33

Die Großmutter erwartete sie in der Dunkelheit am Ende des Tunnels. Sie musterte Rhapsody von Kopf bis Fuß, und die silbernen Pupillen waren wie schmale ovale Spiegel.

»Willkommen, Himmelskind«, sagte sie.

Achmed und Grunthor sahen einander an. Zusätzlich zu den beiden Stimmen, welche die Dhrakierin eingesetzt hatte, um sich mit ihnen beiden zu verständigen, erklang jetzt noch eine dritte, trocken und heiser wie die von Achmed. Doch diese Stimme gebrauchte Worte.

»Du kommst spät«, fügte die Großmutter vorwurfsvoll hinzu.

»Es tut mir Leid«, stammelte Rhapsody, bestürzt von dem barschen Ton; sie hatte keine gesprochenen Worte erwartet. »Ich war unterwegs.« Sie starrte die Frau an, und vor lauter Staunen machte sie sich nicht einmal Gedanken darüber, ob diese sie womöglich unhöflich fand.

In den seltsamen Gesichtszügen der Großmutter entdeckte sie einige Ähnlichkeiten mit Achmed; jetzt endlich konnte sie erkennen, was sein dhrakisches Erbe war, denn bisher war es von den typischen Bolg-Eigenheiten überdeckt gewesen. Die drei Gefährten hatten Achmeds dhrakische Herkunft immer streng geheim gehalten, und außer zu Oelendra hatte Rhapsody mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Jo. Was sie jetzt erblickte, erklärte besser als alle Worte, warum es so wichtig gewesen war, das Geheimnis zu bewahren. Die Frau war sehr dünn, und ihre Haut war fast so durchscheinend, als lägen die Venen frei. Während diese Eigenschaft bei Achmed auf die meisten Leute eher abstoßend wirkte, erschien es Rhapsody bei der Großmutter nur wie ein weiteres Zeichen ihrer Schönheit, wie eine Radierung oder eine kunstvolle Tätowierung. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie die Frau nie bei Tageslicht gesehen hatte, aber hier in der Dunkelheit war sie wunderschön.

Der Großmutter in die Augen zu sehen war etwa so, als blickte man in einem dunklen Zimmer in einen Spiegel. Schwarz wie Tinte, aber reflektierend, so erwiderten sie jetzt Rhapsodys Blick, und die silbernen Pupillen saugten das spärliche Licht in sich auf. Dann sah die Frau die beiden Bolg an, und Rhapsody verschlug es fast den Atem. Der Blick der Großmutter war fast so hypnotisch wie der von Elynsynos.

Die scharf geschnittenen Gesichtszüge der Großmutter erinnerten Rhapsody plötzlich an die Tierrassen, welche ebenso vom Wind abstammten wie die Dhrakier die Grillen mit ihrem energischen, kratzigen Zirpen, die Raubvögel mit ihren anmutig schnellen Bewegungen, die Eulen mit ihrem unerschrockenen Blick, der mitten in der Nacht am schärfsten war. Die Großmutter nickte knapp, dann drehte sie sich um und ging langsam vor.

»Kommt.«

Die drei folgten der einzigen Überlebenden der Kolonie den dunklen Tunnel hinunter und in die Kammer des Schlafenden Kindes.

Vor den großen Eisentüren der Kammer blieb die Großmutter stehen und wandte sich an Rhapsody.

»Du bist eine Himmelssängerin.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ja.«

Die Großmutter nickte. »Zuerst wirst du dem Erdenkind begegnen«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu den mit schweren Eisenbändern beschlagenen Türen. »Dann werde ich dich zum Kreis der Lieder bringen. Dort wirst du die Prophezeiung vorfinden, in voller Länge. Aber zuerst musst du dich um das Mädchen kümmern.«

»Wie soll ich mich um sie kümmern?«

Mit ihrer mageren Hand umfasste die Großmutter eine der riesigen Türklinken. ›»Der Wind der Sterne wird singen das Mutterlied, das ihrer Seele am vertrautesten klingt‹«, zitierte sie.

