Zum vierten Mal an diesem Nachmittag kam Grunthor schwerfällig zum Stehen. Er war einfach zu ungelenk, um ebenso flink in der Bewegung innezuhalten wie Achmed, und seufzte laut.
»Ist sie immer noch da, Herr?«
»Ja.« Der irritierte Ton in Achmeds Stimme wurde mit jeder Pause stärker. Jetzt drehte sich der Firbolg-König im Tunnel um und rief nach hinten: »Verdammt, Jo, ich binde dich gleich an einen Stalagmiten, da kannst du warten, bis wir zurückkommen.«
Neben seinem Kopf pfiff etwas durch die Luft, und ein kleiner Dolch mit bronzenem Rücken bohrte sich neben seinem Ohr in die Höhlenwand.
»Du bist ein elendes Schwein«, ertönte als hallendes Knurren Jos Antwort. »Du kannst mich hier nicht mit diesen elenden kleinen Bälgern allein lassen. Ich komme mit dir, du Bastard, ob es dir gefällt oder nicht.«
Achmed unterdrückte ein Lächeln und marschierte ein Stück zurück, griff hinter einen Felsvorsprung und zerrte das Mädchen aus dem Versteck.
»Eine kleine Information über elende Schweine«, sagte er beinahe freundlich. »Sie beißen. Komm ihnen nicht in die Quere, sonst kriegen sie dich.«
»Ja, ja, über Schweine weißt du natürlich Bescheid, Achmed. Ich bin sicher, dass du oft genug mit ihnen zusammen bist. Gott weiß, wer außer einem Blinden sonst jemals Zärtlichkeiten mit dir austauschen würde.«
»Nu aber mal langsam, Fräuleinchen«, sagte Grunthor streng. »Du möchtest doch nicht, dass ich die Geduld verliere, oder?«
»Ach, komm schon, Grunthor«, jammerte Jo und versuchte, die großäugige Unschuld zu spielen, was ihr kläglich misslang. »Ich hasse diese Plagen. Ich möchte mit euch kommen. Bitte.«
»Also, redet man denn so über seine Großnichten und Großneffen?«, fragte Achmed. »Deine Schwester wäre sehr bekümmert, wenn sie hören würde, wie du über ihre Enkel redest.«
»Sie sind echte Biester. Wenn wir auf den Klippen sind, versuchen sie mich zum Stolpern zu bringen«, beklagte sich Jo. »Das nächste Mal versetze ich am Ende aus Versehen einem von ihnen einen Fußtritt, dass er in der Schlucht landet. Bitte lasst mich nicht allein mit ihnen. Ich möchte mit euch kommen, egal, wohin.«
»Nein. Gehst du allein zurück, oder brauchst du eine Eskorte?«
Jo verschränkte die Arme und machte ein wütendes Gesicht. Achmed seufzte.
»Hör mal, Jo, das ist mein letztes Angebot. Wenn sich herausstellt, dass wir finden, was wir suchen, und die Gefahr einigermaßen zu bewältigen ist, dann nehmen wir dich das nächste Mal mit. Aber wenn du uns noch einmal folgst, dann fessle ich dich an Händen und Füßen und werfe dich ins Kinderzimmer, damit Rhapsodys Enkel mit dir Fußball oder Sackhüpfen spielen können. Hast du mich verstanden?« Jo nickte düster. »Gut. Jetzt geh zurück in den Kessel und lass uns in Frieden.« Grunthor zog das Messer, das er ihr geschenkt hatte, aus der Wand und hielt es ihr entgegen. Jo riss es ihm aus der Hand und steckte es in ihren Stiefel zurück.
