Die über Temple Bar an Pfählen aufgespießten Totenköpfe waren keine Häupter von Verrätern. Es waren nur die Köpfe unbekannter Männer, deren Leichen aus dem Fluß gefischt oder in Feldern und Gassen gefunden worden waren. Wenn keiner die Leichen identifizieren konnte, schnitt man ihnen die Köpfe ab, pökelte sie in einer Lake von Essig und Fenchelsamen und steckte sie hoch auf Stangen, damit jemand sie vielleicht erkenne. Aber wenn sie so über dem schwarzgrauen Gemäuer von Temple Bar im Winde hin und her schwangen, boten sie mit ihren starren, glasigen Augen den Besuchern der City nicht gerade einen warmen Willkommensgruß.
Temple Bar, ein Tor zwischen Strand und Fleet Street, durch dessen Bogen die Räder der Fahrzeuge mit großem Krach rollten, hatte zu beiden Seiten Passagen für Fußgänger. Gerade jenseits des Tores, an der Ecke von Fleet Street und Chancery Lane, stand das Wirtshaus »Königshaupt« mit seinen schwarzen Balken und seinem hoch über der Straße liegenden Balkon. »Nun, ich will's darauf ankommen lassen«, erklärte Lord George Harwell mutig. »Aber, Nick, was Mylord Shaftesbury angeht.« Am Eingang zur Fleet Street blieb Fenton stehen, um die Gegend zu betrachten. Doch George in seiner Beharrlichkeit ließ sich nicht abweisen.
»Potz Geck! Was willst du gegen ihn unternehmen?«
»Allerlei.«
»Aber wie?«
»Mylord Shaftesbury«, erwiderte Fenton, »wollte mir gnädigst eine Lehre erteilen. Gut! Nun wollen wir mal sehen, wie Mylord selber sich eine Lehre schmecken läßt.«
»Nick, du darfst ihn aber nicht fordern! Er ist ein vornehmer Lord .«
»Das ist dein Vater auch.«
»Stimmt, stimmt. Aber der alte Filz kommt selten nach London.
Er ist ein unbedeutender Mann. Mylord Shaftesbury, abgesehen von seiner Kraft und seinem ungewöhnlichen Feuer .«
»Hat er Kraft? Hat er Feuer?«
»Wenn er sie zu zeigen geruht, ei, gewiß! Laß dich warnen, Nick! Außerdem ist er ein älterer Mann, und seine Säfte sind voller Gift von dem Loch in seiner Seite. Er würde über eine Herausforderung lachen. Nun will ich dir noch den allerbesten Grund nennen, warum du ihn jetzt nicht attackieren kannst!« George deutete mit dem Finger auf das obere Stockwerk des Wirtshauses.
»Er ist von fünfzig Degen umringt. Im Hause wimmelt, es schon von Dolchen, glaube ich. Man wird dich nicht einmal in seine Nähe lassen.«
»Keine Sorge! Wir werden schon in seine Nähe gelangen.« Die Sonne schien jetzt strahlend von Himmel, und der Wind hatte sich gelegt. Aus den unzähligen, in Dunst gehüllten Schornsteinen auf den schrägen Dächern strömte schwarzer Rauch kerzengerade in die Höhe und ließ einen schweren Regen von Ruß fallen. »Nun über die Straße«, sagte Fenton zu George, »solange sie frei ist.
Vorsicht - da ist der Scherenschleifer mit seinem Rad. So -jetzt rüber!«
Sie standen dann bei dem Gitterfenster, ein paar Schritte von der Tür des »Königshaupts« entfernt.
»Zum letztenmal, Nick«, schrie George, »du kannst ihm nicht mit dem Degen zu Leibe rücken.«
»Degen?« wiederholte Fenton. »Wer spricht denn von Degen? Ich habe nicht die Absicht, ihn zu zücken.«
»Du wolltest ihm doch - eine Lektion erteilen!«
»Allerdings. Bis ihm das Maul gestopft ist. Halt - die Trophäen!«
»Was für Trophäen?«
»Der Hut mit der grünen Bandschleife und das künstliche Gebiß. Du erzähltest mir doch, daß du sie mitgenommen hättest. Gib sie mir, bitte.«
George händigte sie ihm aus, und sein Gefährte stopfte beides in die linke Rocktasche.
Obgleich Fentons Gesicht unter der Bräune ein wenig blaß war, so blickten seine Augen doch leidenschaftslos wie die eines kalt urteilenden Richters.
»Kann ich«, sagte er, »obwohl ich selbst ein renommierender Lüstling bin, über Mylord Shaftesbury urteilen? Ja, ich glaube wohl. Denn ich kann einem Manne alles verzeihen, nur eins nicht: Treulosigkeit und Verrat. Und dieser aufgeblasene Bursche hat viermal sein Mäntelchen gewechselt.«
»Nick, Nick, das ist doch allgemein Sitte!«
»Bei mir nicht!«
»Nick, um Gottes willen!« Fenton stieß die Tür auf.
George folgte ihm mit gesenktem Kopf, als wollte er damit durch die Wand rennen. In dem Tohuwabohu, das sie umgab, erkannte zunächst niemand Sir Nick Fenton.
Es war ein großer Raum mit rauchgeschwärzten Wänden. In der Mitte der rechten Wand führte eine mit Geländer versehene Treppe nach oben. Lange schwarze Bänke, lange schwarze Tische, kleine Tische, kurze Bänke, Stühle und Schemel standen bunt durcheinander. Der Dunst von Bier, Wein und Spirituosen war fast sichtbar.
Hüte und Perücken nickten über ledernen Trinkgefäßen, Zinnkrügen, Flaschen und Tassen. Manche Gäste spielten Karten, erhoben sich dabei halb von ihren Plätzen, als wollten sie sich gegenseitig an die Kehlen springen. Unter der Treppe ertönte das Klappern eines Würfelbechers. Viele rauchten aus langen, geschweiften Tonpfeifen einen groben Tabak, der dicken Qualm verbreitete.
