Die Dunkelheit in den unterirdischen Tunneln war so allgegenwärtig, dass sie die Großmutter vor sich, die sie tiefer in die Erde hineinführte, kaum zu sehen vermochten. Gelegentlich hörte Grunthor ein Rascheln ihres Gewandes oder ein Knirschen, wenn ihre bloßen Füße etwas auf dem Boden zertraten, aber im Großen und Ganzen bewegte sie sich lautlos und nahezu unsichtbar im Schein der ersterbenden Fackel.
Eben dieser Schein erhellte die Tunnelwände nur sehr dürftig, aber was sie erblickten, weckte in Achmed und Grunthor den Wunsch, sie würden langsamer gehen und hätten die Gelegenheit, sich genauer umzusehen. Anders als die von Grunthor ausgehobenen Gänge waren diese vor Jahrhunderten entstanden und trugen die Handschrift durchdachter architektonischer Planung, auch wenn diese ganz anders als die der Cymrer zu sein schien. Die Korridore waren glatt und ebenmäßig, geschmückt mit den Überresten uralter Reliefs, allesamt überzogen von einer dicken Schicht aus feuchtem Ruß und Asche, den Nebenprodukten der Schmieden, in denen Eisen geschmolzen wurde. So lange es auch her sein mochte, dass sie geplündert worden waren, blieb ihr Geruch dennoch erhalten und war inzwischen ein dauerhafter Bestandteil der steinernen Gänge mit ihrer abgestandenen Luft. Nach einer Weile öffnete sich der Tunnel vor ihnen in eine riesige Höhle. Die Basaltdecke war annähernd so hoch wie die des Loritoriums, aus der Erde selbst gehauen und poliert. Über dem Eingang zu einer tiefer in der Höhle gelegenen Kammer spannte sich ein immenser Torbogen, in den Worte eingemeißelt waren. Die Buchstaben, jeder so groß wie ein Mann, entstammten keiner den Firbolg bekannten Schrift. Die Höhlenwände waren ebenfalls von Rauch und Ruß geschwärzt. Von dieser Höhle zweigten Gänge in alle Richtungen ab.
Vor der Kammer blieb die Großmutter stehen und deutete mit ihrem langen, knochigen Finger auf die massive Inschrift des Bogens. »Lass das, was in der Erde ruht, ungestört schlafen; sein Erwachen kündet von ewiger Nacht«, übersetzte sie. Wieder sprach sie wortlos mit zwei verschiedenen Stimmen. Grunthor und Achmed schauderte es innerlich, als sie an ihre Reise entlang der Axis Mundi denken mussten. Auch sie hatten etwas gesehen, was tief in der Erde schlummerte, und sie pflichteten der Bedeutung der hier eingemeißelten Worte von Herzen bei.
Wieder faltete die Großmutter die Hände und beäugte die beiden Fremdlinge voller Ernst.
»Dieser Ort wurde in seiner Zeit als Kolonie bezeichnet«, erklärte sie in ihrer zischenden und schnalzenden Sprache ohne Worte. »Vor dem Ende war es ein Stadtstaat aus Dhrakiern. Löscht eure Fackel. Ich werde euch jetzt zeigen, warum meine Ahnen die Kolonie an dieser Stelle gebaut haben.«
Achmed warf die Überreste der Fackel auf den Boden und trat das letzte Fünkchen aus. Eine Wolke schwarzen Rauchs stieg in der Höhle empor und löste sich einen Atemzug später wieder auf. Die Großmutter wandte sich um und betrat die Kammer hinter der Inschrift. Die Männer folgten ihr in die tiefer werdende Dunkelheit.
Selbst Achmeds empfindliche Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die in der Kammer so dick und fühlbar war wie flüssige Nacht. Gerade als er sich einigermaßen zurechtfand, schlug die Großmutter etwas gegen die Wand und entzündete winzige Lichtfunken. Achmed sah, dass sie einen Pilz in der Hand hielt, ähnlich wie die schwammartigen Gebilde, die sie auf ihrer Reise auf der Wurzel gefunden hatten und die Helligkeit verströmten, wenn man sie rieb. Die Lichtquelle brachte ihn durcheinander, und seine Augen mussten sich wiederum an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen.