»Das ist der Teil der Prophezeiung, der sich, glaube ich, auf dich bezieht. Jetzt musst du ihr amelstyk sein. Ich werde bald zu alt dafür sein.«

Rhapsody rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. »Ich verstehe nicht, Ihr seid zu schnell für mich.«

Die blaue Lederhaut in den Augen der Dhrakier-Frau dehnte sich ruckartig. »Nein, du bist zu langsam«, fauchte sie mit rauer Stimme. »Ihr kommt spät, ihr alle. Ihr hättet schon längst hier sein sollen, damals, als ich noch stark war, ehe die Zeit mich gebrochen hat. Aber das ist nicht geschehen.

Dennoch habe ich gewartet, habe all die vielen Jahre allein gewartet, all die Jahrhunderte, habe beobachtet, wie die Pendeluhr jede Stunde, jeden Tag, jedes Vorüberziehende Jahr gezählt hat. Ich habe darauf gewartet, dass ihr kommt und mich ablöst; jetzt seid ihr hier. Aber selbst jetzt ist es nicht einfach eine Wachablösung. Das Mädchen hat zu träumen angefangen, es wird von Albträumen gequält. Ich kann ihre Gedanken nicht hören, ich weiß nicht, was sie peinigt. Nur du kannst sie verstehen, Himmelskind. Nur du kannst sie wieder in friedlichen Schlaf singen. Das stand im Wind geschrieben. So ist es.«

Die letzten Worte sprach sie mit zitternder Stimme. Rhapsody wurde es eng ums Herz; sie kannte die Angst in diesen Worten, sie begriff, welche Verletzlichkeit sich hinter ihnen verbarg. Die Großmutter war mehr als die beständige, einsame Wächterin eines wertvollen Werkzeugs, das der F’dor sich ersehnte; sie liebte das Erdenkind wie ihre eigene Tochter. In Oelendras Stimme hatte Rhapsody den gleichen Ton gehört, damals, als sie die Laute zerstört hatte. Und die gleiche Angst war in den Augen der Lirin-Kämpferin gewesen, als sie ihr Lebewohl gesagt hatte.

»Ich verstehe«, sagte sie. »Bring mich zu ihr.«

481

Die Eisentüren öffneten sich mit einem metallischen Seufzen, und die drei Gefährten folgten der alten Frau in die dunkle Kammer. Die Großmutter rieb einen ihrer Leuchtpilze an der Wand, ein Funke glühte auf, und sie machte sich daran, die Lampe über dem Katafalk zu entzünden. Als der Raum nicht mehr völlig im Dunkeln lag, traten Rhapsody und die beiden Männer näher. Das Kind ruhte wie auch bei ihrem ersten Besuch unter einer Decke aus gewobener Spinnenseide, so weich wie Eiderdaunen. Seine glatte graue Haut sah immer noch so kalt aus wie Stein, aber etwas war anders geworden. Das Haar und seine Wurzeln waren grün wie Sommergras, nur die Spitzen trocken und struppig, wie einst das ganze Haar gewesen war. Der Sommer hatte Einzug gehalten, und das Kind der Erde fühlte es; es zeigte es auf die einzige Art, die ihm hier in der dunklen Höhle, weit weg von der Sonnenjahreszeit, zur Verfügung stand.

Rhapsody rieb sich die Arme und versuchte, ein plötzliches Frösteln abzuwehren. Langsam ging sie um den Katafalk des Erdenkinds herum und nahm den Anblick in dem gedämpften Licht der über ihm hängenden Laterne in sich auf; sonst herrschte allenthalben Dunkelheit. Das Staunen auf ihrem Gesicht rührte Grunthors Herz zutiefst.

Unwillkürlich dachte Rhapsody an Elynsynos’ Worte.

Da die Drachen sich nicht mit Angehörigen der Rassen der Drei vermehren konnten, versuchten sie, eine menschenähnliche Rasse aus den wenigen Bruchstücken des Lebendigen Gesteins zu erschaffen, die nach dem Bau des Kerkers noch übrig waren. Außergewöhnlich und schön waren die Kreaturen, die dabei entstanden. Kinder der Erde nannte man sie, und sie hatten menschliche Gestalt, oder zumindest waren sie den Menschen so ähnlich, wie die Drachen es eben fertig brachten. In mancherlei Hinsicht waren sie brillante Geschöpfe, in anderer abscheulich.

»Sie ist wunderschön«, sagte Rhapsody leise.