Die beiden Bolgs sahen zu, wie das Mädchen sich zornig umdrehte und den Tunnel wieder hinaufmarschierte. Als sie ein paar Sekunden nichts mehr von ihr gehört hatten, machten sie sich wieder an den Abstieg, nur um gleich wieder stehen zu bleiben. Ärgerlich wirbelte Achmed herum. Von der Welt über ihnen drang kein Licht mehr herab; sie waren jetzt tief in dem Tunnel, zu tief, um zurückzugehen, ohne einen ganzen Tag zu verschwenden. Es hatte ohnehin mehrere Wochen gedauert, bis er und Grunthor überhaupt beide Zeit gefunden hatten, auf Forschungsreise zu gehen und das Loritorium zu suchen, die verborgene Schatzkammer, deren Karte er Rhapsody gezeigt hatte. Leider hatte das Gör, das Rhapsody als Schwester adoptiert hatte, Wind von der Expedition bekommen und sich geweigert, auf seinen Befehl zu hören und sich herauszuhalten sowohl vor ihrer Abreise aus dem Kessel als auch den ganzen Weg bis hierher. Und offensichtlich hielt sie sich noch immer nicht an seine Anweisungen. Er konnte sie spüren, obwohl er ihr Herz nicht schlagen hörte, anders als bei Grunthor und Rhapsody und noch ein paar tausend anderen, die er manchmal in der Ferne pochen hörte. Die Fähigkeit, diese Rhythmen zu erkennen, war ein bruchstückhaftes Überbleibsel seiner Blutgabe aus der alten Welt; die einzigen Herzen, die er hören konnte, waren die derjenigen, die dort geboren waren.
Jo zu spüren war etwas anderes. Das hier war sein Berg, er war der König, und deshalb wusste er, dass sie wieder da war, sich seinem Befehl widersetzte und ihnen weiterhin folgte, knapp außerhalb seiner Sichtweite. Er wandte sich an den riesigen Sergeanten.
»Grunthor, erinnerst du dich noch, wie du mir einmal gesagt hast, du glaubst, dass du die Bewegung der Erde fühlen kannst?«
Grunthor kratzte sich am Kopf und grinste. »Du meine Güte, Herr, ich kann mich nicht entsinnen, dass ich dir gegenüber jemals so persönlich geworden bin. Genau genommen kann ich mich nur an ein einziges Mal erinnern, dass ich Süßholz geraspelt habe, nämlich mit der alten Brenda in Madame Perris Vergnügungspalast vor vielen Jahren.«
Achmed lachte leise in sich hinein und deutete auf den Boden unter ihren Füßen. »Das Feuer reagiert auf Rhapsody, und je mehr sie damit experimentiert, desto besser kann sie es willentlich kontrollieren. Da du eine ähnliche Beziehung zur Erde zu haben scheinst, trifft auf dich vielleicht das Gleiche zu.« Er blickte wieder den Tunnel hinauf. »Und vielleicht könnte dein erstes Experiment dazu dienen, uns von dem immer wiederkehrenden Albtraum zu befreien, der uns so hartnäckig verfolgt.«
Grunthor überlegte kurz, dann schloss er die Augen. Überall im Umkreis fühlte er den Herzschlag der Erde, ein feines Trommeln, das in der Atemluft wisperte, im Boden unter seinen Füßen pulsierte und über seine ledrige Haut strich. Seit sie durch die Erde gereist waren, entlang der Wurzel, welche die beiden großen Bäume verbindet, spürte er die Schwingungen in seinen Knochen und in seinem Blut. Auch jetzt sprachen sie zu ihm und verliehen ihm einen Einblick in die umliegenden Felsschichten. Vor seinem inneren Auge sah er die Ausdehnung der verschiedenen Formationen, während die Erde ihm von der Entstehung dieses Ortes sang, ein Klagelied über den grässlichen Druck, der riesige Steinplatten nach oben gezwungen hatte, bis unter Schmerzensschreien die zerklüfteten Gipfel geboren worden waren, die nun die Zahnfelsen bildeten. Als Gegengabe flüsterte seine Seele wortlosen Trost, die uralten Erinnerungen beschwichtigend. Er sah jede schwache Stelle im Erdboden, jeden Punkt, wo eine Obsidianader durch Basalt und Schiefer schnitt, jede Spalte, in der die Nain, mit der Erde ebenso verbunden wie er selbst, die endlosen Gänge von Canrif herausgemeißelt hatten, Tunnels wie der, in dem er nun stand. Er konnte Jos Füße spüren, wie sie einen Steinwurf entfernt auf der Erdkruste ruhten, und er befahl der Erde, einen Augenblick lang weich zu werden, damit das Mädchen bis zu den Knöcheln einsank, und sich dann gleich wieder zu verhärten. Ihr Entsetzensschrei durchbrach seine Träumerei, und Grunthor öffnete die Augen, hinter denen ein stechender Schmerz pulsierte. Eine von Kreischen unterbrochene Serie schmutziger Flüche erscholl, so laut, dass einige lose Steine in Bewegung gerieten und einen kleinen Staubsturm verursachten. Achmed lachte leise.
