Die Räumlichkeiten des »Fetten Kapauns« waren zwar ziemlich groß, aber qualmig und düster. Nur die rotglühenden Kohlen in dem riesigen, aus Eisen und Ziegelsteinen erbauten Kamin im Hintergrund verbreiteten etwas Helligkeit. Die lastende Hitze strömte an feuchten Wänden vorbei zum Fenster hinaus.
»Finster ist's in der Hölle«, sagte Fenton vor sich hin, als George an einem der langen schwarzen Tische einen Stuhl herauszog. Es wäre, dachte er, ein wunderbarer Platz für ein Treffen mit dem Teufel. Würde er aber dem Teufel noch einmal begegnen?
»Nehmt Platz und laßt's Euch wohl sein, meine Herren!« sagte der Wirt, ein fetter Mann mit aufgerollten Ärmeln und einem breiten Gürtel um die Hüften. »Und womit darf ich Euren Gaumen kitzeln?«
»Für mich«, erwiderte George, »einen guten Kapaun und, sagen wir, vier Tauben.« Er warf dem Wirt einen finsteren Blick zu. »Es sind doch wohl fette, zarte Tauben, die auf der Zunge zergehen, wie?«
»Sir«, entgegnete der Wirt hochnäsig, »eine andere Sorte findet Ihr bei uns nicht.«
»Und für diesen Herrn«, fuhr George fort, der sah, daß Nick in Gedanken versunken auf den Tisch starrte, »ha! ich hab's! Eine große Fleischpastete mit kräftiger Sauce und einen feinen Rostbraten. Für jeden von uns eine Kanone von Eurem besten Kanariensekt.«
Fenton kam allmählich wieder in gute Laune, seitdem Megs Kutsche schwerfällig zum Stehen gebracht worden war. Die Unterhaltung mit Meg vor wenigen Minuten hatte manches in einem neuen und gefährlicheren Licht erscheinen lassen. Sollte er denn niemals zur Ruhe kommen, fragte er sich, ohne von allen Seiten bedrängt zu werden? Seine Gedanken wanderten zum Strand zurück, wo er und George auf Megs Geheiß in die Kutsche geklettert waren.
»Zu Fuß gehen, das ist so unangenehm!« hatte Meg gesagt. »Wie, Ihr geht nur ein paar Schritte? Ei, dann müßt Ihr Euch eine Weile zu mir setzen und einen fröhlichen Diskurs halten.« Die Kutsche hatte mannshohe Räder, und ihre riesige Karosserie hing an dicken Ledergurten. Sie wurde von zwei schweren braunen Pferden gezogen. Bis zu ihrem spitz zulaufenden Dach war sie mit hellgoldener Farbe bemalt, und unter den Glasfenstern prangte Sir Nicks Wappen mit vier Wappenfeldern.
»Meine Gnädigste«, murmelte George, dessen Gesicht in der Gegenwart seiner Angebeteten hochrot angelaufen war. »Es liegt mir fern, mich . mich aufzudrängen .»
Woraufhin er beim Einsteigen über die eigenen Beine stolperte und zu seiner großen Verlegenheit gerade Meg gegenüber in die weinroten Polster sank.
»George!« sagte sie mit liebkosender Stimme. »Könntet Ihr Euch jemals aufdrängen?«
Fenton sprang leichten Fußes in die Kutsche und ließ sich in die am weitesten von Meg entfernte Ecke fallen. Meg machte den Eindruck einer feinen Dame, die einen anstrengenden Vormittag in den Läden hinter sich hat.
Ihren Pelzumhang, Muff und Hut hatte sie neben sich auf den Sitz gelegt. Ihr Oberkörper in dem tiefausgeschnittenen Mieder zeigte eine abgespannte Haltung. Und doch schien ein heimliches Feuer in ihr zu schwelen. Fenton wußte, weshalb, und fühlte sich beunruhigt. Ihre Augen glitten öfter verstohlen zu ihm hinüber, um sich rasch wieder abzuwenden, als interessierte er sie nicht.
»Diese Neue Börse«, sagte sie gelangweilt, »genießt einen besseren Ruf als die Qualität der Waren, die dort angeboten werden.« Fenton hatte versucht, seine blutbefleckten Hände zu verbergen, indem er sie in die Tasche steckte. Doch Meg hatte sie bereits gesehen, wie ihr nichts an seiner Person entging. Plötzlich beugte sie sich vor.