Die Großmutter nickte. »Auch sie hat eine hohe Meinung von dir.« Behutsam legte sie die Decke wieder über das Kind.

»Deine Schwingung beruhigt sie, die Musik, welche dich umgibt.« Ihr Augen wurden ein klein wenig schmaler, und sie starrte die Sängerin aufmerksam an. »Sie fragt sich, warum du die Tränen zurückhältst.«

Rhapsody blinzelte verlegen und versuchte, das Wasser aus ihren Augen zu verscheuchen, wobei sie Achmed einen gequälten Blick zuwarf. »Weinen ist in der Gegenwart des Bolg-Königs verboten.«

»Warum trauerst du?«

»Ich trauere um sie«, antwortete die Sängerin. »Wer würde das nicht tun? Darüber, dass dieses Mädchen zum lebendigen Tod verdammt ist, dass sie nie erwachen wird? Dass ein so außergewöhnliches und schönes Kind niemals ein Leben haben wird? Wer würde darum nicht trauern?«

»Ich würde nicht trauern«, erwiderte die Großmutter kurz angebunden. »Du irrst dich, wenn du denkst, sie hat kein Leben. Das hier ist ihr Leben, ihr Schicksal, so ist es, so wird es immer sein. Es muss ertragen, es muss geliebt werden, genau wie das Leben als einsame Wächterin ertragen und geliebt werden muss. Genau wie du dein Leben zweifellos manchmal erträgst und manchmal liebst. Dass du hier kein Leben erkennst, bedeutet nicht, dass sie keines hat. Das Leben, was immer es sein mag, ist, was es ist.«

»Ryle hira«, flüsterte Rhapsody. Die Weisheit in dem Lirin-Sprichwort hüllte sie ein wie sanft fallender Schnee. Endlich begann sie die Bedeutung der Worte ganz zu verstehen, die ihr vor so langer Zeit beigebracht worden waren.

Die Lippen des Erdenkinds bewegten sich lautlos, wie ein Echo der Lirin-Worte. Rasch beugte sich die Großmutter über das Kind, als wollte sie die leisen Worte erhaschen. Sie wartete, aber es kam nichts mehr, und sie seufzte still.

»Spricht sie manchmal?«, fragte Grunthor.

»Bisher nicht«, antwortete die Großmutter sanft und fuhr mit der Hand über das grasige Haar, Sommergrün und bleiches Wintergold. »Die letzte Prophezeiung des größten dhrakischen Weisen sagt, dass sie eines Tages sprechen würde, aber es ist nie geschehen. Seit uralten Zeiten weiß man, dass Weisheit in der Erde und in den Sternen wohnt. Alles andere, die wogende See, das vergängliche Feuer, der flüchtige Wind, ist zu unbeständig, um die von der Zeit gelehrten Lektionen zu bewahren. Nur die Erde birgt die Geheimnisse, die durch die Zeitalter hindurch weitergegeben werden; sie vermittelt das Wissen beständig, im Wechsel der Jahreszeiten, in der Zerstörung und der Wiedergeburt des Feuers. In den Fundgruben der Erde gibt es so viel zu lernen.

Dies war eine der guten Seiten daran, dass wir uns in die Erde zurückgezogen hatten. Obgleich es bedeutete, dass wir nie mehr den Himmel sehen, niemals mehr die Schwingungen im Wind lesen würden, war die Erde nicht nur ein Gefängnis, sondern auch eine Lehrmeisterin. Die Zhereditck studierten die Lektionen der Erde und lernten ihre Geheimnisse kennen. Und der Wind gab uns zum Abschied eine letzte Botschaft: Die höchste Weisheit würde von den Lippen des Erdenkindes kommen.

Mein Leben lang habe ich darauf gewartet, was sie uns mitzuteilen hat, wie diese weisen Worte wohl lauten mögen. All die Jahrhunderte hat sie nichts Verständliches gesagt, hat keine Antwort gegeben, keinen einzigen Hinweis. Aber obwohl sie keine Worte ausspricht, kenne ich dennoch ihr Herz.« Die langen Finger, die zärtlich über die glatte Wange strichen, zitterten ein wenig.

Sorgenfalten zerfurchten die Stirn der alten Frau, als das Kind wieder zu flüstern begann; seine Augenlider zuckten unruhig.

