»Nick«, antwortete die Frau, und ein seltsamer Ton lag in diesem einen Wort.
Der Klang seiner eigenen Stimme raubte ihm alle Kraft. Er konnte die Frau nur anstarren. Mary Grenville hatte ihn nie in ihrem Leben Nick genannt. Und doch war es ihre Stimme - trotz der merkwürdigen Modulation. Trotz anderer Unterschiede - von feinen bis zu . nun, schockierenden - spürte er, daß es Mary war. Da er sie stets weit überragt hatte, brachte es ihn ziemlich aus der Fassung, daß sie jetzt nur um einen halben Kopf kleiner war als er. Nein, halt! Seine eigene Größe mußte nun etwa ein Meter siebenundsechzig sein, und sie war kein Kind! In keiner Beziehung! Professor Fenton war bestürzt, daß er die offensichtlichen Merkmale wahrnahm, die darauf hindeuteten, daß sie kein Kind mehr war.
Sie stand da in einem üppigen, tief ausgeschnittenen Neglige aus gelber Seide, dessen Kragen und sehr lose Ärmel mit weißem Pelz verbrämt waren. Sie hatte es nachlässig, aber eng um ihren Körper gezogen. In dem trüben Kerzenlicht schien es, als huschten rauchfarbige Schatten über ihre sehr weiße Haut. Auf einmal glaubte er alles zu verstehen.
»Mary!« sagte er in seiner üblichen modernen Ausdrucksweise. »Sie sind auch zurückversetzt worden! Die gestrige Unterhaltung habe ich nicht geträumt. Nicht aus Höflichkeit brachten Sie mir Verständnis entgegen!«
Doch seine Worte waren nicht richtig gewählt. Die ganze Koketterie, das einschmeichelnde Wesen dieser Frau waren im Nu verschwunden. Mit Furcht in den Augen wich sie zurück. »Nick!« stieß sie hervor, als bäte sie ihn, nicht zu scherzen. »Was für ein Kauderwelsch redet Ihr? Macht Eure Aufwartung nur einer anderen, wenn Ihr völlig von Sinnen seid!«
Fenton richtete sich langsam auf und machte eine tiefere und höflichere Verbeugung vor ihr, als Sir Nicholas Fenton es getan hätte.
»Wenn es Euch nicht allzusehr vexiert«, sagte er sanft, »möchte ich mich wohl mit Verlaub erklären, Madam.« Doch offenbar hatte er immer noch nicht den richtigen Ton getroffen. Die Frau atmete keuchend und spie ihn beinahe an. »Verrückt!« fauchte sie. »Diese irrsinnige Lust nach Wein und Huren hat Euch den Verstand geraubt. Mylord Rochester ist's genauso ergangen.«
Ich muß ein wahrer Teufelskerl sein, dachte Professor Fenton voller Unruhe. Aber endlich hatte er die richtige Taktik erraten. »Haltet Euer Maul!« brüllte er sie plötzlich an. »Potz Blitz! Müßt Ihr kreischen wie eine Dirne, die man auf einem Karren ausgestellt hat!«
Die winzige Flamme der Kerze flackerte unstet inmitten der lastenden, wogenden Schatten. Die Frau schüttelte das lange, seidige schwarze Haar zurück und richtete sich auf. Ihre ganze Haltung wurde schmachtend, demütig, und immer bereite Tränen traten ihr in die Augen.
»Nein, nein, verzeiht mir«, flehte sie mit weicher Stimme, obwohl er wußte, daß eine Tigerkatze in ihrer weißen Haut steckte. »Ich war ganz von Sinnen, weil Ihr mich in eine Kammer gebettet habt, die dem Gemach Eurer Frau gegenüberliegt. Liebster, ich weiß kaum noch, was ich gesagt habe.«
»Hört Ihr auf mich?« schrie Fenton, der sich in seiner neuen Rolle gut gefiel. »Bin ich trunken? Wagt Ihr, so etwas zu behaupten? Oder gar verrückt?«
»Liebster, Teuerster, ich habe doch mein Unrecht eingestanden!«
»Und ich gestehe meinerseits, daß ich keinen sehr bewundernswerten Lebenswandel geführt habe. Na, das läßt sich ändern. Aber laßt uns der Komödie halber simulieren« - hier lachte er laut -, »daß wir ganz von vorn anfangen, daß wir uns nie begegnet sind und einander nicht kennen. - Wer seid Ihr?« Ihre langen Augenwimpern hoben sich in kurzer Verwunderung und senkten sich dann wieder. Ein süßer, verstohlener Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Wenn Ihr mich nicht kennt, Sir«, entgegnete sie, mit leichter Betonung des »Ihr« und »kennt«, »meiner Treu, dann kennt mich kein Mann auf Erden!«
»Daß Euch die Pest! Wie ist Euer Name?«
»Ich heiße Magdalen York, die Ihr Meg zu nennen geruht. Und wer ist >Mary« Magdalen York.