»Hier sitzt nur das Kroppzeug der Partei«, sagte Fenton. »Wir wollen gleich nach oben gehen.« Doch George zupfte ihn am Ärmel.
»Sieh mal!« murmelte er mit vor Staunen geweiteten Augen. »Da drüben, gerade links von der Tür!«
Links von der Eingangstür saß, seitwärts zu ihnen gewandt, ein alter, sehr dicker Mann in schäbiger Kleidung an einem kleinen Tisch. Er hatte einen Bauch wie Bacchus, und seine gichtgeschwollenen Beine steckten in Schuhen mit breiten Schnallen. Sein Schädel war kahl bis auf einen Kranz von weißem Haar, das sehr gepflegt war und wie bei den alten Kavalieren bis auf die Schultern herabhing.
Von seiner linken Hüfte hing an drei altersgeschwärzten Lederriemen - Fentons Herz hüpfte vor Freude - ein alter Kavalierdegen mit Bechergriff. Und vor ihm auf dem Tisch.
»Das ist eine Zither«, flüsterte George Fenton ins Ohr. »Potz Blitz! Meg hat vorhin noch davon gesprochen. Der alte Herr ist.«
Nun, dachte Fenton, diese altmodischen Zithern gab es in meiner Jugend auch noch. Ich könnte sogar eine Melodie darauf spielen. »Verehrter Herr«, sagte er laut.
Der alte Mann zuckte zusammen. Plötzlich kam Leben in sein breites, vom Trunk verfärbtes Gesicht. Seine Augen verloren den trüben Schimmer, und sein Gesicht erstrahlte in einem Lächeln, das vielleicht sogar Mylord Shaftesburys Herz erwärmt hätte. Und seine geschwollenen Finger glitten über die Saiten der Zither und zupften eine Melodie, die in dem Stimmengewirr kaum einen Meter weit zu hören war.
»Stoßt an auf das Wohl Seiner Majestät!
Vivat hoch und heisa juchhei!
Auf daß seinen Feinden es schlecht ergeht!
Vivat hoch und heisa juchhei!«
Diese Worte kamen Fenton in den Sinn, und abermals klopfte sein Herz vor Freude bei dem Gedanken an Dinge, die er nie gesehen, aber lange verehrt hatte. Es war das Lied der Restauration.
»Du erinnerst dich ja wohl noch an >Mr. Reeve<«, sagte George in jovialem Ton zu Fenton. »Und wie oft er in dein Haus in Epsom kam, als Meg dort war? Mr. Reeve«, fügte George mit Bitterkeit hinzu, »gehört auch zu denen, die ihr Tafelgeschirr einschmolzen und das Gold für den verstorbenen König opferten. Unter Oliver wurden seine Güter verkauft, und selbst der Adelstitel wurde ihm gestohlen.«
»Und wer nichts von diesem Trinkspruch hält,
dem wünsch' ich weder Leben noch Geld,
nicht mal 'nen Strick zum .»
Bei Georges Worten verstummte die Zither allmählich. Mr. Reeves Gesicht wurde ausdruckslos. Er sprach mit gebrochener, aber immer noch kräftiger Stimme.
»Ach, lassen wir das«, protestierte er sanft, als seien ihm diese alten Geschichten zuwider.
Fenton zögerte, eine Frage zu stellen, weil er die Antwort kannte und fürchtete. Aber er konnte es sich nicht versagen. »Eure Güter und Euer Titel, Sir: wurden sie Euch bei der Restauration nicht zurückgegeben? Hat man Euch nicht entschädigt?«
»Mein lieber Junge, das ist schon fünfzehn Jahre her!«
»Aber, Sir, habt Ihr denn nicht mit dem neuen König gesprochen und Eure Petition eingereicht wie alle anderen?«
»Nu-un«, sagte Mr. Reeve mit einer schüchternen Geste, »ich bin allerdings nach Whitehall gegangen. Aber so viele scharten sich um den König! Und zweifellos mit besseren Ansprüchen als ich. Und dann waren alle die anwesend, die wir die selbstsicheren jungen Mannen nannten - so geschniegelt und gestriegelt, daß ich mich schämte.«
Mr. Reeve schüttelte den Kopf, so daß die weißen Locken auf den Schultern seines zerschlissenen Rockes zitterten. »Ich muß Euch gestehen«, bekannte er, »daß ich dieselben Sachen trug wie jetzt. Ich habe nun achtzig Jahre auf dem Buckel, und schon damals war ich ein alter, heruntergekommener Kavalier ohne Geld und ohne Kleider. Hätte ich mich Seiner Majestät genähert, würden sie mich verhöhnt haben. Also schlich ich mich davon -wie ich es nie auf dem Schlachtfeld getan habe -, ohne meine Petition präsentiert zu haben.«
»Und seid Ihr niemals wieder am Hof gewesen?«
Ein schlauer, durchdringender Blick trat in Mr. Reeves Augen, als er schmunzelnd sagte:
»Kommt, ich werde Euch mit gleicher Münze heimzahlen. Wie ich höre, seid Ihr einer der hitzigsten Anhänger der Hofpartei. Kennt Ihr Seine Majestät?«
Zwei Zeilen in Giles' Manuskript kamen Fenton zu Hilfe. »Ich . ich bin ihm im Park begegnet und habe vor ihm eine Verbeugung gemacht. Er hat den Gruß aufs höflichste erwidert.«
»Aber Ihr habt nicht mit ihm gesprochen?«
»Ich . glaube nicht.«
»Erst vor einigen Monaten, so höre ich, habt Ihr jedermann in Erstaunen gesetzt durch eine Rede im Parlament, die Mylord Shaftesbury großen Schaden zufügte. Nun! Seid Ihr am nächsten Tage etwa nach Whitehall gegangen, um von Seiner Majestät ein Wort des Lobes zu ernten?«
»Nein!« erwiderte Fenton instinktiv. Er wußte nicht, ob es stimmte, hatte aber das Gefühl, Sir Nick hätte es nicht getan. Er selbst wäre jedenfalls nicht hingegangen. »Und weshalb nicht?«
»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Fenton ganz ehrlich. »Nun, dann will ich's Euch sagen«, erklärte Mr. Reeve. »Es lag an Eurem grimmigen Stolz. Ihr wolltet beim König nicht den Eindruck erwecken, als hättet Ihr es getan, um eine Sprosse höher zu klettern auf der schmierigen Leiter, die sie alle erklimmen. Eher würdet Ihr Seiner Majestät selber den Rücken kehren. Habe ich recht?«
Fenton, der sich eine kurze Bank herangezogen und sich zu dem alten Kavalier gesetzt hatte, schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht; ich kann's nicht sagen.«
»Nun!« meinte Mr. Reeve grimmig. »Es gibt eben gewisse Dinge, die ein Mann nicht tun kann, selbst wenn er weiß, daß er im Recht ist. Besteht zwischen Euch und mir nicht eine große Ähnlichkeit?«
Fentons Hand, die verstohlen zur Geldtasche greifen wollte, hielt auf halbem Wege inne.