»Jetzt hat ihr Herz erfahren, was Angst ist«, sagte die Großmutter. »Nur vermag ich dieser Angst keinen Namen zu geben.«

»Kannst du ihr nich irgendwie helfen, Gräfin?«, fragte Grunthor besorgt. Rhapsody schloss die Augen und ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Das Mutterlied, das ihrer Seele am vertrautesten klingt, hieß es in der Prophezeiung. Sie versuchte, im Geiste das Bild ihrer Mutter herbeizurufen, ein Bild, das einst so klar gewesen war wie der Sommerhimmel, sich jedoch kaum mehr heraufbeschwören ließ, seit sie das letzte Mal im Traum ihre Stimme gehört hatte.

Feuer hat eine große Kraft, hatte ihre Mutter in diesem letzten Traum gesagt. Aber noch größer ist die Kraft des erstgeborenen Sternenfeuers. Nutze das Feuer der Sterne, um dich und die Welt von dem Hass zu läutern, der von uns allen Besitz ergriffen hat. Dann werde ich in Frieden ruhen können, bis du mich wieder siehst.

An die Worte konnte sie sich noch erinnern, nicht aber an die Stimme ihrer Mutter. Ein Verlust, der sie schmerzte.

Rhapsody trat näher an den Katafalk und beugte sich zum Ohr des Mädchens. Vorsichtig legte sie die Hand auf das grasige Haar und strich die Strähnen zurück, die ihr in die Augen gefallen waren. Die Großmutter ließ sie gewähren und zog die Hand in die Falten ihres Gewands zurück.

»Meine Mutter kannte ein Lied für jede Gelegenheit«, sagte sie leise. »Sie war eine Liringlas, und jedem Ereignis war ein besonderes Lied zugeordnet. Ich hörte sie oft, sie waren für mich fast wie die Luft zum Atmen. Aber ich weiß nicht, welches das Mutterlied ist, von dem die Prophezeiung spricht.« Kaum waren die Worte aus ihrem Mund, als ihr etwas einfiel.

»Wartet«, sagte sie. »Vielleicht weiß ich es doch.

Unter den Lirin gibt es die Tradition, dass eine Frau, wenn sie entdeckt, dass sie schwanger ist, ein Lied aussucht, das sie dem wachsenden Leben in ihr vorsingt. Es ist das erste Geschenk, das sie dem Kind macht, sein eigenes Lied sozusagen; vielleicht ist das mit ›Mutterlied‹ gemeint. Sie singt es jeden Tag, bei ihren alltäglichen Verrichtungen, in stillen Momenten, wenn sie allein ist, vor jeder Morgenaubade, nach jeder Abendvesper. Es ist das Lied, mit dem das Kind sie kennen lernt, sein erstes Schlaflied, einmalig für jedes Kind. Die Lirin leben draußen, unter den Sternen, und es ist wichtig, dass Kleinkinder sich in gefährlichen Situationen still verhalten. Dieses Lied ist ihnen so vertraut, dass es sie sozusagen von Natur aus beruhigt. Vielleicht ist es das, was die Prophezeiung meint.«

»Könnte sein«, meinte Achmed. »Erinnerst du dich an deines?«

Rhapsody schluckte die verächtliche Bemerkung hinunter, die ihr auf den Lippen lag in letzter Sekunde rief sie sich in Erinnerung, dass Achmed nie eine Familie gehabt hatte und deshalb nicht verstand, worum es hier ging. »Ja«, antwortete sie. »Und es ist ein Windlied, also wäre es durchaus möglich, dass sich die Prophezeiung tatsächlich darauf bezieht.« Sie setzte sich auf den Steinsockel neben dem Katafalk, welcher der Großmutter als Lager diente, und zog ein Knie unter sich, alles ohne die Hand von der Stirn des Kindes zu nehmen. Dann schloss sie die Augen und sang ein Lied aus einem anderen, längst vergangenen Leben.

Schlafe, mein Kind, mein Kleines, schlaf gut, Dort in der Lichtung, wo der Fluss niemals ruht, Wo der Wind leise wispert und trägt fort im Nu All deine Sorgen und den Kummer dazu.