»Das müsste eigentlich halten, zumindest bis wir den Eingangstunnel zum Anbau erreicht haben. Dann kannst du sie wieder frei lassen. Ich denke, nicht mal Jo würde sich dem Risiko aussetzen, dass der Boden erneut ihre Füße schnappt.« Seine Augen wurden schmal, als er im schwachen Licht von Grunthors Fackel sah, wie dieser erbleichte und Schweißperlen auf seine Stirn traten. »Was ist mit dir?«
Grunthor wischte sich mit einem sauberen Leinentaschentuch die Stirn. »Mir gefällt nicht, wie sich das angefühlt hat. Ich hatte noch nie Schmerzen, wenn ich einfach nur in den Boden gesehen oder selbst das Aussehen von Fels angenommen habe.«
»Beim ersten Mal tut es bestimmt ein bisschen weh«, meinte Achmed. »Wenn man mehr Erfahrung bekommt und mit der eigenen Gabe besser umgehen kann, wird der Schmerz zurückgehen, denke ich.«
»Könnte schwören, das sagst du zu all deinen Mädels«, gab Grunthor zurück, faltete sein Taschentuch zusammen und steckte es wieder ein. »Wenn ich’s recht bedenke, hab ich genau das auch zu Brenda gesagt. Na, sollen wir uns auf die Socken machen?«
Achmed nickte, und die beiden Männer wanderten weiter in die Tiefen der Erde hinein und ließen Jo, heulend vor Wut und knöcheltief im Felsen steckend, zurück. Je tiefer Achmed in das Land reiste, das er jetzt regierte, desto stiller wurde es um ihn. Die alten Korridore, nur halb ausgearbeitet und teilweise schon wieder vom Verfall bedroht, zwangen sie häufig zum Anhalten; dann räumte Grunthor das Geröll weg und durchschnitt den Stein, fast, als wäre er flüssig, ganz ähnlich, wie er sie damals am Ende ihrer Reise an der Wurzel aus der Erde gegraben hatte. Der Lärm des fallenden Schutts währte nicht lange, und jede neue Schwelle, die sie überquerten, eröffnete ihnen eine tiefere Stille voll schwerer Luft, die sich seit Jahrhunderten nicht mehr bewegt hatte. Achmed hatte nicht einmal einen ganzen Tag gebraucht, um herauszufinden, wo das Loritorium gebaut worden war, Wobei ihm sein intensives Studium der Manuskripte in Gwylliams Schatzkammer ebenso geholfen hatte wie sein angeborenes Gespür für den Berg und sein Orientierungssinn. Nur ein Augenblick der Meditation auf seinem Thron in der Großen Halle war vonnöten gewesen. Er hatte sich vorgestellt, wo er selbst an Gwylliams Stelle den geheimen Anbau vorgenommen hätte, und hinter geschlossenen Augen waren seine Gedanken blitzschnell durch die Kurven und Biegungen der gewissenhaft gegrabenen Tunnel des inneren Berges geeilt. Sie waren den Korridoren aus der inneren Stadt von Canrif gefolgt, über die weite Heide gewandert, vorbei an Kraldurge, dem Reich der Geister, und vorbei an den Wachfelsen, die eine Barriere über Elysian bildeten, Rhapsodys versteckter Heimstatt. Er hatte den Eingang zu den alten Ruinen tief unter den Dörfern gefunden, die von den Cymrern besiedelt worden waren, jenseits einer zweiten Schlucht, geschützt durch einen jähen, mehrere tausend Fuß tiefen felsigen Abgrund. Der Eingang war klug als Teil der Bergwand getarnt, ein von Menschenhand geschaffener Spalt, der aussah wie ein Pfad für Bergziegen und inzwischen auch nur noch von Tieren genutzt wurde wenn überhaupt. Als er und Grunthor erst einmal im Tunnel gewesen waren, hatte er gewusst, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden, und er war zornig gewesen, weil Jo ihnen gefolgt war und damit das Geheimnis des Loritoriums verletzt hatte. Höchstwahrscheinlich war das Mädchen nur lästig, aber Achmed traute niemandem, und dies war ein weiteres Argument dafür, dass Rhapsodys Idee, das Straßenmädchen zu adoptieren, verrückt gewesen war. Denk an meine Worte, hatte er mit zusammengebissenen Zähnen geknurrt, du wirst es noch bereuen. Aber wie alles, was Rhapsody nicht glauben wollte, hatte