»Pfui, Ihr habt wieder gefochten!« sagte sie und schreckte halb in Ekel, halb in Furcht vor ihm zurück. Die Furcht war zwar echt genug, aber jeder hätte sehen können, welch heftige Freude, welch leidenschaftlicher Stolz sich darunter verbargen. »Aber leider Gottes habt Ihr gewonnen - wie unhöflich! Eines Tages wird man Euch noch töten, und dann werde ich - oh, so schrecklich fidel sein!«
»Aber nein, nicht doch! Potzteufel!« protestierte George, der puterrot im Gesicht war.
»Liebster George, kennt Ihr überhaupt den Unterschied zwischen Leben und Tod?« Fenton warf sich in Positur.
»George«, sagte er, »sie macht nur einen schwachen Versuch, dich zu verspotten. Aber es gelingt ihr natürlich nicht.«
Meg lehnte sich blitzschnell zu Fenton hinüber. »Ei, Ihr und Eure spitze Zunge .!«
»Möchtet Ihr bei meiner Beerdigung tanzen, Meg?«
»Allerdings. Und singen würde ich auch. Genauso wie einst.« Meg brach ab. Sie ließ sich ins Polster zurückfallen, und ihr Blick schweifte in die Ferne. »Nick«, sagte sie nach einer Weile, »denkt Ihr überhaupt nicht mehr zurück?«
»Woran?«
»An die Zeit - es sind noch keine zwei Jahre her -, als wir ein Haus in Epsom hatten? Deine Freunde pflegten sich dort zu versammeln: George - verzeiht mir, George! - und Mylord Rochester und der beleibte alte Herr, den wir auf sein Geheiß >Mr. Reeve< nannten. Er war schon ein Freund deines Vaters gewesen. Und alle wart ihr leidenschaftliche Royalisten, Söhne und Enkel derer, die immer mit dabei waren, seitdem die königliche Standarte in Oxford gehißt wurde.«
Echte Tränen zitterten jetzt auf Megs Wimpern. »Nick, Nick, ich will kein Wort gegen Lydia sagen. Aber mein Vater und Großvater waren keine scheinheiligen Puritaner wie ihre Vorfahren. Mein Vater, der Bruder von Lydias Vater, war Captain Charles York. Selbst als die Royalisten geschlagen waren, und noch lange nachher, gab es viele, die weder ins Ausland fliehen noch Oliver als LordProtektor anerkennen wollten. Sie hatten keine Hoffnung, wollten aber nicht nachgeben. Immer wenn sie einen Eisernen Dragoner sahen, stürzten sie auf ihn los, und die Schwerter klirrten, bis einer von ihnen tot liegenblieb. Bald waren sie alle tot. Auch Captain York.«
Meg hatte sich zitternd aufgerichtet, und ihre Augen blickten verträumt in die Ferne.
Fenton begann zu sprechen, hielt aber sofort wieder inne. »Und erinnert Ihr Euch an Epsom, Nick? Gewiß entsinnt Ihr Euch! Das kleine Speisezimmer mit Euren Freunden?« Meg hatte ihren Tränen keinen freien Lauf gelassen; sie war zu stolz. »Ich stand auf einem Stuhl und mit einem Fuß auf dem Tisch; ei ja, und meine Röcke bauschten sich hoch über meinem Knie; in meiner Hand hielt ich eine Zither. Aber ich sang keine schlüpfrigen Lieder, Nick. Ich sang die alten Kavalierlieder, die euch allen die Glut in die Wangen trieben. Ich werd's Euch noch mal vormachen!« Meg, die von innen heraus glühte, setzte sich kerzengerade hin und warf nachlässig den Kopf zurück - den Kopf mit der Ponyfrisur und den glänzenden schwarzen Locken, die fast bis zur Schulter reichten. Echte Farbe flammte in ihren Wangen. Mund und Augen brachten jedes Gefühl - von bitterer Verachtung bis zu stolzem Triumph - zum Ausdruck, während sie den Vers sang und ihre rechte Hand über imaginäre Saiten strich:
»Ja, huldigt dem Unstern!
Nennt Oliver Herrn!
Schleicht zitternd und kriechend durchs Land!
Sind Küraß und Schwert,
die einst so begehrt,
jetzt tief versteckt in der Wand?
Verschwunden die Becher
der edlen Zecher,
die Krone in Gold und Kot?
Kameraden, den Toten
sei der Trinkspruch geboten:
Gott sende Cromwell den Tod!«
Es gab noch andere Verse, doch Meg konnte sie nicht alle singen. Die fieberhafte Begeisterung verließ sie. Sie sank in die Polster zurück und hielt die Hände vors Gesicht. George betrachtete sie gebannt, mit unverhohlener Bewunderung und Verehrung.