In Giles Collins' Manuskript war »Madam Magdalen York« ziemlich häufig erwähnt. Das Wort »Madam« bedeutete nicht unbedingt, daß sie verheiratet war, sondern bezeichnete nur eine Dame von Stand. Aber diese Frau ähnelte ihrem zeitgenössischen Bildnis kaum. Wahrscheinlich war es die Schuld des Graveurs. Sie war .
»Sir Nick«, flüsterte die Frau, die sich Meg nannte, in sanftem Schmeichelton. Sie schwebte näher an ihn heran, offenbar im Zweifel, ob sie die Arme um seinen Hals schlingen oder sich von ihm fernhalten solle. Als sie so vom Ankleidetisch hinwegglitt, sah Fenton sein neues Gesicht zum ersten Male im Spiegel. Mit langen Schritten trat er vor, hob den Kerzenhalter in die Höhe und betrachtete sich aus der Nähe. »Sapperlot!« stieß er hervor.
Diesmal hatte der Graveur gute Arbeit geleistet. Aus dem trüben Glas blickte ihm unter einem enggewundenen Kopfputz aus weißgestreifter mattbrauner Seide ein dunkelbraunes, aber nicht unschönes Gesicht mit einer langen Nase und einer dünnen schwarzen Schnurrbartlinie über einem gutmütigen Mund entgegen. »Sir Nick Fenton, geboren am 29. Dezember 1649, gestorben ...« Du liebe Güte, er konnte ja nicht mehr als sechsundzwanzig Jahre alt sein! Nur ein Jahr älter als Mar . als diese Meg. Neue, erregende Gedanken schlichen sich Professor Fenton in Gestalt von Sir Nick in den Sinn. Unter dem braunen Schlafrock, der mit scharlachroten, silberumrandeten Mohnblüten besetzt war, straffte sich sein sehniger Körper.
»Ei, ei«, ertönte Megs lockende Stimme hinter seiner Schulter. »Ihr wollt doch nicht schon wieder Wahnsinn simulieren?«
»Aber nein. Ich wollte nur sehen«-und er fuhr sich mit der Hand über das Kinn -, »ob ich schlecht rasiert sei.«
»Als ob mir das einen roten Heller ausmachte!« Ihre Stimme nahm einen anderen Tonfall an. »Lieb Herz, Ihr wollt doch nicht wirklich . Euren Lebenswandel ändern?«
»Wäre es Euch nicht nach dem Sinn?«
Er stellte die Kerze auf den Tisch und drehte sich um, so daß er ihr gegenüberstand und das matte Licht voll auf Meg York fiel. »Was andere Frauen angeht, sicherlich!« Ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und ihre Stimme klang jetzt ernst, aber weich. »Ich habe Euch in den letzten beiden Jahren geliebt - ganz über alle Maßen geliebt! Ihr werdet mich doch nicht verlassen?«
»Könnte ich das?«
»Nu-un! Ich meine nur so .«, murmelte Meg. Während sie wie geistesabwesend zu Boden starrte, ließ sie ihr gelbes Neglige auseinanderfallen. Darunter trug sie nicht einmal ein Hemd.
Wie ein Würger bemächtigte sich Fentons ein brennendes Verlangen. Die Anziehungskraft, die von ihrem Körper ausging, machte ihn schwindeln. »So geht das nicht weiter«, dachte der Professor von Cambridge. Der Sessel mit der hohen Lehne stand hinter ihm. Mit so viel Würde, wie er aufzubringen vermochte, ging er darauf zu und ließ sich hineinfallen. Er hatte nicht mit seiner kürzeren Statur gerechnet und stieß infolgedessen unerwartet hart auf. Während der ganzen Zeit beobachtete Meg ihn durch halbgeschlossene Lider mit einem heimlichen Lächeln. »Ihrem tugendsam gewordener Weiberheld?« murmelte sie. »Oh, pfui!«
Dann verschwand ihr Lächeln, obgleich die Röte auf ihren Wangen blieb.