Die alte Dhrakier-Frau stieg eine Treppe zu einem Erdbrocken empor und griff nach etwas hoch über ihren Köpfen; dann ging sie weiter, während sich das Licht von dem Pilzschwamm ausbreitete. Bald schon erkannten Achmed und Grunthor, dass sie ihn in eine kleine Laterne gelegt hatte, eine Kugel gedämpften Lichts, die von der Decke der Kammer herabhing. In ihrem Schein konnten sie nun endlich die Ausmaße des Raums ausmachen. Er hatte drei Seiten und einen mit massiven Eisentüren gesicherten Eingang, der zu der Höhle führte, aus der sie soeben gekommen waren. Die blanken Wände liefen schräg auf einen Punkt zu, von dem an einer langen, schwarz angelaufenen Kette die Lichtkugel herabhing. Unter dieser Lampe stand ein großer Obsidian-Katafalk, eine Plattform wie für einen Sarg, und tatsächlich schien ein Körper auf dem Katafalk aufgebahrt zu sein. Achmed und Grunthor traten näher heran.
Derartiges wie die schlafende Gestalt, die hier ruhte, hatten sie noch nie gesehen. Während ihr Körper so groß war wie der eines erwachsenen Menschen, hatte sie dennoch das Gesicht eines Kindes, die Haut kalt und grau schimmernd, als wäre sie aus Stein gehauen. Ohne das bedächtige Heben und Senken ihrer Brust hätte sie wirklich wie eine Statue gewirkt. Unter der Oberfläche der dünnen Haut war ihr Fleisch dunkler, in gedämpften Braun und Grünschattierungen und purpurn und dunkelrot, verflochten wie dünne Tonstränge. Ihre Züge waren zugleich grob und glatt, als wäre ihr Gesicht mit stumpfen Werkzeugen gehauen und dann sorgfältig ein Leben lang poliert worden. Unterhalb ihrer knöchernen Stirn waren Augenbrauen wie aus getrockneten Grashalmen, dazu passend die Wimpern und das lange, grobe Haar. Im schwachen Licht ähnelten die Flechten Weizenähren oder gebleichtem Heu, gleichmäßig geschnitten und zu feinen Garben gebunden. An der Kopfhaut sprossen die Haare grün wie junges Frühlingsgras.
»Sie ist ein Kind der Erde, geformt aus Lebendigem Stein«, erklärte die Großmutter leise, und sie spürten den sanften Rhythmus ihrer eigentümlichen Sprache eher auf der Haut als in den Ohren. »Bei Tag und Nacht, all die wechselnden Jahreszeiten hindurch, schläft sie. Sie war schon hier, bevor ich geboren wurde. Ich habe geschworen, sie zu beschützen bis zu meinem eigenen Tod.« Sie blickte auf, und ihre schwarzen ovalen Augen strahlten. »Und das müsst ihr nun ebenso tun.«
Die alte Frau ließ die Finger kurz auf der Stirn des Mädchens ruhen, dann erklomm sie die Stufen neben dem Katafalk und löschte das Licht. »Kommt«, sagte sie und verließ die Kammer. Die beiden Bolg starrten in das steinerne Gesicht des Erdkindes, das sich langsam in der Dunkelheit verlor, und folgten dann der Großmutter.
Als Rhapsody aus der Höhle kam, erschien ihr die Erde weitaus grüner und das Blau des Himmels viel strahlender als zuvor. Wie viele Tage sind wohl vergangen?, überlegte sie.
Zwei? Fünf? Sie vermochte es nicht zu sagen.