»Was für eine Frau seid Ihr doch, meine Teuerste! Und was für eine Schauspielerin ist an Euch verlorengegangen!«
»Du vergißt ganz«, sagte Fenton höflich, »daß sie ja eine ist.«
»Wenn irgendein anderer Mann das gesagt hätte .!«
»Oh, ihre Gefühle als Royalistin sind schon echt. Charles York war ein guter, tapferer Mann. Möge ihm die Erde leicht werden!« Nüchtern und kühl prüfte Fenton die Situation. »Glaubst du etwa, ich spürte ihre Reize nicht? Brenne ich nicht darauf, sie trotz der gaffenden Menge um uns herum in die Arme zu schließen?« Hier zitterten Megs Finger ein wenig. »Aber siehst du denn nicht, George, wie sie durch ihre Finger hindurch beobachtet, was für einen Eindruck sie auf uns gemacht hat?«
Meg nahm die Hände vom Gesicht und blickte ihn haßerfüllt durch Tränen an.
»Ich fahre jetzt«, erklärte sie mit fester Stimme, »zu Mr. Plovers großem Laden in Cheapside, >Das leichtfertige Mädchen< genannt. Wollt Ihr vielleicht die Güte haben und diese Kutsche verlassen?«
Fenton schenkte ihren Worten keine Beachtung. »Wenn Ihr nur ein leichtfertiges Mädchen wäret.«, er zauderte. »Nun! Ihr entzündet und verwirrt tatsächlich die Herzen der Männer. George zum Beispiel hat eine Frage, die er gern an Euch richten möchte .«
»Nick!« flüsterte George, den eine quälende Angst befiel, als er Meg die entscheidende Frage stellen sollte. »Pst! Jetzt nicht!«
»Eine Frage?« erkundigte sich Meg in ehrlicher Überraschung. »Nein, pst! Nick!«
»Na, lassen wir's. Es bedarf noch der Überlegung.« Fenton ließ eine kleine Pause eintreten und fuhr dann fort: »Meg, habt Ihr Kitty zum >Blauen Mörser< in der Totenmannsgasse geschickt, um Arsenik zu kaufen?«
Megs Erstaunen war so groß, daß Fenton hätte schwören können, es sei echt.
»Arsenik? Gift?« sagte Meg. »Und vermutlich, um Euch zu töten? Denkt alles andere von mir, aber das nicht! Und diese - diese Kitty!« Wieder stieg flammende Röte in ihre Wangen. »Muß ich noch auf eine andere eifersüchtig sein? Wie lautet ihr Name? Kitty wer?«
»Kitty Softcover. Sie ist Köchin in unserem eigenen Hause.« Meg zuckte voller Abscheu die Achseln.
»Ich sollte aus einer Kochmagd eine confidente machen? Das traut Ihr mir zu? Ich habe diese Kreatur überhaupt noch nie gesehen!« Um Megs Lippen huschte das verschwiegene Lächeln, das er so gut kannte. »Glaubt Ihr gar, daß wir unter einer Decke stecken?«
»Was sonst?«
»Ich habe viele Laster, wie Euch glücklicherweise bekannt ist. Aber ich interessiere mich nur für Männer!«
»Daran, muß ich gestehen«, sagte er ironisch, »hatte ich nicht gedacht. Doch verzeiht mir, daß ich Euch an den Besitz Eurer vielen Juwelen erinnere. Diese Mädchen .«
»Ihr mögt sie wohl gern, nicht wahr?«
»Nein. Ich verabscheue sie ebenso wie Ihr. Aber sie ist diebisch und liebt glitzernde Steine über alles. Habt Ihr ihr vielleicht einen funkelnden Ring oder ein Armband gegeben .?«
»Und meinen Hals in die Schlinge gelegt? Pfui!«
»Doch hat diese Magd dem Apotheker eine Beschreibung der Dame gegeben, die sie geschickt hatte, und diese Beschreibung paßt haargenau auf Euch.« Meg blickte ihn merkwürdig an.
»Ei, was für ein Dummkopf ist doch der kundigste Mann«, meinte sie. »Würde irgendeine Frau, die Gift kaufen soll, die Person beschreiben, die sie geschickt hat? Würde sie nicht eher den Verdacht auf eine Unschuldige lenken? Ich hoffe, daß diese Kreatur - nein, ich will ihren Namen nicht aussprechen - eine gehörige Tracht Prügel erhält.«
Tiefes Schweigen folgte diesen Worten.