»Einen Augenblick, bitte«, mischte sich George ein, der krebsrot im Gesicht war. »Ich möchte nicht unhöflich sein. Doch warum seid Ihr hier? Sicherlich seid Ihr kein Sp.« George brach verlegen ab.
»Nanu!« schmunzelte Mr. Reeve. »Könnt Ihr ein ehrliches Wort wie Spion nicht in den Mund nehmen? Ich bin einer - auf meine bescheidene Art. Ich sammle hie und da ein Krümchen für Mr. Chiffinch oder gar Sir Robert Southwell, die beide zur nächsten Umgebung des Königs gehören. Ich verabscheue diese Green-Ribbon-Brut, obwohl sie die gesegnete Staatskirche wie ehrliche Männer preisen. Nicht wahr, mein junger Freund?«
Während des ganzen Gesprächs hatte Fenton seltsamerweise an Lydia gedacht. In den Schwaden des Tabakrauchs sah er sie, die Puritanerin auf Grund ihrer Erziehung, aber nicht aus dem Gefühl heraus. Er mußte daran denken, wie sehr Lydia den Mann liebte, für den sie ihn hielt; und er war gar nicht dieser Mann. Er erinnerte sich an das aufrichtige Gebet, das er am Morgen gesprochen hatte, als er Lydia zum erstenmal verließ.
»O Herr«, hatte er gebetet, »wenn doch ein alter steifer Kauz in der Gestalt eines jungen Menschen sich dieser Liebe würdig erweisen könnte!«
Nun, er würde es versuchen.
»Ich fürchte, unsere Unterhaltung muß enden«, sagte er. »Aber wollt Ihr mir einen Dienst erweisen, Mr. Reeve? Dann leiht mir Eure Zither für eine kleine Weile.«
»Die Zither? Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Mr. Reeve und schob sie über den Tisch. Sie war etwa einen Meter lang und hatte viele glänzende Saiten. »Aber zu welchem Zweck?«
»Ich gehe nach oben zum Rat des Green-Ribbon-Klubs.« Der alte Herr zeigte keine Überraschung, als Fenton aufstand, die Zither unter dem linken Arm.
»Oh, Ihr werdet es schon wagen«, brummte er, nachdem er einen Blick in Fentons Augen und einen auf das getrocknete Blut an seinen Händen geworfen hatte. »Und ich glaube, aus reinem Pläsier werde ich mit Euch gehen.«
»Nein, sachte!« rief George. »Ihr verliert ja Euren Platz als. als.«
»Pah!« höhnte die schnaufende Stimme.
Mit ungeheurer Anstrengung stellte sich Mr. Reeve auf seine geschwollenen Beine, schwankte ein wenig und stand dann fest. Seine Gestalt war fast so rund wie ein Ballon. Zärtlich klopfte er auf seinen Kavalierdegen.
»Ich bin etwas schwach in den Beinen für eine Degenfechterei«, meinte er schmunzelnd. »Aber ich weiß noch ein paar Tricks, die den ersten Mann in Spitzenpantalons erwarten, der sich mit diesen Waffen einläßt.«
»Folgt mir, wenn Ihr wollt«, entgegnete Fenton. Im Gänsemarsch bewegten sie sich auf die Treppe zu: Fenton voran, dann George und zum Schluß Mr. Reeve. Am Fuße der Treppe sprang ihnen ein Zapfkellner mit dem dichten schwarzen Haarwuchs eines Wilden in den Weg.
»Bedaure, Sir. Ihr könnt nicht hinauf.« Fenton blickte ihn mit gefährlich blitzenden Augen an. »Ich bin Sir Nicholas Fenton«, sagte er und sah, wie bei dem Namen die Furcht in den Augen des Zapfkellners aufsprang. »Ihr werdet bei guter Gesundheit bleiben, wenn Ihr beiseite tretet.«
Der Zapfkellner wich zurück, hob jedoch den Kopf, als wolle er etwas nach oben rufen. Fentons rechte, von der Zither verborgene Hand fuhr nach dem Degengriff, und die Klinge sprang ein Stück heraus. Der Zapfkellner sah, daß es Fenton mit seiner Drohung ernst war.
»Ich werde meinen Mund halten, Sir«, flüsterte er.
Ungezwungen gingen die drei nach oben; Mr. Reeve keuchte allerdings etwas und zog seine geschwollenen Beine nach. Die Wand war zu ihrer Rechten. Fenton, der den Kopf ein wenig zur Seite gewandt hatte, hielt die Zither so, daß sie weithin sichtbar war. Die jetzt brüllende Menge im unteren Raum schwankte zwischen teil weiser und gänzlicher Betrunkenheit. Mehr als achtzig Augenpaare richteten sich neidisch auf die Treppe. Aber sie sahen nur ein Musikinstrument für die Unterhaltung der Großen und wandten sich ohne weiteres Interesse wieder Pfeife, Krug und Karte zu.
