16

Im Tiefdunkel der Nacht erwachte Oelendra aus einem Traum. Sie stand wie vor zwanzig Jahren mit Llauron, Anwyns Sohn, zu Füßen ihrer Schwester Manwyn, der Prophetin der Zukunft. Sie zitterte in ihrem Bett, als sie sich an die Worte der Wahnsinnigen erinnerte.

Hüte dich, Schwertträger! Vielleicht wirst du den zerstören, den du suchst, aber wenn du heute Nacht gehst, trägst du ein großes Risiko. Wenn du versagst, wirst du nicht sterben, aber was dir im alten Land geschah, wird abermals geschehen: Wieder wird dir ein Stück deines Herzens und deiner Seele entrissen, wie damals, als du die Liebe deines Lebens verlorst, doch dieses Mal an deinem Körper. Und das Stück, das dir weggenommen wird, soll dich verfolgen bei Tag und Nacht, bis du um den Tod bettelst, denn er wird es als Spielzeug benutzen, es nach seinem Willen verdrehen, es einsetzen, um seine Missetaten zu vollführen, und selbst dazu, um Kinder für sich zu zeugen.

Oelendra fuhr hoch und saß kerzengerade im Bett. Die Pelzdecken waren nass von Schweiß und Tränen, und sie zitterte heftig. Langsam kroch sie aus dem Bett und trat ans Feuer. Es war fast erloschen, nur ein paar winzige glühende Fünkchen waren noch da und klammerten sich an die graue Asche. Oelendra blies auf die Glut, die rotorange aufleuchtete, und ließ sich wieder in die Hilflosigkeit einer Übermüdeten zurücksinken. Es ist nichts mehr da, schien sie zu sagen. Gib es zu, selbst die wildesten Feuer müssen eines Tages sterben. So sieht es aus.

Oelendra hätte die Gedächtnishilfe nicht unbedingt nötig gehabt, denn sie sah das Gleiche jeden Morgen im Spiegel.

Seit Jahren hatte der Traum sie nicht mehr verfolgt, sicher schon seit einem Jahrzehnt. Warum jetzt? Das Schwert war zurückgekehrt; sie hatte es gespürt, als es aus der Erde gekommen war, nur um dann zu merken, wie sich sein Feuer immer weiter von ihr entfernte, bis es schließlich ganz verschwunden war. Aber jetzt fühlte sie es wieder, bei Sonnenuntergang und bei Sonnenaufgang; es war ganz nah. Oelendra schaute in den dunklen Kamin und seufzte, als der letzte Funke verglomm. Dann ließ sie den Kopf auf den Sims sinken und schloss die Augen.

»Ich würde unsere Route nach Tyrian gern ein wenig ändern.« Ashe reckte den Hals, um ihre Stimme besser zu hören. Sie war gerade dabei, sich in dem kleinen Wandschrank anzuziehen, und ihre Worte mussten sich gegen das ständige Getrommel des Regenwassers durchsetzen, das von den Bäumen tropfte. »Ach ja?«

Der Vorhang wurde aufgezogen und Rhapsody trat ins Zimmer, sich die Stiefel zuschnürend.

»Ich möchte einen Abstecher zu der filidischen Siedlung im Gwynwald machen. Da du ja im Kreis trainiert hast, gehe ich fest davon aus, dass du sie wieder findest oder nicht?«

Auf einmal flaute der Wind ab und hinterließ eine pulsierende Stille. Ashe schwieg eine Weile. »Ich glaube schon«, antwortete er dann endlich. »Obgleich meine Ausbildung nun eine ganze Weile her ist.«

Rhapsody blinzelte überrascht. War das Unsicherheit in seiner Stimme? Er hatte sie den ganzen Weg von Canrif hierher geführt, durch Bethe Corbair, Yarim und Canderre, durch den nördlichen Teil des Gwynwalds bis zur Drachenhöhle, ohne eine Landkarte und ohne jemals auch nur ansatzweise einen falschen Weg zu wählen. Er wanderte durch den Urwald und über die endlosen Felder, die sich in allen Richtungen bis zum Horizont erstreckten, als wäre er ein Nomadenkönig und der rechtmäßige Besitzer all dieser Länder. Es erschien ihr sonderbar, dass er sich ausgerechnet über den Weg zu der riesigen Filiden-Siedlung am Fuß des Großen Weißen Baumes im Unklaren war, die ihrer Einschätzung nach nicht weit entfernt sein konnte.