»George«, sagte Fenton schließlich, »Madam York ist durchaus im Recht. Sie stempelt uns beide zu Trotteln. Wir trollen uns am besten.«
George öffnete den Wagenschlag, kletterte unbeholfen auf das Trittbrett und sprang hinunter. Eine Gruppe von Gaffern sah ihm schweigend zu. Selbst die prunkvollsten Kutschen wurden nie angehalten noch ihre Fenster mit Steinen zertrümmert, wenn eine hübsche Dame darin saß. Die Menge stand nur mit lüsternen Blicken herum, die der Dame selten mißfielen. Abermals hingen echte Tränen an Megs Wimpern. »Jetzt heißt es wirklich Abschied nehmen, Nick«, sagte sie. »Ich log, als ich sagte, ich brauchte noch eine Nacht, um meine Sachen zu packen. Früh am Abend werde ich dein Haus verlassen haben.«
»Und ich werde nie den Gedanken aufgeben«, erwiderte Fenton, »daß Ihr Mary Grenville seid.«
Er neigte sich zu ihr, um ihre Hand zu küssen, und küßte sie statt dessen unwillkürlich auf die Lippen. Sein Knie glitt auf dem Samtpolster aus, und er fiel gegen sie. Ehe er sich ihren Armen entziehen und wieder auf die Beine kommen konnte, hatte sich eine große Verwirrung seiner bemächtigt.
Aber es gelang ihm, vom Trittbrett auf den Boden zu springen. »Solltest du mich je brauchen - und das wirst du«, flüsterte Meg, sich aus dem Fenster lehnend, »dann wirst du hören, wo ich zu finden bin. Denn wir sind miteinander verbunden, du und ich!«
Fenton gab dem Kutscher ein Zeichen, während George brüllend die Müßiggänger zurückhielt. Der Kutscher knallte wiederholt mit der Peitsche. Das riesige Gefährt schwankte und setzte sich in Bewegung. Fenton und George tauchten in der Menge unter.
»Nick«, brummte George, den Blick auf die Pflastersteine geheftet, »sie liebt dich.«
»Nein! Hör mir zu. Du kennst Meg nicht. Hüte dich vor ihrem Temperament. Gib ihr Geld, behänge sie mit Juwelen, Kleidern und Tand. Dann wird sie auch dich lieben.«
George kehrte ihm ein Gesicht zu, in dem Hoffnung und Zweifel miteinander kämpften. »Wahrhaftig? Glaubst du das?«
»Ich . bin dessen sicher. Außerdem will mir dieser Captain Duroc nicht so recht gefallen. Wie mir jetzt wieder in den Sinn kommt, heißt es von ihm, er gehöre zum >Gefolge des französischen Königs<.«
Hier glitt Georges linke Hand sachte an den Degengriff. »Bei dir«, fuhr Fenton fort, »wird sie in guten Händen sein. Aber Eile tut not, George! Sie verläßt mein Haus eher, als ich dachte, und zwar heute abend schon. Du mußt an Ort und Stelle sein und deinen ganzen Mut aufbieten. Du darfst nicht stammeln, sondern mußt frisch von der Leber weg sprechen. Sonst verlierst du sie. Bringst du das fertig, Mann? Willst du es versuchen?«
George zauderte ein wenig. Dann gelobte er es mit entschlossener Miene.
»Gut! Nun erzähle mir bitte, was in der Totenmannsgasse passiert ist, als ich . mein Gedächtnis verlor.« George gab ihm eine kurze, aber klare Schilderung. Im Nu hatte Fenton das ganze Geschehen analysiert und alle Umstände richtig geordnet. Er erkannte, daß er in der schlimmsten Gefahr schwebte.
Sie waren also in dem Laden des Apothekers gewesen: schön und gut. Der Apotheker erwähnt Kittys Beschrei-bung von Meg. George tobt und bedroht den Apotheker stürmisch, woraufhin er, Fenton - der kurz vorher mit den Dienern kühl und besonnen geblieben war - , wegen des armen George in Zorn ausbricht. In diesem Augenblick packt ihn Sir Nick und hat ihn völlig in der Gewalt, als er aus dem Fenster blickt und das grüne Band von Mylord Shaftes-burys Partei sieht.
Aber die eigentliche Erklärung, das wußte er, lag tiefer. Nicht gegen George richtete sich in Wirklichkeit sein Zorn. Die Anklage gegen Meg hatte ihn erregt und ließ Sir Nick einschlüpfen. Alle beide mußten sie mehr für Meg empfinden - selbst wenn es nur Lust war - , als jeder von ihnen ahnte.
