach oben, hinauf in die leere Höhle, die einst das Herz der Kolonie gewesen war, das Zentrum einer großen Zivilisation.

»Hör auf meine Worte, Rhapsody: Wenn wir herausfinden, wer der Wirt des Dämons ist, wird mehr Blut vergossen und in der Erde versickert sein, als du dir vorstellen kannst. Und wenn wir es nicht bald herausfinden, dann wird seine Flut die Ozeane füllen.«

Unruhig träumte Prudence in der Dunkelheit. Nachdem sie viele Stunden über das raue Land der Krevensfelder gereist waren, hatten sich die Straßenverhältnisse nun endlich ein wenig gebessert, und sie war in einen leichten Schlummer gefallen, den Kopf an die gepolsterte Rückenlehne ihres Sitzes gelehnt. Wahrscheinlich rettete sie nur diese Stütze vor einer Verletzung, als die Kutsche gegen ein Hindernis auf der Straße prallte und heftig von einer Seite auf die andere schwankte. Gerade als die Kutsche sich wieder einigermaßen aufgerichtet hatte, passierte es ein zweites Mal ein heftiger Stoß, ein Aufprall, die Kutsche wackelte und rollte langsam aus.

Voll Schrecken setzte Prudence sich auf; ihr Herz pochte wild. In der Nacht zuvor war Neumond gewesen, und so drang kein Licht durch den schweren Vorhang am Kutschenfenster. Prudence spitzte die Ohren, ob die kleine Jalousie zurückgezogen würde, aber nichts dergleichen geschah. Nur Stille, weiter nichts.

Eine Ewigkeit schien ihr vergangen zu sein, als die Wagentür sich öffnete.

»Alles in Ordnung bei Euch da drin, Fräulein?«

»Ja«, antwortete sie, viel lauter als beabsichtigt. »Was ist passiert?«

»Da lag etwas auf der Straße, und wir sind dagegen gefahren. Wartet, ich helfe Euch beim Aussteigen.«

Unsicher erhob sich Prudence und ergriff die Hand der Wache. Aus der Kutsche trat sie hinaus in die Dunkelheit, Pechschwarz und undurchdringlich in der schwülen Sommerluft. Sie drückte die Hand des Mannes, damit ihre eigene nicht mehr so zitterte.

»Was ist hier los?«

»Ich sehe mal nach«, versprach der Mann leise und wollte ihre Hand loslassen. Doch sie drückte seine umso fester. »Nein«, stieß sie hervor. Obwohl der Mann direkt neben ihr stand, konnte sie ihn nicht richtig sehen, und sie hatte Angst, ohne seine Nähe in der sternlosen schwarzen Leere endgültig verloren zu sein. »Nein, bitte nicht.«

»Wie Ihr wünscht, Fräulein, aber ich muss wirklich nachsehen.«

Prudence versuchte tief durchzuatmen, doch es gelang ihr nicht. »Nun gut«, entgegnete sie schließlich. »Dann gehe ich eben mit Euch.«

Der Mann drückte beruhigend ihre Hand und führte sie langsam über die steinige Straße zur Rückseite der Kutsche. Mit der freien Hand stützte Prudence sich zur Sicherheit an der Karosserie ab; am Rad hielt sie kurz inne. Unter den hölzernen Speichen, dort, wo die Räder den Boden berührten, hatte sich dunkles Regenwasser gesammelt, sodass der Boden hier ganz schlammig war. Vorsichtig überquerte sie die Pfütze und ging weiter, während ihr verschlafener Kopf sich daran zu erinnern versuchte, ob der Regen eingesetzt hatte, bevor oder nachdem sie eingedöst war. Doch als ihre Augen endlich klarer sahen, stockte ihr der Atem.

Auf der Straße hinter der Kutsche lag ein Haufen zerfetzter Kleider, der einmal der Körper eines Mannes gewesen war. Nicht weit dahinter erkannte sie ein ähnliches Bündel. Einen Aufschrei unterdrückend, packte Prudence die Hand des Wachmanns. Sie blickte auf ihre Schuhe herab, die dick mit Schlamm verschmiert waren und nun schrie sie doch, denn ihr wurde schlagartig klar, dass der Morast, durch den sie gegangen war, keine Pfütze war, sondern das mit Erde vermengte Blut der Leichen. Sie stolperte nach vorn, stieß mit der Wache zusammen, konnte aber die Augen nicht von dem entsetzlichen Anblick abwenden.