»Nun, wenn du sie nicht findest, dann finde ich sie bestimmt«, meinte sie und lud sich den Tornister auf die Schulter. »Ich denke, wenn ich mich konzentrieren würde, könnte ich den Gesang des Baumes bis hierher hören. Genau genommen glaube ich, dass wir uns schon jetzt ganz in der Nähe des äußeren Hüttenrings befinden. Sind wir noch in Navarne oder bereits im Gwynwald?«

Er zögerte eine ganze Weile, ehe er antwortete: »Im Gwynwald.«

Rhapsody zog die Schnürsenkel zu. »Dachte ich mir. Ich glaube, ich war mit Gavin in diesem Teil des Waldes.«

»Ich kann den Kreis finden«, sagte Ashe kurz angebunden. »Warum willst du dorthin?«

»Ich muss eine Nachricht nach Ylorc schicken, damit man dort weiß, dass ich meine Pläne geändert habe. Ich kann unmöglich mehrere Monate abwesend sein und sie nicht wenigstens davon in Kenntnis setzen, dass es mir gut geht und wo ich mich gerade befinde. Llauron hat Botenvögel. Ich denke, wenn ich ihn darum bitte, wird er für mich eine Botschaft an Achmed senden. Aber falls das für dich ein Problem ist, dann verstehe ich das. Wie gesagt ich möchte dir nicht zur Last fallen.«

Ashe schüttelte den Kopf. »Ich nehme dich mit zum Kreis, aber ich möchte dort nicht in Erscheinung treten. Ich werde im Wald ein Stück weiter südlich auf dich warten, während du deine Nachricht verschickst, und dann begleite ich dich den Rest des Wegs nach Tyrian.«

Rhapsody lächelte. »Danke«, sagte sie. »Ich bin dir wirklich dankbar.«

Ashe setzte sich anders hin und seufzte. Kurz starrte er aus dem kleinen Fenster nach draußen, dann schloss er die Augen.

»Wenn du mir dankbar bist, könntest du es mir dadurch zeigen, dass du mich noch ein bisschen schlafen lässt. Der Morgen dämmert noch nicht einmal.«

Am nächsten Morgen kam die Sonne wieder zum Vorschein, und der Waldboden war einigermaßen trocken. Sie brachen auf, schlössen mit Bedauern die Tür der Hütte hinter sich und suchten sich wieder einen Weg am Wasserfall vorbei.

Schweigend gingen sie nebeneinander her. Ashe hatte die Kapuze wieder aufgesetzt, und was er dachte, schien dahinter ebenso zu verschwinden wie sein Gesicht. Rhapsodys eigene Gedanken schweiften in alle Richtungen und verstreuten sich wie Blätter im Wind. Nach einer Weile schloss sie die Augen und lauschte auf das Lied des Baums. Fast unmittelbar drang es an ihr Ohr; es summte leise in der Erde und in der Luft um sie herum. Ein langsames Lied, voll schlummernder Macht, ähnlich wie ein Gähnen und ein Strecken nach einem langen Schlaf, ein Aufwachlied.

Erregung durchlief sie und versetzte sie in Schwingungen. Überall um sie herum herrschte die Atmosphäre von Wiedergeburt, und sie fühlte sich dazugehörig, hier an diesem Ort des Frühlings. Ein freudiges Lächeln erschien auf ihren Lippen, als ihr plötzlich etwas einfiel. Sie blieb stehen und drehte sich schnell zu Ashe um.

»Hast du deine Ausbildung als Waldhüter hier gemacht? Bei Gavin?«

»Ja.«

Rhapsody blickte durch die Bäume nach Süden. »Im Süden des Kreisgebiets, ungefähr auf dem halben Weg zum TrefY Gwartheg, gibt es eine Wegmarkierung, eingebrannt in eine kleinblättrige Linde«, sagte sie. »Glaubst du, dass du sie anhand dieser groben Beschreibung finden kannst?«

»Ja«, antwortete Ashe, und Rhapsody meinte ein Lächeln in seiner Stimme zu vernehmen. Nachdem sie nun sein Gesicht kannte und es angenehm fand, war es noch netter, sich vorzustellen, wie er lächelte. Vorher war alles ihrer Phantasie überlassen gewesen.

»Nun, warum treffen wir uns nicht heute Abend dort? Es sind etwa neun Meilen Fußmarsch von hier, das müsste ich schaffen, wenn ich nicht aufgehalten werde.«

»Ich warte auf dich.«

»Nur bis heute Abend. Wenn ich nicht komme, dann geh ohne mich weiter. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, wenn du auch nur einen Augenblick später als nötig zu deiner Liebsten kommst. Ich bin sicher, dass Llauron mir einen Waldhüter als Begleiter aussuchen kann, der nach Süden unterwegs ist.«

Ashe schüttelte den Kopf. »Tu das lieber nicht«, entgegnete er, und jegliche Wärme war aus seiner Stimme verschwunden. »Je weniger Leute wissen, wohin du gehst, desto besser, Rhapsody. Ich würde nicht einmal Llauron davon erzählen, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