sie auch diese Warnung einfach abgetan. Als Grunthor sich nun durch den Schutt arbeitete, der den Tunnel vor ihnen verstopfte, spürte Achmed die Stille noch tiefer werden. Das Gefühl ähnelte dem, das er gehabt hatte, als er in den verlassenen Ruinen, die einmal die Hauptstadt von Canrif gewesen waren, einen cymrischen Weinkeller voller Fässer und Glasflaschen mit altem Apfelwein vorgefunden hatte. Die Flüssigkeit war im Lauf der Jahrhunderte zum großen Teil verdunstet und hatte ein dickflüssiges Gel zurückgelassen, das in seiner konzentrierten Süße ungenießbar war. Die Stille in dem nun frei gelegten Teil des Tunnels war fast greifbar. Grunthor unterdessen hörte keine betäubende Stille, sondern ein sich vertiefendes Lied. Mit jeder neuen Offenbarung, jedem neuen Durchbruch der Formationen, wurde die Erdmusik reiner, schwingender, schwer von alter Magie, die in sich auch ein Gefühl des Grauens trug. Seine Finger prickelten selbst noch in den Ziegenlederhandschuhen, während er Felsbrocken und Steine auf die Seite schaffte. Schließlich hielt er inne, legte den Kopf auf den Unterarm, holte tief Luft und nahm die Musik in sich auf, die ihn nun umgab und die seine Ohren füllte, sodass jedes andere Geräusch übertönt wurde.
»Alles in Ordnung, Sergeant?«
Grunthor nickte, brachte aber kein Wort hervor. Dann strich er noch einmal mit der Hand über die Felswand und blickte endlich auf.
»Sie haben den Tunnel auf der Flucht gemacht, ehe sie überrannt wurden«, sagte er. »Es ist nicht von selbst eingestürzt. Hat den ganzen Berg ramponiert. Warum hier, Herr? Warum nicht die Wälle, warum nicht die Zugangstunnel zur Großen Halle? So hätten sie die Bolg viel länger aufgehalten; sie hätten ihnen in der Heideschlucht wahrscheinlich sogar den Weg abschneiden und zumindest den Angriff von außen abwehren können. Kommt mir sehr sonderbar vor.«
Achmed reichte ihm den Wasserschlauch, und der Riese trank gierig. »Irgendetwas muss da drin gewesen sein Gwylliam war bereit, den Berg zu opfern, damit es nicht in die Hände der Bolg und auch nicht in die Hände von jemandem fiel, den er fürchtete und der es den Bolg vielleicht abgenommen hätte. Bist du müde? Wir können zurückgehen und ein wenig rasten.«
Aber Grunthor wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf. »Nee. Jetzt bin ich so weit gekommen, da wäre es doch blöd aufzugeben. Aber da liegen noch jede Menge Steine rum, ungefähr noch mal so viel, wie wir schon hinter uns haben.« Damit stand er wieder auf, warf seinen Mantel ab und legte die Hand auf den Felsen.
Während er sich konzentrierte, wurde ihm die Beschaffenheit des Steins erneut klar. Vor seinem inneren Auge konnte er jede Spalte sehen, jede Tasche mit Luft, die seit Jahrhunderten zwischen dem fest gewordenen Geröll gefangen war. Er schloss die Augen und steckte, das Bild stets im Kopf, die Hand in den Stein, als wäre er Luft. Sofort spürte er, wie der Fels nachgab. Mit ausgestreckten Armen schob er noch ein wenig weiter und merkte, wie die Felswand sich verflüssigte und dann wegglitt wie geschmolzenes Glas, glatt und glitschig. Achmed beobachtete staunend, wie die Haut seines Freundes blass wurde, dann fahl und schließlich steingrau im schwachen Licht der Fackel, während er mit der Erde verschmolz. Einen Moment später konnte er Grunthor nicht mehr sehen, nur noch einen Schemen, einen massiven Block aus Granit und Schiefer, der sich vor seinen Augen durch die Bergwand bewegte und einen acht Fuß hohen Tunnel vor sich öffnete. Vorsichtig hielt er die Fackel in das Loch. Am Rand des neuen Gangs glühte der Fels plötzlich rotgolden, fast wie Lava, und erkaltete dann sofort zu einer glatten Tunnelwand. Achmed lächelte und trat hinter dem Schatten seines Sergeanten in die Öffnung.