Ruh dich aus, mein Süßes, und schlafe recht fest, Dort, wo der Regenpfeifer baut nun sein Nest, Dein Kissen ist Süßklee, das Gras deckt dich zu, Der Mond scheint herab, und der Wind weht dazu.

Träum, meine Liebe, träum wunderschöne Träume Wenn der Wind streicht sanft über Bäche und Bäume. Nimm seine Flügel, er trägt dich ein Stück, Doch meine Liebe hält dich sicher auf Erden zurück.

Als sie geendet hatte, öffnete Rhapsody die Augen und schaute das Erdenkind an. Während des Liedes war es ruhig geworden, aber sobald Rhapsody schwieg, begann es wieder zu zucken und um sich zu schlagen, ja, es schien sogar, als wäre es noch aufgeregter als zuvor. Rhapsody war bestürzt, aber Grunthor legte ihr sanft seine riesige Pranke auf die Schulter.

»Mach dir nichts draus, Gräfin«, sagte er. »Es klang doch gar nich so schlecht.«

Auch die Großmutter war nervös, das merkte Achmed an der Elektrizität ihrer Schwingungen.

»Geht das Lied vielleicht noch weiter?«, fragte er Rhapsody, die jetzt versuchte, die Panik des Kindes mit beruhigendem Zureden zu lindern.

»Meine Mutter hat mir hunderte von Liedern vorgesungen«, antwortete sie und strich mit der Hand über den Arm des Kindes. »Ich habe keine Ahnung, auf welches sich die Prophezeiung bezieht.«

»Dann legst du sie vielleicht falsch aus«, gab Achmed zu bedenken. »Vielleicht ist in der Prophezeiung nicht deine Mutter gemeint, sondern ihre.«

Plötzlich wurde Rhapsodys Kopf ein wenig klarer. »Ja, ja, da hast du wahrscheinlich Recht«, sagte sie nervös. »Aber wie kann ich ihr eigenes Mutterlied singen? Ich weiß ja nicht einmal, wer ihre Mutter ist.«

»Sie hatte keine Mutter«, warf die dhrakische Matriarchin ein. »Sie wurde so, wie du sie jetzt vor dir siehst, aus Lebendigem Stein geformt.«

»Vielleicht hat der Drache sie gemacht?«, schlug Rhapsody vor.

»Nein«, entgegnete Grunthor ruhig. »Die Erde. Die Erde ist ihre Mutter.«

Die drei anderen starrten ihn schweigend an. »Natürlich«, murmelte Rhapsody nach einer Weile. »Natürlich.«

»Und du kennst das Lied auch, Gräfin. Hast es immer und immer wieder gehört, hast mitgesungen die ganze Zeit, als wir durch die Erde gereist sind. Kannst du es nich jetzt singen?«

Die Sängerin schauderte. Nur mit Mühe konnte sie sich dazu durchringen, an die Zeit zu denken, die sie an der Wurzel verbracht hatten, an den Albtraum, den sie durchlebt hatten, um aus Serendair zu entfliehen. Doch sie schloss die Augen und versuchte sich auf das Summen zu konzentrieren, sich an das erste Mal zu erinnern, als sie ihm gelauscht hatte, die mächtige, langsame Vibration in der endlosen Höhle über ihnen. Es war ein Lied, so tief wie das Meer, das durch ihr Herz trommelte und dennoch weich war wie fallender Schnee, fast unhörbar. Es war mehr ein Gefühl als ein Klang, reich und voller Weisheit, magisch und einmalig auf der Welt. Langsam bewegte die Melodie sich vorwärts, veränderte sich kaum merklich, ohne Eile, ohne das Bedürfnis, mit irgendetwas Schritt zu halten oder sich an etwas anzupassen. Es war die Stimme der Erde, die aus ihrer Seele sang. Und im Hintergrund erklang stark und stetig das allgegenwärtige Klopfen des Herzens der Welt, ein Rhythmus, der Rhapsody in Augenblicken der Verzweiflung Kraft gegeben und sie im Dunkel des Erdinnern immer wieder beruhigt hatte. Jetzt hatte sie ihn wieder im Ohr, wie jedes Mal, wenn sie mit dem Kopf auf dem Boden geschlafen hatte. Dann kam die Erkenntnis. Oft hatte sie nicht mit dem Kopf auf dem Boden, sondern auf Grunthors Brust geschlafen. Die beiden Empfindungen ähnelten einander sehr; der Brustkorb des Riesen war breit und kräftig, fest wie Basalt, und sein Herzschlag entsprach genau dem Rhythmus des Erdlieds. Es durchströmte ihn und tröstete sie in ihren Albträumen. Weißt du, ich würde dir jederzeit deine schlimmsten Träume abnehmen, wenn ich könnte, Hoheit, hatte er immer gesagt. Rhapsody streckte die Hand aus und berührte den Sergeanten.