Normalerweise fand man im oberen Stockwerk eines Wirtshauses nur private Gasträume. Aber das »Königshaupt« hatte, wie Fenton entdeckte, als sein Kopf über die Höhe des Fußbodens ragte, nur einen einzigen langen Raum, der der unteren Schankstube entsprach. Seine Decke wurde von schwarzen Säulen mit Galgenarmen getragen. Das Licht drang nur mit Mühe durch die rußigen Scheiben der Gitterfenster. Etwa dreißig Herren und einige edle Lords saßen in ernster Beratung beisammen. Abgesehen von dem Rauch, der von unten her nach oben zog, war hier die Luft nicht verqualmt; es brannten nur ein paar Pfeifen. Die glanzvolle Pracht der Röcke, Westen und goldenen Kniebänder und die größeren und besser gelockten Perücken unter den breiten Hüten zeigten an, daß hier Männer von Rang oder zumindest Männer von Wohlstand saßen.
Er herrschte fast gänzliche Stille. Obgleich sie die Schritte auf der Treppe hören mußten, gaben sie in recht affektierter Weise vor, nichts bemerkt zu haben, und schienen sich nur für ihr eigenes Geflüster zu interessieren.
Das Treppengeländer lief hier oben parallel zu der entfernten Schmalseite des Raumes. Dort stand ein langer Tisch, der einem Beratungstisch glich, und daran saßen nur zwei Männer mit dein Gesicht zum Geländer.
Ich kenne dich, dachte Fenton. Nur zu gut kenne ich dich aus deinen Porträts. Wollen mal sehen, ob du auf Sticheleien reagierst, wie es heißt.
Links hinter dem hohen Tisch saß Mylord Shaftesbury. Er hielt den Kopf mit der ungeheuren flachsenen Perücke gesenkt, so daß sein Gesicht nicht zu sehen war. Er hatte ein kleines Weinglas vor sich stehen. Einige der aufgesteckten Köpfe über Temple Bar waren der Fleet Street zugekehrt, und einer stierte über Mylords linker Schulter zum Fenster herein.
Rechts saß der große, untersetzte, rotgesichtige George Villiers, der zweite Herzog von Buckingham, der auf Ende Vierzig zuschritt und nicht mehr viel Sinn hatte für Streitigkeiten und Degenfechterei. Für ihn war die Politik, wie so vieles andere, nur ein Spielzeug. Er trug wein-farbene Seide. Seine braune Perücke war reich gewellt und gelockt. Ein Literkrug stand vor ihm auf dem Tisch.
Fenton ging ein Stück weit am Treppengeländer entlang, lehnte sich nachlässig mit dem Rücken dagegen und hob die Zither an die Brust. George und Mr. Reeve stellten sich rechts von ihm auf. Immer noch rührte sich keiner, und niemand blickte auf. Fentons Finger glitten mit einem schnarrenden Ton über die Saiten. Er versuchte, eine Melodie zu zupfen, und jeder Ton drang allen laut, klar und mißtönend in die Ohren.
»Stoßt an auf das Wohl Seiner Majestät!
Vivat hoch und heisa juchhei!
Auf daß seinen Feinden es schlecht ergeht!
Vivat hoch und heisa juchhei!... «
Er war außer Übung und spielte so ungeschickt, daß Minuten verstrichen, ehe man die Melodie erkannte. Der erste, der plötzlich daraus klug wurde, war Mylord Shaftesbury selbst, und zwar gerade, als er sein Weinglas zum Munde führen wollte. Er stellte es leise wieder auf den Tisch und schob es von sich. Alle Bewegung erstarrte. Ein Weinkrug fiel klirrend zu Boden. Seine Gnaden von Bucks ergriffen als erster das Wort.
»Sir Nicholas«, begann er in seiner tönenden, nicht unfreundlichen Stimme, »wenn Ihr gekommen seid, um Euch einer Gesellschaft guter Patrioten anzuschließen -nun, so macht's Euch bequem und seid willkommen! Aber.«
Perücken neigten sich zueinander, und Bucks, wie man den Herzog von Buckingham allgemein nannte, sprach nun in schärferem Ton: »Mylord Shaftesbury wünscht zu wissen, warum Ihr hier seid.«
Fenton erwiderte in der gewaltigen Stimme, die Sir Nick in der »Gemalten Kammer« gebraucht hatte: »Dann soll Mylord die Frage selber stellen.« Shaftesbury blickte auf. Bei oberflächlicher Betrachtung schien sein Gesicht fröhlich zu sein trotz einer gewissen Schärfe, bedingt durch die lange Nase, das spitze Kinn und die großen hungrigen Augen. Nach den Begriffen jener Zeit galt er als alter Mann; er war vierundfünfzig. Er besaß viel Charme. Mit seiner beredten Zunge und seiner Schlauheit hatte er drei Frauen gewonnen, die er nur aus politischen Gründen heiratete. Stets trug er eine undurchdringliche Miene zur Schau.
Im Augenblick hielt er ein Spitzentüchlein in der Hand, das er in die Luft warf und wieder fing. Dies wiederholte er zwei- oder dreimal, als suchte er in seinem Gedächtnis nach einem Namen, der ihm nicht geläufig war. »Hm . Sir Nicholas Fenton?«
»Mylord. Shaftesbury?«
Ein Knarren ging plötzlich durch den ganzen Raum, als würden Stühle und Bänke ein wenig zurückgeschoben, als hätten sich Beinmuskeln gestrafft. Mylord hatte den ersten Pfeil geworfen, und der war ihm direkt wieder ins Gesicht geflogen. Aber er schien nichts zu bemerken und spielte weiterhin mit seinem Taschentuch.