Doch die Sache lag noch schlimmer, und Fenton schauderte bei dem Gedanken. Bisher hatte Fenton es jedesmal gespürt, wenn Sir Nick im Anzug war, und sich auf das Ringen mit dem Sargdeckel und dem gruseligen Inhalt eingestellt.
Diesmal aber hatte er überhaupt nichts davon bemerkt. Im Apothekerladen hatte er nur ein leichtes Aufbrausen gespürt. Er konnte sich noch gut erinnern, daß er aus dem Fenster blickte und das grüne Band sah ... dann Leere. Nie zuvor hatte er sein Gedächtnis verloren.
Allerdings war es kein vollständiger Verlust. Es tauchten vage Erinnerungen auf an Degengeklirr, an einen sehr langen, dünnen Mann und an jemanden, der rief: >Nimm dich in acht vor dem Kerl hinter dir!< Dennoch ...
Seine Befürchtungen mußten richtig sein. Sir Nick wurde allmählich mächtiger.
Nein! protestierte Fentons Verstand. Wenn sich dieser tote Idiot dauernd in seine Knochen schlich, vielleicht gar noch länger als die erwähnten zehn Minuten, so würde das dem Teufel einen diebischen Spaß bereiten. Nein, und abermals nein! Nach kühler Überlegung kam er zu dem Schluß, daß er sich Sir Nicks erwehren konnte, wenn er immer und ewig auf der Hut war. Und das nahm er sich fest vor. Er war fast wieder in heiterer Stimmung, als er George in den »Fetten Kapaun« folgte. Die Stunde des Mittagessens war längst vorüber. An den langen Tafeln saßen sehr wenige Gäste, die sich wie Geister von der Glut des Kohlenfeuers abzeichneten. In der trüben Beleuchtung achtete niemand auf Fentons blutbefleckte Hände.
»George«, sagte Fenton, als das Mahl bestellt war und beide eine Weile nachdenklich am Tisch gesessen hatten, »ich habe ganz vergessen, dir zu danken .«
»Pah!« erwiderte George barsch.
»Nicht zu wissen, daß man heutzutage einen Hieb von der Schulter nicht pariert, sondern einfach zustößt, wenn der Gegner den Arm hebt«, beharrte Fenton, »und dennoch einen Bully von Alsatia drei Minuten lang in Schach zu halten .!«
»Papperlapapp!« knurrte George. »Sie hatten's nicht auf mich abgesehen. Du warst ihre Beute.«
»Das denke ich auch. Diese Raufbolde schleichen sich aus ihrem Asyl, um gegen Bezahlung zu töten. Wer hat sie auf mich gehetzt?« George blickte ihn überrascht an.
»Nun, bist du noch darüber im Zweifel? Mylord Shaftesbury natürlich.«
Alle Warnungen und Prophezeiungen, die Giles Collins heute morgen kopfschüttelnd geäußert hatte, kamen Fenton jetzt wieder in den Sinn: »Ihr wollt doch nicht etwa einen Becher Wein im Wirtshaus zum >Teufel< trinken, das so nahe beim >Königshaupt< liegt?« Diese Schenke war natürlich der Treffpunkt des Green-Ribbon-Klubs. Und vor allem Giles' ominöse Worte: »Es wird wohl ein Blutvergießen heute geben.«
Giles hatte ihn tatsächlich wie für ein Duell gekleidet: ohne hindernde Spitzenkrausen, ja selbst ohne Ring an der Degenhand. Doch Fenton saß hier im Speisehaus und biß sich verdutzt auf die Lippen.
»Zugegeben«, sagte er mit finsterer Miene, »ich hasse Mylord Shaftesbury. Aber er ist immerhin ein Mann von gewaltigem Ruf. Er war Schatzkanzler, ehe er zum vierten Male seine Partei wechselte und sich gegen den König kehrte. Warum hat er denn mich gerade zu seinem Opfer gewählt?«
Die Farbe wich aus Georges Gesicht, als er sich langsam seinem Gefährten zuwandte.