»Grunthor«, sagte sie. »Hilfst du mir? Wie damals mit den verwundeten Soldaten?«

Ein leichtes Grinsen brach sich Bahn in seinem verblüfften Gesicht. »Na klar, Fräuleinchen«, erwiderte er. »Möchtest du ein paar Strophen von dem alten Bolg-Mutterlied Mamas Krallen hören?«

»Nein«, antwortete sie. »Ich brauche dich nur für den Rhythmus. Bück dich, damit ich an dein Herz komme.«

Mit leise quietschender Rüstung und raschelndem Mantel tat Grunthor, worum sie ihn gebeten hatte. Behutsam ließ Rhapsody ihre Hand über seine Brust gleiten, bis sie seinen Herzschlag spüren konnte, das langsame, stetige Pochen, das sie schon ihr ganzes Leben lang zu kennen schien. Es war immer noch dasselbe, vollkommen im Einklang mit dem Rhythmus der Erde. Rhapsody schloss die Augen und machte ihren Geist leer von allem anderen außer diesem Pochen. Es dröhnte in ihrem Kopf, vibrierte in ihren Nebenhöhlen und durch ihre Haarwurzeln, prickelte in ihrem Schädel. Sie holte Luft und sog es noch tiefer in sich ein, fühlte es ihr Rückgrat hinunter und in ihre Muskeln fließen, bis in die Haut. Als es ihre Fingerspitzen erreicht hatte, streckte sie die freie Hand aus und berührte die Brust des Erdenkindes, ließ sie unter das Gewand des Kindes gleiten, bis sie ebenfalls auf seinem Herzen zu liegen kam. Der Rhythmus passte genau, doch im Puls des Kindes war ein Zittern, das Rhapsody Sorgen machte. Sie beugte sich näher zum Ohr des Kindes, presste die Lippen zusammen und begann zu summen. Sie spürte die richtige Tonlage sofort, denn ihr Geist füllte sich augenblicklich mit musikalischen Bildern dieser mystischen und zugleich schrecklichen Reise: dem tiefen Bass der Bergleute, die sangen, während sie sich einen Weg durch die Tiefen der Erde bahnten; dem bedächtigen, melodischen Brodeln von Magma unter der Oberfläche, unterbrochen von einem gelegentlichen Zischen oder Knallen; mit der süßen, beständigen Melodie der Axis Mundi, welche die Erde in der Mitte durchteilte, und der Wurzel, die sich um sie schlang. Es war eine uralte Symphonie aus Erdklängen, wortlos und fast unhörbar, doch erfüllt von Macht und Ehrfurcht.

Rhapsody sang das Erdlied, so gut sie konnte, im Takt mit Grunthors stetigem Herzschlag, änderte den Ton nur wenig und so bedächtig, wie es der Erde angemessen war. In der Nähe hörte sie Achmed leise ausatmen, und ihr wurde klar, dass es ein Signal war; das Lied zeigte wohl irgendeine Wirkung.

Unter ihren Fingern wurde der Herzschlag des Kindes fest und hörte auf zu beben, und an seine Stelle traten die stetigen Gezeiten des regelmäßigen Atems. Rhapsody erkannte diesen Zustand; endlich schlief das Erdenkind traumlos, tief und fest. Sie spürte, wie dieselbe Ruhe sie überkam, als wäre sie ebenfalls eingeschlafen, so tief und so fest, dass ihr nicht auffiel, wie Grunthor und die Großmutter keuchten und nach Atem rangen. Es war der dumpfe Aufprall, mit dem ihre Körper auf den sandigen Boden schlugen, der sie schließlich wachrüttelte.

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