»Du lieber Allgott«, wisperte sie. »Wer ist das? Woher kommt er?«

Der Mann hinter ihr ließ ihre Hand los und umfasste beschwichtigend ihre Oberarme.

»Ich glaube, das ist Euer Kutscher, er ist vom Kutschbock gefallen.«

Die Worte hallten in Prudences Ohren nach und ergaben keinen Sinn. Von fern nahm sie eine Kälte in ihren Gliedern wahr, als das Blut aus ihnen wich und zu ihrem wie rasend klopfenden Herzen floss. Sie betrachtete die zweite Leiche, an deren zerknittertem Umhang notdürftig das silberne Symbol von Tristans Elitetruppe zu erkennen war.

Es war ihre Wache!

Die Zeit blieb stehen, und Prudence hielt krampfhaft die Luft an. Entschlossene Ruhe kämpfte mit ihrer Angst und gewann schließlich die Oberhand; so stand sie stocksteif in den Armen des Mannes, den sie für einen von Tristans Soldaten gehalten hatte. Einen Augenblick später lachte der Mann leise, dann legte er seine warmen Lippen dicht an ihr Ohr.

»Wenn es Euch gut tut, dann kann ich Euch versichern, dass sie schon tot waren, ehe sie den Boden berührten, und ganz bestimmt, ehe sie überrollt wurden. Sie haben nichts davon gespürt.«

Wieder fühlte Prudence die Panik in sich aufsteigen; sie wollte fliehen, aber der Mann hielt sie nur noch fester. Langsam drehte er sie um, sodass sie vor ihm stand, und sie merkte, dass sie in die Dunkelheit einer Kapuze starrte, grau und schwarz, fast unsichtbar vor dem nächtlichen Hintergrund.

Der Mann sagte nichts. In der Kapuze meinte Prudence das Funkeln blauer Augen zu erkennen, die mit einem beinahe besorgten Ausdruck auf sie herabblickten, doch dann wurde ihr klar, dass es nur die Reflexion ihrer eigenen Angsttränen war.

»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte.«

Nun ließ der Mann ihre rechte Schulter los und fuhr mit den Fingern sanft durch ihr Haar.

»Nun weine doch nicht, Rotschöpfchen«, sagte er, in fast wehmütigem Ton. »Es wäre doch schade, so ein hübsches Gesicht mit Tränen zu verschandeln.«

Auf einmal wurde ihr schwarz vor Augen. Rotschöpfchen. Hohl hallte das Wort in ihrem Gedächtnis wider, ein Name aus uralter Vergangenheit.

»Bitte«, flüsterte sie wieder. »Ich gebe Euch alles, was Ihr wollt.«

»Ja, ja, das wirst du«, erwiderte er tröstend. Ein letztes Mal strich seine Hand über ihr Haar, glitt dann zu ihrer Wange und liebkoste sie mit den Fingern. »Mehr als du denkst, Rotschöpfchen. Du wirst der Anfang sein, der Anfang von allem. Du wirst mir Tristan geben. Und Tristan wird mir alles geben, was ich will, so oder so.«

Ihr Magen bäumte sich auf. »Wer seid Ihr?«, stammelte sie. »Ich ... ich bin nur eine Dienerin. Ein Nichts in seinen Augen. Lasst mich gehen. Bitte. Bitte.«

Wieder war seine Hand in ihrem Haar und spielte sanft mit ihren Locken. Doch sein Griff war fest, und Prudence wusste, dass sie ihm nicht gewachsen war. Einen Augenblick schwieg der Mann in der Kapuze. Als er schließlich sprach, war seine Stimme voller Trauer.