»Wie ich Euch schon sagte«, bemerkte sie, »war ich so ungemein vexiert, weil Ihr mich gegenüber dem Zimmer Eurer Frau untergebracht habt, was einen tosenden Skandal heraufbeschwört, falls wir entdeckt werden. Ich hätte Euch umbringen können! Aber ich hab's vergessen. Alles hab' ich vergessen. Warum sollten wir uns darum kümmern, was sie denkt?«
»In der Tat, warum?« fragte er mit heiserer Stimme.
Fentons Nerven zuckten wie ein Fisch an der Leine. Er sprang auf, und Meg streckte ihm ihre Arme entgegen. Aber er berührte die Frau nicht - jedenfalls nicht jetzt. Mit halbverglasten Augen warf sie einen Blick über ihre Schulter.
»Die Tür«, flüsterte sie. »Dummkopf, Ihr habt vergessen, die Tür zu schließen! - Horcht! Habt Ihr das vernommen?«
»Ein Geräusch!. Was macht's schon?. Ich .«
»Habt Ihr das Kratzen einer Zunderbüchse noch nie gehört?« forschte sie. Ihre Stimme war von Wut erfüllt, und sie stampfte heftig mit dem Fuß auf. »Meine teuerste Base, Eure Gemahlin, wird hier im Zimmer sein, ehe Ihr bis zehn zählen könnt. Bitte, setzt Euch doch!«
Später hatte Professor Fenton die vage Vorstellung, daß er Worte -Flüche des siebzehnten Jahrhunderts -gemurmelt hatte, die ihm, wie er glaubte, bisher unbekannt gewesen waren. Einen Augenblick glaubte er, daß Sir Nick von ihm Besitz ergreife, da sich sein Erinnerungsvermögen umnebelte. Aber er setzte sich hin, und Sir Nick verschwand. Er versuchte, sich auf rein theoretische Dinge zu konzentrieren. Wenn Meg ihre Zähne zeigte, waren sie so ebenmäßig und weiß wie die eines Hundes, obwohl nur die wenigsten Menschen dieser Zeit sich die Mühe machten, die Zähne gelegentlich mit einem Seifenstäbchen zu säubern. Zweifellos lag es am Kauen der groben Nahrung. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß Megs Körper rein und weiß war in einem Zeitalter, wo. halt! Dies brachte seine Gedanken nur wieder zum Ausgangspunkt zurück. Klack! Eine Türklinke auf der anderen Seite des Flurs schnappte ein. Er sah den Schimmer einer Kerze und hörte das Rauschen von Taft, als jemand das Zimmer betrat.
»Teuerste Lydia!« säuselte Meg mit Augen voll kindlicher Unschuld, das Neglige wieder züchtig verschlossen. »Dies ist also die Frau«, überlegte Fenton, der es nicht wagte, einen Blick über seine Schulter zu werfen, »die ich neun Jahre lang - hm - platonisch geliebt habe.« Schließlich faßte er genügend Mut und sah sich um.
Lydia, Lady Fenton, erschien in vollem Staat, wie für einen Hofball. Ihr himmelblau und rosa gefärbtes Taftkleid war ärmellos, das pralle, tiefausgeschnittene Mieder herzförmig und mit venezianischer Spitze besetzt, die Taille schlank und der bis zu den Füßen reichende Rock nur ein wenig abstehend. Ihr weiches, hellbraunes Haar lag glatt auf ihrem Kopf, bedeckte auch die Ohren und war an den Seiten in vereinzelten Locken frisiert. Lydia besaß eine hübsche Figur. Sie war nicht so groß wie Meg, und Fenton wußte, daß der lange Rock hohe Absätze verbarg. Lydia Fenton wäre außergewöhnlich hübsch gewesen - wenn ihr Aussehen nicht durch einen Umstand beeinträchtigt gewesen wäre.