In dem Bemühen, die Fassung wiederzugewinnen, blickte sie um sich und peilte den Weg nach Süden an. Auf dieser Route würde sie in den Wald von Tyrian kommen, jenseits der Grenzen von Roland, und mit ein wenig Glück Oelendra begegnen. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zwischen schlüpfrigen Steinen hinunter ans Ufer des Sees, als plötzlich etwas ihren Arm berührte.
»Rhapsody?«
Erschrocken sprang sie zur Seite und zückte ihren Dolch, denn ihr Angreifer war zu nah für das Schwert. Ashe hielt die Hände hoch und trat einen Schritt zurück.
»Entschuldige.«
Wütend stieß Rhapsody den angehaltenen Atem aus. »Würdest du bitte damit aufhören? Irgendwann bringst du mich noch um.«
»Es tut mir Leid, ehrlich«, entgegnete er und faltete betreten die Hände. »Ich habe hier auf dich gewartet, seit du in die Höhle gegangen bist, um mich zu vergewissern, dass du auch wieder herauskommst.«
»Ich habe dir doch gesagt, es werde schon alles gut gehen.« Fast hatte ihr Atem sich wieder beruhigt, als sie in der Erinnerung plötzlich Elynsynos’ Stimme vernahm.
Und höre: Er befindet sich jetzt ganz hier in der Nähe. Sei vorsichtig, wenn du meine Höhle verlässt.
Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen. Die Drachin kann doch nicht Ashe gemeint haben, dachte sie. Als sie innehielt, um darüber nachzudenken, schien ihr der Gedanke widersinnig. Wenn Ashe ihr etwas hätte antun wollen, hätte er dazu reichlich Gelegenheit gehabt.
Es sei denn, er hatte einen Grund, ihr zu folgen.
»Rhapsody? Ist alles in Ordnung mit dir?«
Sie blickte in die Kapuze empor, ohne etwas sehen zu können. Dann erinnerte sie sich wieder an sein Gesicht, an den gehetzten, unsicheren Ausdruck in seinen Augen, und ihre Vorbehalte verflogen.
»Mir geht es gut«, entgegnete sie lächelnd. »Kennst du zufällig den Weg zu Oelendra?«
»Ich kenne jedenfalls den Weg nach Tyrian.«
»Kannst du mir eine Karte zeichnen? Dorthin werde ich nämlich als Nächstes gehen.«
»Wirklich? Warum?«
Rhapsody öffnete den Mund und schloss ihn rasch wieder. »Ich möchte sie sehen Elynsynos ist der Ansicht, dass wir uns treffen sollten. Vielleicht finde ich dort bei den Lirin ein paar Antworten.«
Ashe nickte. »Könnte sein. Nun, wie der Zufall es so will, liegt Tyrian auf dem Weg zu meinem nächsten Ziel. Soll ich dich begleiten?«
»Ich hasse es, mich dir schon wieder aufzudrängen«, meinte sie zögernd und dachte an das Gespräch an einem ihrer zahlreichen gemeinsamen Lagerfeuer. Gewiss wollte er so rasch wie möglich nach Hause zu seiner Geliebten, die nun schon so lange auf ihn gewartet hatte.
»Wie gesagt bin ich ohnehin dorthin unterwegs. Du drängst dich also nicht auf, und ich hätte ein besseres Gefühl, wenn ich dich in Oelendras Obhut wüsste. Was sagst du dazu?«
»Ich sage danke«, antwortete sie und prüfte die Riemen ihres Tornisters. »Nun denn, sollen wir aufbrechen?«
Ashe nickte und wandte sich gen Süden. Leichtfüßig schritt er über die glitschigen Steine des Spiegelteichs, über dem Nebel aus der Drachenhöhle hing. Rhapsody folgte ihm um das Ufer des Sees herum, zurück in das verschlafene Tal, bis der Höhleneingang beinahe außer Sicht war. Da blieb sie stehen und sah sich noch ein letztes Mal um.
»Auf Wiedersehen, meine Freundin. Du bist in meinem Herzen«, flüsterte sie. Der Wind in den Bäumen lebte auf, liebkoste ihr Gesicht und die losen Strähnen ihres Haars.