»Gott steh uns bei«, betete George, und dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ich hatte geglaubt, deine bösen Säfte hätten dich verlassen und dein Koller sei verschwunden. Nick, Nick! Nun, ein guter Doktor der Arzneikunde könnte.«
»Ich brauche keinen, George. Sag mir lieber: warum sollte dieser kleine alte Mann einen Groll gegen mich hegen?«
George faßte sich in Geduld und sprach zu Fenton wie zu einem Kinde. »Kannst du dich denn gar nicht entsinnen, Nick?«
»Überhaupt nicht.«
»Das Parlament wurde vertagt.«
»Im November letzten Jahres«, stimmte Fenton zu. »Und ist noch nicht wieder einberufen.«
»Gut! Vortrefflich!« George nickte mit strahlenden Augen. »Ich werde dich noch kurieren, guter Freund. Im November lagen sich das Oberhaus und das Unterhaus dermaßen in den Haaren, daß beide Häuser gemeinsam in der >Gemalten Kammern< tagten, die ja ein gemeinschaftlicher Raum für beide ist.«
»Der Teufel hol dich! Das ist mir bekannt. Ich möchte wissen, warum Mylord Shaftesbury .«
George, ein wenig eingeschüchtert, hielt Rückschau: »An jenem Abend saß ich in der öffentlichen Galerie der >Gemalten Kammer<. Ich kann nicht sagen, warum ich dort war, da ich keinen Kopf für Politik habe. Doch es fällt mir wieder ein. Ich ging hin, weil ich hörte, daß diffizile Punkte zur Verhandlung kämen und es daher hoch hergehen würde.«
»Ja?«
»Jack Ravenscroft und ich schlossen eine Wette ab, ob die Kerzen wohl erlöschen würden, ehe die Reden zu Ende waren. Die Feuer in beiden Kaminen loderten hell und warm. Mylord Shaftesbury saß bequem in einem Stuhl neben dem einen Feuer. Seine Majestät war ebenfalls anwesend.«
»König Charles? Warum?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber er saß am anderen Kamin. Du mußt dich doch erinnern.«
»Ich. ich . nein.«
»Weißt du nicht mehr, wie du dich von deinem Platz erhobst und mit dem Finger auf Mylord Shaftesbury zeigtest? Wie du eine geistreiche Rede gegen ihn hieltest, die ihn bis aufs Blut geißelte?« Bei diesen Worten durchrieselte Fenton ein kalter Schauer. In der Tiefe des verrußten Speisehauses glühte das Feuer. Man hatte schon längst Georges Kapaun und Tauben auf den Bratspieß gesteckt. Ein Junge, der Bratspießdreher, sein Gesicht hinter einem feuchten Tuch verbergend, begoß das Fleisch mit einer Schöpfkelle. Fleischkeulen, die an eisernen Armen und Ketten hingen, wurden vom Feuer weggedreht.
»Nein!« flüsterte Fenton. »Nein! Mylord Halifax wird das in späteren Jahren besorgen. Aber ich nicht! Nicht ich!« George hatte nur die letzten Worte verstanden. »Du nicht? Potz Geck! Aber ich war doch dabei! Ich habe dich gehört. Alle starrten dich offenen Mundes an in dieser Finsternis, die nur von Feuerschein und trübem Kerzenlicht erhellt war. Du zügeltest deine Leidenschaft wie ein Reiter sein Pferd. >Da sitzt er, Lords und Gentlemen. Mylord Wendehals nennen ihn manche .<«
»Und . und was habe ich sonst noch gesagt?«
»Zum Teufel! Bringe mich nicht in Verwirrung!« fauchte George und runzelte die Stirn. »An den Anfang entsinne ich mich und an das Ende. Doch .« Plötzlich kniff er die Augen zusammen und warf seinem Gefährten einen verschlagenen Blick zu. »Hast du die Wahrheit gesprochen, Nick, als du auf Mylord Shaftesbury s Vergangenheit anspieltest?«
»Seine Vergangenheit? Inwiefern?«
Da Nick anscheinend benebelt war, versuchte George, ihm Fallen zu stellen, um seinen Geisteszustand zu prüfen. »Du erwähntest, daß Mylord Shaftesbury in seiner Jugend und zu Anfang der Großen Rebellion ein höchst eifriger Royalist gewesen sei und im Heere Charles des Ersten tapfer gefochten habe, bis.«
Fenton richtete sich auf.
»Bis«, ergänzte er, »der Mann es in der Luft roch, daß das Glück des Königs eine Wendung nehmen und sein Stern untergehen würde. Gerade vor der Schlacht bei Naseby desertierte er und ging in das Lager der Rundköpfe. Er wurde der glühendste, der frömmste, der eifrigste Psalmensinger .«
»Und bei Abbotsbury?« drängte George mit heiserer Stimme.