Rhapsody seufzte. »Weißt du, dass du mehr Ähnlichkeit mit Achmed hast, als mir jemals bewusst geworden ist?«, sagte sie und setzte die Kapuze auf. »Nun gut, ich werde verschwiegen sein. Leb wohl, Ashe. Falls ich dich heute Abend nicht wieder sehe, danke ich dir schon jetzt noch einmal für all deine Hilfe.«

»Gern geschehen. Ich bringe dich noch bis zu den Herber~ gen, ehe sich unsere Wege trennen. Und du wirst mich heute Abend wieder sehen.«

Sie lächelte. »Da bin ich sicher so viel du mich eben von dir sehen lässt.«

Der Wind wurde stärker und verschluckte fast Ashes leise Antwort.

»Ich habe dir weit mehr von mir gezeigt als den meisten. Hoffen wir, dass wir es beide nicht bereuen müssen.«

Außerhalb des Rings von Waldhütten, die den größten Kreis der filidischen Siedlung bildeten, befand sich eine Herberge eine Reihe kleiner Wandererhütten mit einem größeren Haus in der Mitte. Rhapsody erkannte die Gebäudegruppe als eine der Pilgerherbergen wieder. Zu einer dieser Unterkünfte hatte Llaurons Tanist Khaddyr sie gebracht, als sie zum ersten Mal zum Kreis gekommen war.

Ashe war an einer Anzahl ähnlicher Herbergen vorübergegangen, ehe er sie auf ein etwas kleineres Gebäude aufmerksam machte.

»Warum gerade dieses?«, fragte sie. »Warum nicht eines von denen, die wir vorhin gesehen haben?«

»Weil ich glaube, dass du dort Gavin finden wirst«, antwortete Ashe. Rhapsody lachte. »Es ist leichter, ein bestimmtes Flachskorn in einem Zwei-Zentner-Sack zu finden, als Gavin an einem Ort, an dem man ihn vermutet«, meinte sie. »Er könnte sich irgendwo auf dieser Seite des Kontinents befinden.«

»Nun, dann besteht die gleiche Wahrscheinlichkeit, dass er hier ist, wie irgendwo sonst«, entgegnete er achselzuckend. »Willst du ihn eigentlich aus einem besonderen Grund sehen?«

»Nein. Jemand anderes, der mich zur Burg bringen kann, ohne dass er unterwegs angehalten wird, wäre mir genauso recht.«

»Dann bist du am richtigen Ort. Frag einfach nach einem der Waldhüter; ich bin überzeugt, dass sie dir mehr als bereitwillig helfen. Aber verhandle nur mit einem, Rhapsody. Und lass deine Kapuze auf. Dann also bis heute Abend.«

Rhapsody sah ihm nach, wie er zwischen den Bäumen verschwand. Dann wandte sie sich wieder zu dem knospenden Wald um, der vor ihr lag.

Ein paar Novizen in den kapuzenlosen Roben des Filiden-Ordens wanderten plaudernd zwischen den Herbergen umher. Rhapsody wartete, bis sie im Wald verschwunden waren, ging dann zur Tür des Hauptgebäudes und wollte anklopfen.

Doch ehe ihre Knöchel das Holz berührten, öffnete sich die Tür. Vor ihr stand ein braunhäutiger Mann mit einem dunklen Vollbart, gekleidet in die grünbraune Tracht des Waldhüterregiments, jener Männer, die den Pilgern auf ihrer Reise zum Kreis und zum Großen Baum als Führer dienten. Rhapsody hielt mitten in der Bewegung inne; ansonsten wäre ihre Hand in seinem Gesicht gelandet.

»Gavin? Entschuldige!«

»Rhapsody!« Gavin starrte sie an und begann dann zu lächeln. »Was machst du denn hier?«

»Ich muss Llauron um einen Gefallen bitten«, antwortete sie. »Meinst du, ich könnte ihn sehen?«

»Das denke ich schon«, erwiderte er und zog an der Klinke, um die Tür hinter sich zu schließen. »Ich bin gerade auf dem Weg zur Burg. Nach jedem Neumond hält Llauron ein Treffen der Hauptleute ab. Du kannst mich gern begleiten, wenn du möchtest.«

»Danke«, sagte Rhapsody und folgte ihm von der Schwelle in den Wald hinein. »Mit Freuden.« Sie musste sich beeilen, mit ihm Schritt zu halten, und nahm sich vor, Ashe das nächste Mal, wenn sie ihm begegnete, ein Kompliment zu machen. Er war ungefähr genauso groß wie Gavin, hatte sich aber auf ihren gemeinsamen Wanderungen immer gebremst, damit sie nicht hinter ihm her rennen musste.

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