»Nun, Sir Nicholas«, sagte er mit einem nachsichtigen Blick, »Ihr seid, wie es scheint, ein hoffnungsvoller und, soweit ich sehen kann, sehr ingeniöser junger Mann. Was kann ich für Euch tun?«
»Zunächst, Mylord, möchte ich Euch über Eure zweite Lektion Bericht erstatten.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Bei Eurer ersten Lektion, wo Ihr mir in einem einsamen Feld drei Spitzbuben auf den Hals jagtet, blieben zwei von ihnen, furcht' ich, auf der Strecke, während der dritte entkam. Ich habe die Sache damals weiter nicht beachtet. Aber jetzt.« Fenton reichte George die Zither, der sie an Mr. Reeve weitergab, und zog aus seiner linken Tasche einen zerknüllten Hut mit einem grünen Band. Er glättete ihn mit der Hand.
»Dieser Hut«, begann er von neuem, während er ihn mit einem Ruck über die Perücken schleuderte, so daß er vor Lord Shaftesbury auf dem Tisch landete, »gehörte dem ersten Bully von Alsatia, den Ihr am Vormittag auf mich gehetzt habt. Der Mann liegt jetzt, mit einem Degenstich vom Hals bis zum Gehirn, auf ein paar Feuereimern.«
Mylord warf nur sein Taschentuch in die Höhe und fing es wieder.
»Und diese falschen Zähne hier«, fuhr Fenton fort. Unter den aufmerksamen Blicken aller zog er die falschen Zähne aus der Tasche, die jetzt noch abstoßender aussahen als vorher. Er warf sie zu Mylord Shaftesbury hinüber. Sie landeten jedoch, in tausend Stücke zerbrechend, auf dem Tisch eines anderen Lords, der entsetzt auf die Füße sprang.
»Sie wurden von dem zweiten Verbrecher getragen«, bemerkte Fenton, »mit dem sich mein Freund hier, Lord George Harwell, befaßte. Diesem Schurken habe ich einen Hieb versetzt, der ihm hoffentlich den Garaus machen wird.« Mit veränderter Stimme fügte er hinzu. »Mylord, Eure Aufmerksamkeiten werden mir allmählich lästig.«
Shaftesbury zog die Augenbrauen hoch.
»Meine Aufmerksamkeiten!« fragte er leise. »Ich fürchte, da schmeichelt Ihr Euch zu sehr. Und selbst, wenn dem so wäre! Wollt Ihr, ein bescheidener Baronet, auf Rache gegen mich sinnen?«
»Nein, Mylord. Ich bin hier nur, um Euch etwas über die Zukunft zu erzählen.«
Ein höhnisches Lächeln erschien auf allen Gesichtern, das jedoch seltsamerweise bald erstarb.
»Ei der Daus! Könnt Ihr weissagen?« wollten seine Gnaden der Herzog von Bucks wissen, der sich interessiert vorbeugte. Doch Shaftesbury brachte ihn mit einer kurzen Geste zum Schweigen.
»Ein Wahrsager also?« spottete er. »Bitte, sprecht!«
»Seine Majestät, Mylord, ist der Vater seines Volkes oder zumindest einer großen Zahl davon. Von seinen illegitimen Kindern wimmelt, es nur so. Aber er hat keine legitimen Kinder, weil Königin Catherine keine gebären kann. Nichts auf der Welt kann ihn dazu bewegen, sich von ihr scheiden zu lassen. Sein Erbe ist daher sein Bruder, der Herzog von York.
Und der Herzog von York, so heißt es, ist katholisch geworden. Euer erster Schritt wird sein, Seine Gnaden den Herzog von York durch eine Parlamentsakte vom Thron auszuschließen. Euer nächster Schritt wird sein, König Charles selbst zu vertreiben, hauptsächlich durch Euer Losungswort.«
»Nieder mit den Papisten!« schrie einer der Lords und schlug mit seinem Krug auf den Tisch.
Andere griffen diesen Ruf auf, und er drang bis unten in das Schankzimmer, wo ein donnerähnliches Getöse von »Nieder mit den Papisten! Nieder mit den Papisten!« an die Wände schlug und sie fast zum Bersten brachte. Zapfkellner rannten die Treppe auf und ab, um mehr Getränke für die Großen herbeizuschaffen. Bucks schluckte in einem Zug über ein halbes Liter Wein. Mylord Shaftesbury wartete selbstgefällig, bis der Lärm sich legte. Fenton lehnte sich inzwischen nachlässig an das ziemlich niedrige Treppengeländer. Auf seinen Zügen lag ein heiteres, zuversichtliches Lächeln. Der Führer der Grünbebänderten sprach ironisch: »Ihr erzählt uns also die Geschichte von Vater Adam und Mutter Eva.«
»Halt! Es geht noch weiter.« Fenton richtete sich auf. »In einigen Jahren, Mylord, werdet Ihr in diesem Lande zu ungeheurer Macht gelangen. Ihr werdet in die Geschichte eingehen« - hier leuchteten Mylords Augen unter den gesenkten Lidern befriedigt auf - »als der erste große Parteiführer, als der Vater der Wahlkampagnen-Bered-samkeit und der >Flüsterkampagne<, der die mobile Partei, die wankelmütige Masse<, in den gefürchteten Mob verwandelte.
Hört zu, es kommt noch mehr! In drei Jahren wird ein gemeiner Lügner auftreten mit dem falschen Gerücht von einer >papistischen Verschwörung<, und Ihr werdet dies benutzen, um die Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. Blut wird in Strömen fließen, Flammen werden aufsteigen, und viele Morde werden von dem Henker begangen. Und am Ende .«
Bei diesen Worten schmunzelte Mylord Shaftesbury. Sanft schwenkte er das Spitzentüchlein hin und her. »Und am Ende?« fragte er.