»Bei Abbotsbury«, sagte Fenton, »war er ein so hitziger Rundkopf, daß er eine Besatzung, die im Hause eines Royalisten gefangengenommen wurde, bei lebendigem Leibe verbrennen wollte.« Als der Bratspießwender das Geflügel begoß, fielen einige Tropfen Fett zischend auf die glühenden Kohlen, die aufflackerten und das Speisehaus mit einem rötlichen Lichtschein erhellten. »Aber er hatte immer einen guten Riecher«, fuhr Fenton kühl und besonnen fort. »Bei der Restauration war er auf einmal wieder ein Royalist und stand katzbuckelnd und lächelnd -denn manchmal ist er ein fröhlicher Geselle - unter den Bevollmächtigten, die König Charles den Zweiten willkommen hießen.« Abermals zischten die Fettropfen ins Feuer.
»Und du weißt ja wohl«, meinte Fenton, »wie sein Glück ins Unermeßliche wuchs. Da er ein eifriger Anhänger des neuen Königs war, wurde er mit Titeln und Gunst überhäuft. Doch er roch wieder Lunte. Dies wachsende Geschrei >Nieder mit den Papisten< würde - so dachte Mylord - einen Sturm auslösen, der den König fortblies. Also wurde er wieder abtrünnig.« Bisher hatte Fenton kühl und ohne Erregung Tatsachen zitiert. Jetzt aber ahmte er zum ersten Male nach, was er heute beobachtet hatte. Er wandte den Kopf zur Seite und spuckte auf den Fußboden.
George aber sprudelte vor Erregung.
»Dein Gedächtnis ist wieder da!« wiederholte er dauernd und zupfte Fenton am Ärmel. »Nick, du bist nicht wahnsinnig. Du kannst mich nicht beschwindeln! Du warst betrunken, als du so vor dem Oberhaus und Unterhaus sprachst. Und so war's auch heute, wenn du es auch abgestritten hast. Meiner Treu, hab' ich doch erlebt, wie du fünf Wochen hintereinander gepichelt hast und dich am Ende auf nichts mehr besinnen konntest.« Es war die einfachste Lösung. Fentons ironisches Lächeln deutete Zustimmung an.
»Und gegen Mylord und seine wider den Hof gerichtete Partei«, fuhr George fort und schüttelte unsicher den Kopf, »stelltest du sechs Punkte auf. Dies war der politische Kern, der über meinen Horizont ging. Aber das Ende deiner Rede! Ei, das kann ich wörtlich wiederholen!«
George sprang auf die Füße. Seine in der rötlich erhellten Finsternis ausgestreckte Hand schien auf einen als Geist anwesenden Shaftesbury zu deuten.
»Viermal Überläufer, viermal Verräter. Dreimal verheiratet, dreimal befördert. Zweimal geadelt, zweimal ent-adelt. Einmal tot, bald verdammt. Und hier ist das Schwert, das ihm dazu verhelfen möchte!«
George nahm wieder Platz und schien völlig bei dieser Szene zu weilen. »Bei Gott, Nick! Das Geschrei, das sich auf beiden Seiten erhob, wollte schier das Gold von der Decke sprengen. Während der ganzen Zeit saß Mylord Shaftesbury still im Sessel am Kamin und spielte mit seinem Spitzentüchlein. Nur einmal wandte er dir sein Gesicht zu. Göttliche Ruhe spiegelte sich darauf. Einmal nur sprach er - mit Mylord Essex. >Dieser Bursche mißfällt mir<, sagte Mylord - so wurde mir später berichtet -, lässig wie ein Weibsbild nach einem ausgedehnten Schäferstündchen, >sorgt dafür, daß ihm eine Lehre zuteil wird«.«
»Eine Lehre«, wiederholte Fenton langsam.
»Ja, eine Lehre«, sagte George lächelnd. »Und wie du dich erinnern wirst, wurde sie dir bereits drei Abende später zuteil. Da saßest du hoch zu Roß und rittest nach einem Zechgelage allein durch die einsamsten Felder nach Haus. Plötzlich schossen aus dem Hinterhalt drei flinke Burschen auf dich zu und rissen dich aus dem Sattel.«
Fentons auf dem Tisch liegende Hand ballte sich langsam zur Faust.
»Wenn ich nicht irre«, fuhr George fort, »hatten sie nicht die Absicht, dich zu töten. Sie wollten dir nur die Nase aufschlitzen und dir eine tüchtige Tracht Prügel mit ihren Keulen verabreichen, wie ein großer Lord es üblicherweise anzuordnen beliebt.«
»Ha, wie ich Mylord Shaftesburys Zurückhaltung bewundere!«
»Bewundere deine eigene«, riet ihm George trocken. »Einer der Schurken wurde am nächsten Morgen in einem Graben gefunden, halbtot von einem Schlag auf den Schädel mit seiner eigenen Keule. Dem zweiten gelang es, mit einem Degenhieb durch den Bauch zur Schenke zurückzukriechen. Der dritte entkam.«
»Ja, ich entsinne mich«, log Fenton.
