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Acht Tage später kamen die drei endlich aus der Dunkelheit der Felsspalte hervor, in der sich einst der verborgene Eingang zum Loritorium befunden hatte. Grunthor hatte einen Großteil der Zeit dafür benötigt, um sich von der Anstrengung zu erholen, die ganzen Gänge und Tunnel, die er gegraben hatte, wieder zu verschließen. Ohne die Nähe, die er zum Erdenkind gehabt hatte, wäre die Aufgabe noch wesentlich schwieriger gewesen und hätte von dem Riesen einen noch höheren Tribut gefordert. Aber das Schlimmste für ihn war, dass er das Mädchen in der Dunkelheit der verrußten Gruft zurücklassen musste, verborgen vor allem außer vor der Zeit.

Ebenso schmerzlich war der Abschied selbst. Rhapsody küsste die steingraue Stirn des Kindes, während Grunthor das Mädchen behutsam mit seinem Mantel zudeckte anstelle der weichen Decke aus Spinnenseide, in welche die Großmutter sie stets eingehüllt hatte. Achmed löschte die Straßenlaternen, sodass nur der flackernde Flammenschein des Feuerbrunnens ein mattes Licht über das Loritorium breitete, einst ein hochfliegendes, der Gelehrsamkeit gewidmetes Projekt und nun nichts weiter als eine dunkle Höhle, die als Kammer für das Schlafende Kind diente.

Als sie schließlich aufbrachen, um das Mädchen in Frieden ruhen zu lassen, flüsterte Rhapsody ein letztes Schlaflied und folgte dann ihren Freunden in die Tiefe.

Weißer Schein

Lass die Nacht herein

Schnee bedeckt die gefrorne Welt

Schau und warte, schau und warte

Leg dich hin und schlaf ein

In Eisschlössern fein

Ein Versprechen soll sein

Ein Jahr, in dem nur wenige Tage noch sind

Erinnert sich gern an das Erdenkind

Ehe sie die verkohlten Überreste des Tunnelnetzes verschlossen, das einst die Kolonie gewesen war, blieben sie noch einmal zusammen im Kreis der Lieder stehen. Rhapsody sang ein Trauerlied für die Dhrakier, die vor so langer Zeit beim Völkermord der Letzten Nacht getötet worden waren, und eines für die Frau, die seither einsam Wache gehalten und das Erdenkind beschützt hatte, bis sie endlich zu ihr gekommen waren. Als sie sang, verstummte der unterirdische Wind, als hätte er endlich den Tod der Zhereditck zur Kenntnis genommen, der Windkinder und der Zivilisation, die sie einst aufgebaut hatten, um die Erde vor der Zerstörung zu retten.

Als das Lied vorüber war, gingen Rhapsody und Grunthor über die zerbröckelnde Brücke zurück und ließen Achmed allein im Kreis. Dort stand er zwischen den Runen, den Symbolen, die im Lauf der Zeit immer mehr verblassten, und beobachtete die Pendeluhr, die endlos in der Dunkelheit schwang.

Die Erde sagt, es war dein Tod, Herr. Du weißt es noch nicht, aber du wirst es erfahren.

Jetzt wusste er es.

Als sie wieder im Kessel angekommen waren, sah Rhapsody als Erstes nach ihren Enkelkindern und gesellte sich dann in der Großen Halle zu Achmed und Grunthor, wo sie von der wöchentlichen Postkarawane die neuesten Neuigkeiten erfuhren. Die Soldaten und Kaufleute des Konvois hatten sich schon ein Publikum für den Bericht gesucht, der sie auf dem Weg von Roland per Vogelboten erreicht hatte. Zwei Erdbeben hatten den Kontinent erschüttert, so erzählten die Wachen aufgeregt, gefolgt von einer ungeheuren Hitzewelle und einem neuerlichen Erzittern der Erde, das sich von den Zahnfelsen bis ins Zentrum von Navarne erstreckt hatte. Rhapsody warf Grunthor aus dem Augenwinkel einen Blick zu, aber dieser zuckte nicht mal mit der Wimper, sondern schien von den Auswirkungen des Feuerballs und des Verschließens des Tunnels, den die Dämonenranke sich gegraben hatte, völlig unbeeindruckt.

Zum Glück gab es keine Todesopfer zu beklagen, erzählten die Soldaten weiter, und mit einer Ausnahme war auch nichts beschädigt worden. Traurig musste Rhapsody zur Kenntnis nehmen, dass das Haus der Erinnerungen bei den Erdstößen in Flammen aufgegangen und bis auf die Grundfesten niedergebrannt war, zusammen mit einem großen Teil des verseuchten Waldes in seiner nahen Umgebung. Das einzig Gute daran war die Nachricht, dass der Baum auf seinem Hof, der Schössling der Sagia, den die Cymrer vor so vielen Jahrhunderten aus ihrer Heimat mitgebracht hatten, wie durch ein Wunder die Feuersbrunst überlebt hatte. Insgeheim hoffte Rhapsody, dass der Baum nun, da er vollständig von der Dämonenwurzel befreit war, prächtig gedeihen würde.

Nachdem sie die Neuigkeiten gehört hatte, stieg sie durch die tiefer werdenden Schatten der Dämmerung hinauf auf die Heide, den Ort, der Zeuge von so viel Hoffnung und Verzweiflung geworden war. Dort setzte sie sich auf das vom Frost trockene, bleiche Gras, legte ihr Schwert über die Knie und beobachtete, wie die Abendsterne einer nach dem anderen am Firmament erschienen. Der Winterhimmel war glockenklar und kalt, und das Tiefblau im Zenit ging am Horizont in pechschwarze Nacht über.

Über den östlichen Gipfeln der Zahnfelsen sah sie Prylla aufsteigen, den Stern, den die Lirin nach dem Windkind der Wälder benannt hatten, der Stern, der Jos Scheiterhaufen entzündet hatte, das Symbol verlorener Liebe. Leise blinkte er in der klaren Nachtluft. Sei nicht traurig, schien er zu flüstern. Die Liebe ist nicht verloren, du hast sie gefunden. Leise sang sie die Abendvesper in den Wind und ließ ihn den letzten Rest Traurigkeit davontragen, während er über die Berggipfel und die sanft gewellte Ebene pfiff. Die Elemente, welche die Lirin hervorgebracht hatten, der Äther der Sterne und das Flüstern des Windes, blickten auf sie herab und umhüllten sie, reinigten ihren Geist und ließen das Feuer in ihr ruhig und hell brennen. Sie war wohlauf. Sie war stark, bereit für alles, was kommen mochte. Sie war die Iliachenva’ar.

Weit weg, in den Ruinen des Hauses der Erinnerungen am Fuß des Baumes, stand ein Mann im Kapuzenumhang ebenso wie sie im Wind. Voller Ehrfurcht blickte er hinauf in die Äste des Baumes.

Dort, inmitten der glimmenden Asche, die sich mit dem Nebel aus seinem Umhang mischte, erblühte der Baum; über und über war er mit leuchtend weißen Blüten bedeckt, die seine Zweige selbst jetzt im Winter zierten. In einer Astgabel aber steckte eine kleine Harfe, die standhaft einen munteren Rundgesang spielte.

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