Fentons Stimme ertönte wie Sir Nicks in der »Gemalten Kammer.«
»Am Ende werdet Ihr versagen«, entgegnete er. »Der König wird Euch - nachdem er Euch genug Spielraum gegeben hat, um ins Verderben zu rennen - zunächst überlisten und dann in seiner Faust zermalmen.«
Ein heiseres Gelächter, das an einem Tisch erschallte, wurde von Mylord mit einer leichten Geste unterdrückt. Er schien - beinahe - ungerührt. »Dies sind alles Hirngespinste«, wandte er ein. »>Einige Jahre
»Wahrlich, Mylord, das kann ich. Was meint Ihr zu . neun Tagen?«
»Na, das ist schon besser! Nun?«
Wieder lehnte sich Fenton mit dem Rücken ans Geländer. »Im Augenblick, Mylord, gehört Ihr zum Rat Seiner Majestät, dem höchsten und geheimsten im Land. Ihr haltet Euch für zu mächtig, um daraus entlassen zu werden. Aber in genau neun Tagen - neun Tage, Mylords und Gentlemen! - wird man Euch aus dem Rat entlassen, wie man einen Hund mit einem Fußtritt vom Stuhl befördert, und Euch aus London jagen!« Bei diesen Worten entstand ein Aufruhr, und dreißig Paar Augen wurden von Sekunde zu Sekunde drohender. Der alte Mr. Reeve faßte mit der Rechten nach seinem Degengriff. Doch Mylords leiseste Geste hielt sie immer noch im Zaum.
»Nun, möchtet Ihr wohl eine Wette darauf eingehen, Sir Nicholas?«
»Ich wette um mein Leben«, erklärte Fenton. »Wenn Ihr am 19. Mai nicht entlassen werdet, verspreche ich, allein und unbewaffnet auf irgendein beliebiges Feld außerhalb Londons zu gehen, das Ihr zu nennen geruhen wollt. Merkt Euch das Datum: der 19. Mai.«
»Sorgt dafür, daß es notiert wird, guter Bucks.«
»Und dann«, schleuderte ihm Fenton ins Gesicht, »wenn Ihr Euren Kampf gegen den König verloren habt, werdet Ihr wahrlich alt und geistig zerrüttet sein. Ihr werdet Euren dürren Arm schütteln und rufen: >Ich habe zehntausend flotte Kerle zu meiner Verfügung.< Aber es wird niemand auf Euch hören. Ihr werdet allein sein, ohne Freunde und aller Macht beraubt.«
Tödliches Schweigen. Denn alle hatten einen Blick auf Mylords Gesicht geworfen.
»Aller Macht beraubt!« Außer Fenton und Mylord Shaftesbury konnte keiner im Raum die Bedeutung dieser Worte ermessen. Mylord Shaftesbury, obwohl von durchaus echtem Haß gegen die katholische Kirche erfüllt, verlangte nach Macht, grenzenloser Macht. Und um diese zu erlangen, scheute er vor keiner Handlung zurück, mochte es sich um eine kleine Lüge oder um Massenmord handeln.
Plötzlich erhob er sich hinter seinem Tisch und schlug mit dem Spitzentüchlein auf die Kante. Gelassen, als wollte er seinen grünen Rock zurechtzupfen, wandte er sich zur Seite. Doch durch die Fensterscheiben hindurch sah er den abgetrennten Kopf, der ihm von der Stange über Temple Bar ins Gesicht grinste. Die ganze Zeit über hatte dieser, leicht hin und her schwankend, in den Raum gestiert. Mylord Shaftesbury drehte sich rasch wieder um und setzte sich hin.
»Nun, Sir Nicholas«, meinte er mit einem fröhlichen Lachen, »Ihr habt in der Tat großes Zutrauen zu Eurer Wahrsagekunst.«
»Nein, Mylord!« sagte Fenton rasch. »Ich bin kein Wahrsager. Meine Fähigkeit, die Ereignisse vorauszusagen, beruht auf einer natürlichen Ursache, auf mir bekannten Tatsachen.«
»Ich möchte Euch nun gern«, sagte Mylord, »mit allen meinen guten Freunden hier bekannt machen. Leider ist das nicht möglich. Aber einer ist sicherlich darunter, dem ich Euch vorstellen muß!«
Sofort neigte sich Bucks' Perücke zu Shaftesbury hinüber. Bucks flüsterte ihm etwas zu und schüttelte protestierend den Kopf. Andere Perücken krochen zum erhöhten Tisch, und es begann ein großes Geflüster. Einmal schnappte Fenton zwei Worte auf: »Keinen Krawall.« Und eine andere Stimme stieß ihre Zischlaute so kräftig hervor, daß die Lauscher verstehen konnten, was gesagt wurde.
»Daß Euch die Pest! Ihr spielt Eueren Trumpf zu früh aus!«
»Sei vorsichtig«, murmelte George und stieß Fenton seinen linken Ellbogen in die Rippen.
»Ei ja«, brummte Mr. Reeve. »Es wird hier noch ein Blutbad geben!«
Fenton, der seinem Gegner die versprochene Lektion erteilt hatte, wartete gelassen ab.
Doch Mylord Shaftesbury hörte nicht auf die Einwendungen der anderen. Er flüsterte ihnen etwas zu, was sie zu befriedigen schien, und sie schlichen sich auf leisen Sohlen an ihre Tische zurück. »Also nun!« rief Mylord und deutete auf einen runden Tisch zu Fentons Linken. Mit einer energischen Handbewegung veranlaßte er einen der Männer, aufzustehen.