»Heraus mit der Sprache, alter Freund!« drängte George und rückte dichter an ihn heran. »Du kannst mir dein Vertrauen schenken. Viele haben sich gewundert, warum du keine Rache genommen hast. Monatelang hast du nur grübelnd und trinkend zu Hause gesessen. Wenn du das Haus verließest, so geschah es nur, um ein wenig in der Mall zu reiten oder Meg York deine Aufwartung zu machen, die damals in der King Street wohnte, ehe du sie zu dir ins Haus nahmst. Manche behaupteten, Meg habe dich umgarnt. Andere wieder meinten, du habest Angst.«
»Haben sie das wirklich angenommen?« fragte Fenton in merkwürdigem Ton. George warf ihm rasch einen besorgten Blick zu. Doch Fenton lächelte ihn so freundlich an, daß er sich wieder beruhigte. Fenton selbst wußte, daß er bei klarem Verstande war - ohne jegliche Spur von Sir Nick.
»Ah«, seufzte George erleichtert, »hier kommt unser Essen!« Der Wirt kam in Begleitung eines kleineren Mannes herbei. Sie trugen das dampfende Fleisch auf gewaltigen Platten. George schlug die linke Seite seines Rockes zurück und holte aus einer unter seinem linken Arm befestigten Scheide einen einschneidigen Dolch hervor, der zum Essen diente.
»Nein, ich zahle die Zeche!« erklärte er energisch, als Fenton in die Tasche griff. »Du wirfst das Gold mit vollen Händen hinaus, mein Lieber. Laß es gut sein. Zum Wohl!«
Wenn man eine »Kanne« Wein bestellte, entdeckte Fenton, so erhielt man ein reichliches Liter. Und wenn man einmal seinen Dolch vergessen hatte, lieferte das Speisehaus auch ein Messer. Fenton hob die Kanne mit Kanarien-sekt zum Mund und tat einen tiefen Zug. Es wurde ihm fast übel. Der bräunliche Weißwein war schwer, berauschend und so übermäßig süß, daß sein Gaumen den Weingeschmack kaum wahrnahm. Aber was ihn besonders faszinierte, war die Blitzgeschwindigkeit, mit der George einen Kapaun verzehrte. Er benutzte nur seinen Dolch und warf die Knochen in eine Kiste, die am Boden stand. Nachdem er den Kapaun verschlungen hatte, spießte er eine fette Taube auf die Platte, zerschnitt sie in vier Teile und verzehrte der Reihe nach jedes Viertel mit Knochen und allem Drum und Dran. »Na also«, rief sich Fenton im stillen zu, »nun bist du hier; dies ist dein Jahrhundert; lang zu!« Damit stieß er sein Messer tief in die Fleischpastete, die, wie zu erwarten war, einen riesigen Umfang hatte.
Seine neuen Zähne, so stark wie die eines Hundes, zerrissen die mageren, aber sehr zähen Fleischstücke spielend. Bei der fetten, suppenartigen Sauce hatte er das Gefühl, er müsse sich übergeben.
Bald legte er Messer und Gabel hin und erwog den Plan, der ihm durch den Kopf ging. »Hm - George!«
Irgendein Urlaut drang aus den knirschend kauenden, aufgeblasenen Wangen. Georges Gesicht war ganz rot, und seine Augen strahlten vor Vergnügen über diese kulinarischen Genüsse. »Gibt es eigentlich festgesetzte Zeiten, wo Mylord Shaftesbury im >Königshaupt< zu finden ist?« fragte Fenton leichthin.
Als George das letzte Viertel der letzten Taube verschlungen hatte, spülte er es mit einem halben Liter Kanariensekt hinunter. »Nun, was das angeht«, sagte er und faßte sich hinten unter den Rock, um seine fettigen Hände an der Seidenweste abzuwischen, »so ist Mylord an den meisten Nachmittagen dort zu finden. Nur nicht, wenn das Oberhaus oder der Rat Seiner Majestät tagt. Ha, fast hätt' ich's vergessen. Mylord ist stets am Dienstag«, setzte er hinzu, ohne daran zu denken, daß dies ein Dienstag war, »von ein Uhr bis Mitternacht im >Königshaupt<. Er .«
Fenton erhob sich.
Entsetzen malte sich in Georges Augen, als er erriet, was in Fenton vorging.
»Ich möchte wohl«, erklärte Fenton, »dem >Königshaupt< jetzt einen Besuch abstatten.«