»Die Zeit ist so knapp; du solltest sie nicht damit besudeln, dass du etwas abstreitest, was so offensichtlich ist wie seine Liebe zu dir, Prudence. Schon seit der Kindheit ist das sonnenklar. Auch wenn er ein selbstsüchtiger Geck ist, der seine Chance auf den Thron niemals dadurch aufs Spiel setzen würde, dass er dich heiratet.«

Nun verschwand der sanfte Ton, und etwas anderes trat an seine Stelle. »Ich bin niedergeschmettert, dass du das nicht mehr weißt, Rotschöpfchen. Ich erinnere mich noch sehr gut an dich. Zwar habe ich mich ziemlich stark verändert, aber das trifft auf dich durchaus auch zu.«

Als die Erinnerung an ihren Spitznamen zurückkehrte, wurde ihre Wahrnehmung für einen Atemzug kristallklar, ehe sie von neuem verschwamm. »Das kann nicht sein«, brachte sie mühsam hervor. »Du bist tot. Seit Jahren schon. So lange hat Tristan um dich getrauert. Unmöglich.«

»Nun, da hast du nicht ganz Unrecht«, meinte er scherzhaft. »Jedenfalls bin ich nicht richtig lebendig.«

Das kupferrote Haar schimmerte in der Dunkelheit. Er sah immer noch so aus wie vor all den Jahren, als er mit Tristan und seinem Cousin Stephen von Navarne lachend und wild umhergezogen war. Stephens bester Freund. Der Sohn des Fürbitters wie hieß er doch gleich?

Rotschöpfchen, so hatte er sie damals genannt. Hatte sie an den Locken gezupft und sich gefreut, dass sie beide rothaarig waren. Ihm war der Klassenunterschied zwischen ihnen auf eine Weise gleichgültig gewesen, wie es bei Tristan nie der Fall gewesen war. Netter Kerl, hatte sie damals zu Tristan gesagt, aber wenn er sich unbeobachtet glaubt, sieht er traurig aus, melancholisch. Endlich, scheinbar nach einer Ewigkeit, kam ihr der Name wieder in den Sinn.

»Gwydion. Gwydion, bitte komm mit mir nach Bethania zurück. Tristan wird dir ...«

»Tu das nicht«, unterbrach er sie sanft. »Das ist vergebliche Liebesmüh, Prudence, Ich habe ganz andere Pläne für dich.« In dem ansonsten passiven Gesicht glitzerten die Augen in nackter Erregung. Von fern war sich Prudence der Tränen bewusst, die ihr über die Wangen liefen, aber sie strengte sich an, mit ruhiger Stimme zu sprechen.

»In Ordnung«, sagte sie und setzte alles daran, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen.

»Nun gut. Aber nicht so, Gwydion. Lass mir einen Augenblick Zeit, um mich zu sammeln, und ich verspreche dir, das Warten wird sich für dich lohnen. Ich habe viel Erfahrung darin, wie man einen Mann zufrieden stellt. Aber bitte nicht hier. Ich schwöre dir ...«

»Mach dich nicht lächerlich«, entgegnete er mit amüsierter Stimme. »Bei aller Hochachtung für deine Reize etwas Derartiges habe ich nicht im Sinn. Momentan bin ich nicht ich selbst, Prudence. Auf diese Art nehme ich eine Frau nur, wenn sie einem anderen Zweck dient, als ich für dich beabsichtige. Und es ist ohnehin nicht meine Aufgabe; ich habe keinen freien Willen, ich befolge nur Befehle.«

Inzwischen hatte Prudence völlig die Kontrolle über ihren Körper verloren. Benommenheit breitete sich in ihr aus.

»Was willst du denn mit mir machen?«

Wieder lachte der Mann im Kapuzenumhang, dann zog sie an sich und legte wieder seine Lippen an ihr Ohr.

»Nun, Prudence, ich werde dich natürlich essen, ich werd mir dich auf der Zunge zergehen lassen. Dann trage ich deinen Kadaver nach Ylorc zurück und werfe ihn in den Großen Gerichtshof. Und wenn du mir keinen Ärger machst, dann werde ich unserer alten Freundschaft zuliebe dafür sorgen, dass du tot bist, ehe ich anfange.«

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