Es erhob sich die seltsamste Figur, die Fenton je gesehen hatte. Der Mann war noch größer und hagerer als Freund Langbein in der Totenmannsgasse. Doch damit hörte alle Ähnlichkeit auf. Er trug eine enorme Perücke, größer als alle anderen im Raum, noch dazu mit Gold bestäubt: eine Mode, die König Ludwig XIV. eingeführt hatte. Sein langes Gesicht war entweder sehr blaß oder stark gepudert, und auf jeder Wange lag unverkennbar ein Tüpfelchen Rouge. Er trug einen weißen, mit goldenen Lilien verzierten Rock, eine dunkelblaue Weste mit Goldknöpfen, weiße enganliegende Kniehosen, rote Strümpfe und weiße Schuhe mit hohen roten Absätzen.
Doch niemand im Raum, Fenton selbst nicht ausgenommen, ließ sich durch das Äußere täuschen.
Viele der tapfersten Degen, die sich verzweifelt bemühten, die Mode mitzumachen, äfften das weibische Gebaren einiger kleiner Lords oder Schauspieler nach. Aber in diesem maskulinen Zeitalter war es meistens nur Mache. Hinter allem lauerte ein tödlicher Degenarm. In der Pracht steckte oft ein so männliches Wesen wie König Charles selbst.
Mylord Shaftesburys säuselnde Stimme ließ sich vernehmen. »Darf ich Euch bekannt machen«, sagte er, »mit Captain Duroc, vordem persönlicher Begleiter des französischen Königs.«
»Tod und Verdammnis!« flüsterte George. Seine rechte Hand ließ den Degengriff los und schlüpfte links unter den Rock, wo der Dolch unter seinem Arm in der Scheide hing. »Ruhig Blut!« mahnte Fenton und wandte sich nach links, um Captain Duroc gegenüberzutreten, von dem er so viel gehört hatte.
Captain Duroc kam in seiner weißen Pracht langsam auf ihn zu. Seine harte, langfingerige linke Hand ruhte leicht auf dem goldenen Knopf eines Degens, der nach französischer Sitte an einem Degengehenk befestigt war, das unter dem Rock von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte reichte.
Immer noch herrschte tiefes Schweigen, während die Zuschauer mit aufmerksamen, amüsierten Blicken die Szene verfolgten. Manche blieben sitzen, viele standen auf, und andere blickten über die Schulter ihrer Gefährten.
Captain Duroc blieb in zwei Meter Entfernung vor Fenton stehen. »Monsieur!« sagte er fast zärtlich.
Ein Lächeln erhellte seine dunklen, schwimmenden Augen. Er legte einen Arm über die Brust und machte eine tiefe Verbeugung, so daß einige Goldstäubchen von seiner Perücke rieselten. Fenton erwiderte die Verbeugung mit ernstem Gesicht, ohne zu sprechen.
»Ach«, sagte Captain Duroc, der sich, die Hand auf dem Herzen, wie ein Schauspieler aufrichtete, »es ist sehr bedauerlich, daß wir beide verschiedener Meinung sein müssen, nicht wahr?« Du bist kein Franzose, dachte Fenton. Deine Aussprache ist fürchterlich. Du bist wahrscheinlich irgendein Bastardprodukt aus Mitteleuropa.
»Aber es darf hier keinen Krawall geben«, fuhr Captain Duroc mit schockiertem Blick fort. »Nein, nein, nein, nein! Nur die kleine Beleidigung, die Wahl der Sekundanten, des Ortes, der Stunde . heute, morgen? Wann Sie wollen. Tout à fait comme il faut, n'est-ce-pas?«
Captain Duroc kam ein wenig näher.
»Helas!« hauchte er. »Nun zu dem Streit. Er darf nicht sein von politischer Natur. Nein, nein, nein!« Durocs schwimmende Augen wurden pfiffig. »Wir werden sein wie Ritter aus alter Zeit, ja? Ich nun stelle eine Frage!«
Hier stieß er seine lange Nase Fenton fast ins Gesicht. Das Rouge leuchtete förmlich auf seinen Wangen.
»Wer ist die Schönste im ganzen Land?« fragte Duroc. »Schnell! Wer ist es?«
»Meine Frau!« entgegnete Fenton hitzig. Diese Antwort löste einen Sturm von Gelächter aus.
In den Ohren dieser Generation - das wurde ihm sofort klar - mußte sie höchst töricht klingen. Die Green-Ribbon-Leute schrien und hämmerten mit ihren Krügen auf die Tische und riefen: »Bravo!« oder hoben die Krüge, als wollten sie einen Toast ausbringen.
Captain Duroc, der einen meisterhaften Komödienschauspieler abgegeben hätte, wandte sich langsam seinem Publikum zu, zog die Schultern bis zum Hals an und spreizte die Hände, während seine Augen kummervoll dreinblickten.
»Tiens«, schien er zu sagen, »was kann ich mit einem solchen Mann anfangen?«
Fentons Wangen brannten. »Ruhe bewahren!« mahnte ihn eine innere Stimme. »Ruhe bewahren!« Und er faßte sich wieder. Er hatte sich natürlich wie ein Narr benommen. In dem seltsamen Blick, den ihm der Captain zuwarf, lagen Amüsement und Verachtung. Dieser große Pseudofranzose mit seinem gemalten Gesicht und dem affektierten Wesen glaubte offenbar, er könne einen Gegner in zwei oder drei Gängen erledigen. In kaltblütiger Weise, mit einem Anflug von Komik, arrangierte er ein Duell, das den kostbaren Green-Ribbon-Klub nicht mit einbeziehen sollte. Wiederum machte Captain Duroc eine dramatische Wendung.
»Monsieur«, sagte er traurig, »ich bedaure sehr, aber hier gehen unsere Meinungen auseinander. Denn die schönste Dame, vous comprenez, ist die reizende Madam Meg York .«
»Laß mich vorbei!« ertönte Georges keuchende, heisere Stimme. »Einmalige Gelegenheit; genug!«
George hätte sich nicht lange mit formellen Dingen, wie Degenziehen, aufgehalten, sondern wäre ihm gleich mit dem Dolch an die Kehle gesprungen, wenn Fenton es gestattet hätte - und vielleicht wäre es am besten gewesen.