»Ich wusste schon immer, dass du schnell lernst, Grunthor«, meinte er. »Vielleicht ist es ganz gut, dass Rhapsody nicht da ist, denn das hier erinnert mich stark an unsere Zeit an der Wurzel. Du weißt ja, wie gut es ihr dort unter der Erde gefallen hat.«
»Lirin«, murmelte Grunthor, und das Wort hallte von den Tunnelwänden wider wie das Knurren eines unterirdischen Wolfs. »Unter ein paar hundert Fuß hartem Felsen werden die doch schon nervös. Alles Weicheier.«
Je tiefer sie sich in die Erde gruben, desto schneller bewegte sich Grunthor vorwärts. Achmed konnte kaum mehr mit ihm Schritt halten und in dem unsteten Licht nicht einmal mehr seinen Schatten ausmachen. Inzwischen schien das felsige Innere des Berges nichts als Luft um den Riesen zu sein; bisher hatte es eher ausgesehen, als wate er durch Wasser, das ihm bis an den Bauch reichte.
Plötzlich spürte Achmed einen heftigen Luftstrom aus den Tiefen des Berges über sich hinwegbrausen, ein abgestandener und doch süßer Windhauch, schwer von Magie. Seine empfindliche Haut begann zu pieken, so voller Macht war diese Luft, dick, ungestört von der Zeit und dem Wind der Welt über ihnen. Grunthor musste im Loritorium angekommen sein. An den Überresten der Fackel, die er bisher getragen hatte, entzündete Achmed eine neue und warf die alte weg. Die Flamme loderte auf und sprang bis an die Decke des Tunnels, als stieße sie einen lauten Jubelruf aus.
»Grunthor!«, rief Achmed. Keine Antwort.
Achmed begann zu laufen, eilte das letzte Stück des Ganges entlang und durch den dunklen Schlund an seinem Ende bis in eine Höhle, die noch dunkler war als der Tunnel. Dann blieb er wie angewurzelt stehen.
Über ihm, so weit, dass das Licht der Fackel nicht ausreichte, um es zu beleuchten, erstreckte sich eine gewölbte Decke, glatt poliert und mit kunstvollen Mustern verziert, gearbeitet aus dem erlesensten Marmor, den Achmed je gesehen hatte. Jeder Block des hellen Gesteins wies eine Form auf, die haargenau in die Verkleidung der weiträumigen Höhlenkammer passte. Auch die Wände bestanden aus Marmor, allerdings waren einige noch nicht ganz fertig gestellt, und an den Rändern des gigantischen unterirdischen Saals lagen verlassen große Gerüste, Steinblöcke und Werkzeug.
Achmed wandte sich zu dem großen Felswall, der sich vor Grunthor gebildet hatte, als er sich in diese Höhle gegraben hatte. Die Fackel schwenkend, suchte er nach dem Firbolg-Sergeanten, konnte aber auf dem glatten Höhlenboden außer großen Stein und Erdhaufen, um die herum Marmorstücke verstreut lagen, nichts entdecken. »Grunthor!«, rief er abermals, während die Schatten über die neu erschaffene Moräne und die uralten Wände tanzten. Nur kurz hallte seine Stimme wider, dann wurde sie von der Stille verschluckt.
Ein niedriger Geröllhaufen zu seinen Füßen bewegte sich. Kurz darauf nahm er eine deutlichere Gestalt an. Die große Steinskulptur eines Riesen reckte sich, begann zu atmen und hob sich von Minute zu Minute deutlicher vom Fels ab.
Vor Achmeds Augen kehrte langsam die Farbe in Grunthors Gesicht zurück. Der Sergeant saß auf dem Boden, an einen großen Geröllhaufen gelehnt, der von seiner Arbeit zurückgeblieben war, und atmete langsam, während er wieder zu sich kam, sich von der Erde trennte, wie er es damals am Ende ihrer Reise an der Wurzel getan hatte.
»Himmel«, flüsterte er, als Achmed sich neben ihn kniete. Er schüttelte den Kopf, als der König ihm den Wasserschlauch anbot, kreuzte die Arme über den Knien und ließ den Kopf darauf sinken.