»Und nun«, verkündete der Captain, »muß ich Ihnen die Beleidigung verabfolgen. Aber ich will Ihnen nicht wehe tun; nein, nein, nein!« Wieder blickte er schockiert drein, wobei er tausend Grimassen schnitt.
Er krümmte seinen hageren Körper und stellte sich auf die Spitzen seiner weißen Schuhe mit den roten Absätzen. Dann streckte er den Arm aus und gab Fenton einen Nasenstüber. »Voilà!« sagte er.
Die Geste wirkte so grotesk und lächerlich, daß der ganze Raum wieder vor Lachen brüllte. Tränen strömten aus Green-Ribbon-Augen und flossen über Green-Ribbon-Wangen. Captain Duroc, der sehr mit sich zufrieden war, lehnte sich gelassen an das Treppengeländer.
»Dies ist also die Beleidigung?« fragte Fenton mit lauter Stimme. »Mais naturellement, mon ami!«
Fentons Körper drehte sich um seine eigene Achse, und seine flache rechte Hand klatschte auf Durocs linke Wange mit einem Geräusch, als prallte eine Musketenkugel auf eine dicke Lederscheibe.
Captain Duroc taumelte über das Geländer und fiel mit einem gewaltigen Aufprall der ganzen Länge nach auf die Treppe. Die Perücke wurde ihm vom Kopf geschleudert. Er schrie einmal auf, ehe er in einem Wirbel von Degen, Beinen, Armen und Spitzenkrausen zum Fuß der Treppe rollte, wo er unbeweglich liegenblieb. Ein Mitglied der Grünen Meuterer stürzte in einem weiten Bogen um Fenton herum ans Geländer. In der Tiefe beugten sich ein Zapf-kellner und verschiedene andere über Captain Duroc. »Ist was passiert?« ertönte ein Ruf von oben. »Kann's nicht sagen, Sir«, rief der Zapfkellner gellend zurück, so daß alle es oben hören konnten. »Es gefällt mir aber nicht. Das linke Bein ist gebrochen, wie mich deucht. Drei Häuser weiter wohnt ein Bader, der gleichzeitig Wundarzt ist. Sollen wir den herbeiholen?«
Der Mann an der Treppe blickte Shaftesbury fragend an, der bejahend nickte. Die Zustimmung wurde nach unten gebrüllt. »Zieht Euren Degen, alle beide!« flüsterte Mr. Reeve mit scharfer Stimme. »Und dann zur Treppe! Diese Memmen werden Euch nicht hindern.«
Durch Ruß verdunkeltes Sonnenlicht fiel auf die Klingen, als die drei Männer die kurze Entfernung zum Treppenkopf zurücklegten. Mr. Reeve hob seine Stimme, damit alle ihn hören konnten: »George, Ihr geht als erster nach unten. Dolch in der Linken, Mann, und zugestochen, wenn einer Euch wehrt! Ich gehe zwischen Euch und singe ein Lied für die Verräter und Gimpel! Nick, Ihr bildet die Nachhut. Der erste, der Nick Fenton attackiert, ist ein toter Mann. Das wissen sie alle!«
Mit dröhnenden Schritten ging George die Treppe hinunter, den Degen in der Rechten, den Dolch in der Linken. Mr. Reeves Hand zupfte die Saiten und sang mit heiserer Stimme:
»Stoßt an auf das Wohl Seiner Majestät.«
Einer der Lords zog blitzschnell seinen Degen. Fenton, der oben an der Treppe stand, sprang herum, um sich zu stellen. Ein seltsames Triumphgefühl schoß ihm heiß durch die Adern, weil er jetzt auf sich allein angewiesen war. Sir Nick war nicht präsent, um ihn zu unterstützen. Ihm standen nur die Kenntnisse des Florettfechters zur Verfügung, aber er beabsichtigte, vollen Gebrauch davon zu machen.
»Auf daß seinen Feinden es schlecht ergeht...«
Am erhöhten Tisch nippte Mylord Shaftesbury delikat an seinem Gläschen Wein.
»Na«, fragte er mit trockenem Sarkasmus, »kann wohl irgendein Mensch tatsächlich die Zukunft weissagen?«
»Ach nein, das ist töricht«, brummte Bucks, die Augen auf die Treppe gerichtet. »Aber wäre ich nur zehn Jahre jünger .«
»Auf ihn, Mylord!« rief eine Stimme aufmunternd Fentons Angreifer zu.
Der Lord tanzte zur Seite, Arm und Klinge ausgestreckt - und blieb dann wie angewurzelt stehen, volle vier Meter von Fentons noch blutverkrusteter Klinge entfernt. Langsam senkte Mylord den Degen.
»Und wer nichts von diesem Trinkspruch hält.«
»Solche Hirngespinste«, murmelte Shaftesbury, »könnten, wie ich schon bemerkte, von jedem geäußert werden. Aber die Anspielung auf meine Entlassung aus dem Rat! Ich glaube, dieser Fenton genießt das Vertrauen des Königs weit mehr, als ich angenommen hatte.«
»Dem wünsch' ich weder Leben noch Geld... «
Inzwischen war Fenton, immer noch auf der Hut, rückwärts die Treppe hinuntergegangen.
»Platz da!« bellte George von unten her. »Öffnet die Tür!«
»Nicht mal 'nen Strick, sich zu hängen ...«
Beide Flügel der Haustür flogen krachend zur Seite. »Wenn ich einen Mann nicht ausstehen kann«, murmelte Mylord Shaftesbury, »so lebt er gewöhnlich nicht lange. Ein drittes Mal wird er mir nicht entkommen.«
»Vivat hoch und heisa juchhei... heisa juchhei!«
Und so verließen erhobenen Hauptes und stolzen Herzens drei königstreue Männer das Wirtshaus zum »Königshaupt«.