Achmed stand auf und schaute sich noch einmal um. Das Loritorium wies ungefähr die Größe des Marktplatzes der ehemaligen Hauptstadt von Canrif auf, einer Stadt, die zwischen den Klippen und der Basis der Wachberge am Westrand der Zahnfelsen erbaut worden war. Jetzt arbeiteten die Bolg fieberhaft daran, die Pracht wieder herzustellen, die ihr in der cymrischen Blütezeit zu Eigen gewesen war. Selbst im Zerfall waren die geniale Anlage und die Kunstfertigkeit der Gestaltung noch deutlich sichtbar.
Noch beeindruckender jedoch waren Anlage und Gestaltung des Loritoriums. Hätte Gwylliam die Gelegenheit gehabt, es zu vollenden, wäre es sein Meisterstück geworden. Wie die meisten Bauwerke, die Gwylliam entworfen hatte, hatte auch das Loritorium die Form eines gigantischen Sechsecks, in präzisen Proportionen aus dem Berg gehauen. In einer Höhe von mehr als hundert Fuß berührten die Marmorwände das Deckengewölbe. Der Boden bestand aus glatt poliertem Marmor mit Mosaiken, deren Farben in den flackernden Schatten schimmerten. Im Zentrum der Decke war ein dunkles Loch, das Achmed im Fackelschein nur notdürftig erkennen konnte.
Die Wege durch das Loritorium waren mit wunderschön geformten Steinbänken gesäumt und wurden von halbhohen Wänden begrenzt, aus denen in Abständen von wenigen Metern aus Messing und Glas gearbeitete Laternenpfähle ragten. Die Abschlusssteine der Mäuerchen waren zwischen den Pfosten mit Vertiefungen versehen, flache Rillen mit uralten dunklen Flecken, die von einer dicken öligen Substanz zu stammen schienen. Auf der anderen Seite des Loritoriums ragten zwei große Bauwerke aus dem Dunkel, gleich groß und auch identisch geformt, mit mächtigen Türen, kunstvoll aus Rysin geschmiedet, einem seltenen Metall, das im Fackellicht metallisch blaugrün schimmerte. Achmed erkannte sie sogleich aus den Plänen als Bibliothek und Prophetorium wieder Orte, die Gwylliam zur Verwahrung seiner wertvollsten Bücher und Schriftstücke vorgesehen hatte. Die Bibliothek sollte alle Schriften über altes Wissen beherbergen, während im Prophetorium alle Unterlagen über Prophezeiungen und andere dem Menschen bekannte Weissagungen aufbewahrt wurden. Beide waren demnach Lagerstätten uralten Wissens.
Achmed wandte sich seinem Freund zu. »Geht es dir gut? Bist du wieder bei Kräften?«, fragte er den riesigen Sergeanten.
Grunthor schüttelte den Kopf. »Wenn es dir recht ist, Herr, dann würd ich mich ganz gern ein bisschen hier ausruhen.«
Achmed nickte. »Ich werde mich ein wenig umsehen, aber ich komme bald wieder zurück.«
Mit einer schwachen Handbewegung bekundete Grunthor ihm sein Einverständnis, streckte sich dann im Schutt auf dem Marmorboden aus, ächzte und schloss die Augen. Der Firbolg-König betrachtete seinen Freund, bis er sich vergewissert hatte, dass dieser sich gänzlich von der Erde getrennt hatte und ohne Schwierigkeiten atmen konnte. Dann überprüfte er die Fackel sie hatte fast nichts von ihrem Brennstoff verzehrt, sondern loderte noch immer hell, als wäre sie ganz erpicht darauf, an diesem Ort voll altehrwürdiger Magie das Dunkel zu erleuchten.
Achmed ließ seinen Tornister und seine Waffen bis auf zwei Zwillingsdolche, die Rhapsody ihm zu seiner Krönung geschenkt hatte, zu Boden gleiten; sie hatte sie auf einer ihrer Entdeckungsreisen in den Berg ein paar Monate zuvor gefunden. Er untersuchte sie rasch; sie waren aus einem uralten, nicht rostenden Metall gefertigt, dessen Name niemand mehr kannte und das die Cymrer für das Gebälk von Häusern und für Schiffsrümpfe verwendet hatten. Achmed steckte sich den einen Dolch in die Scheide am Handgelenk und behielt den anderen in der Hand; so machte er sich leise auf den Weg durch die verlassene Stadt. Hohl hallten seine Schritte durch die Gässchen und hinauf zu der gewölbten Decke, obwohl er sich oben auf der Welt meistens lautlos fortbewegen konnte. In dem vergeblichen Versuch, leise zu sein, ging er langsamer, aber es half nicht viel. In der schweren Luft der neu geöffneten Höhle klang jedes Geräusch um ein Vielfaches lauter. Achmed konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Ort allzu lange keine Gesellschaft gehabt hatte und es jetzt nach Kräften auskostete.
Als er das Zentrum des Sechsecks erreichte, blieb er stehen. Hier in der Mitte des Loritoriums schien einst ein kleiner Garten gewesen zu sein, mit einem riesigen trockenen Brunnen, dessen großes glänzendes Becken von einem Kreis aus Marmorbänken umgeben war. In dem ansonsten trockenen Becken des Brunnens stand eine kleine Pfütze einer schimmernden Flüssigkeit, dick wie Quecksilber. Über der Öffnung, aus der sicherlich früher das Wasser gekommen war, lag ein schwerer Brocken Vulkangestein.
Von diesem zentralen Punkt aus hatte man einen hervorragenden Blick über das Loritorium. Achmed sah sich um. Hier und dort standen in den schmalen Gassen weitere Pfützen mit der dickflüssigen, silbrigen Substanz, die im Fackellicht glitzerte. Achmed streckte die Hand über die Lache im Brunnenbecken, zog sie aber blitzschnell wieder zurück, denn von der Flüssigkeit gingen heftige Schwingungen aus, ein Zeichen großer Macht, die er nicht kannte, die seine Finger und seine Haut aber mit ihrer konzentrierten Reinheit zum Prickeln brachte. Schließlich riss er sich von den Leuchtpfützen los und nahm den Rest des Platzes in Augenschein. Am nördlichen, südlichen, östlichen und westlichen Punkt des Platzes waren vier altarartige Gebilde aufgebaut. Achmed erinnerte sich, in Gwylliams Plänen Zeichnungen davon gesehen zu haben. Allem Anschein nach handelte es sich um die Gehäuse, in denen das aufbewahrt werden sollte, was Gwylliam als Erlauchte Reliquien bezeichnet hatte, Gegenstände aus der alten Welt, die eine ganz besondere Bedeutung und eine Verbindung zu den fünf Elementen besaßen. Achmed fluchte vor sich hin. Er hatte das Manuskript, in dem die Beschreibungen dieser Reliquien enthalten waren, nicht vollkommen verstanden, und Rhapsody war aufgebrochen, bevor sie die Schriftrolle hatte studieren und ihm erklären können. Vorsichtig ging er um den Brunnen herum und näherte sich dem ersten Gehäuse. Es hatte die Form einer Marmorschale auf einem Podest, ähnlich wie ein Vogelbad, eingeschlossen in einen großen rechteckigen Block aus klarem Stein, größer als Grunthor. Achmed bekam eine Gänsehaut, als er die tödliche Schlagfalle erkannte, die in die Basis des Steinquaders eingelassen war. Die anderen Altäre schienen ebenfalls mit Sicherungsmechanismen und anderen Schutzvorrichtungen versehen zu sein, um zu verhindern, dass jemand sie wegschaffte.
Unter gewöhnlichen Umständen war Achmed ein großer Freund von gut durchdachten Schutzvorrichtungen, aber jetzt ärgerte er sich. Noch bevor er das Loritorium hatte vollenden können, hatte Gwylliam so unter Verfolgungswahn gelitten, dass er einige der höheren Ziele in den Wind geschlagen hatte, die ihm ursprünglich vorgeschwebt hatten. Statt es zu einem Sitz der Gelehrsamkeit zu machen, wo umfassendes, freies Wissen angestrebt werden konnte, wie er es bei seinen ersten Entwürfen beabsichtigt hatte, schien es so, als wäre Gwylliam plötzlich neidisch geworden auf die Macht, die er hier zu bewahren gedacht hatte. Er hatte seinen Handwerkern befohlen, die Kunstfertigkeit, welche die kleine Stadt zu einem Paradestück der Architektur hatte machen sollen, zugunsten des Baus von ausgeklügelten Fallen und Sicherheitsmechanismen aufzugeben, die sie vor einem Angriff hatten schützen sollen. Was war wohl in diesen Gehäusen aufbewahrt worden?
Doch noch während er über diese Frage grübelte, schreckte ihn ein Grauen erregender Schrei Grunthors aus seinen Gedanken.