Ihre Arme, Schultern und Brust waren mit einem groben weißen Puder beschmiert. Primitive Kosmetika hatten ihr Gesicht in eine weiß-rote, wie Email wirkende Maske verwandelt. Von dem leichenblassen Grund hoben sich die rotgemalten Wangen und schar-lachfarbenen Lippen scharf ab. Sie trug zwei Schönheitspflästerchen, neben dem linken Auge und im Mundwinkel: winzige schwarze Papierstückchen, die in Form von Herzen und Diamanten geschnitten waren.
Diese Aufmachung hatte etwas Gespenstisches. Die Gesichtspaste für eine verlebte Frau von Siebzig war auf das Gesicht eines einundzwanzigjährigen Mädchens geschminkt worden, so daß man den Eindruck hatte, eine alte Wachsfigur sei von ihrem Postament hinabgestiegen.
»Teuerste Base«, wiederholte Meg.
Mit etwas unsteten Schritten trat Lydia an den Kaminsims zu ihrer Linken, auf den sie ihre Kerze stellte. Sie hatte schöne blaue Augen. Trotz der Maske konnte man erkennen, daß sie geweint hatte.
Auf einmal tat Fenton etwas Seltsames. Mit einer Hand hob er den hohen, schweren Eichenstuhl auf und ließ ihn krachend zu Boden fallen.
»Unser gnädigster Herrscher, Charles der Zweite«, deklamierte er wie in einer Trance. »Von Gottes Gnaden König von England, Schottland und Irland, Verteidiger des Glaubens. Und« - der Trancezustand wich - »er schläft jetzt im Whitehall-Palast.«
»Oder auch woanders«, meinte Meg kichernd und zuckte erstaunt die Achseln. »Was macht's schon?« Lydia beachtete Meg überhaupt nicht.
»Sir«, wandte sie sich mit leiser, süßer Stimme an Fenton. »Ihr werdet zugeben müssen, daß ich viel ertragen habe. Aber daß Ihr und diese Kreatur drei Schritt von meiner Tür entfernt.«
»Oh, welche Gemeinheit!« Meg zitterte vorgespielter Empörung. »Schöne Base, Ihr denkt doch sicherlich nicht, daß Nick und ich.«
Immer noch vermied es Lydia, sie anzusehen. Vielleicht war es dieser Umstand, der Megs Redefluß unterbrach. Vielleicht aber auch das Verhalten von Professor Fenton, der sich tief vor Lydia verneigte und ihre Hand zum Kuß an den Mund hob.
»Mylady«, sagte er sanft, »ich bin mir meiner Schwächen und meiner Grausamkeit Euch gegenüber nicht ganz unbewußt. Darf ich Euch auf den Knien um Verzeihung bitten?« Als er sich wieder erhoben hatte, fuhr er fort: »Ich bin nicht der ungehobelte, geistlose Mensch, den Ihr in mir vermuten müßt. Mit Verlaub werde ich mein Betragen ändern.« In Lydias blaue Augen trat ein Ausdruck, der ihn fast körperlich schmerzte, so mitleiderregend war er.
»Ihr bittet mich um Verzeihung?« flüsterte sie. »Ich bitte Euch darum von ganzem Herzen.«
Dann malte sich ein flüchtiges Entsetzen in ihren Augen. »Ihr schwört es mir?« bettelte sie. »Es ist kein Schabernack, den Ihr mir spielt?«
»Ich schwöre es bei der ritterlichen Ehre, die mir geblieben ist.«
»Dann trennt Euch von ihr«, bat Lydia und umklammerte seine Hand. »Erlaubt ihr nicht, unter diesem Dach zu weilen. Nicht eine Nacht, nicht eine Stunde mehr. Herzliebster, ich flehe Euch an! Sie wird Euch vernichten; ich weiß es! Sie wird .«
Blitzschnell nahm Meg einen Handspiegel vom Tisch und schleuderte ihn nach Lydia. Er traf weder Lydia noch Fenton, sondern segelte durch die offene Tür und zerbrach klirrend im Flur.
Meine Güte, dachte Professor Fenton von Cambridge, diese Menschen haben keine Hemmungen. Obwohl er sich zu beherrschen suchte, spürte er, wie ihm die Adern am Hals vor Zorn schwollen.
»Kanaille!« kreischte Meg.
»Hure!« keifte Lydia.
»Molkengesicht!«
»Brander!«
»Brander, wie?« wiederholte Meg, der bei dieser tödlichen Beleidigung der kalte Schweiß ausbrach. Ohne auf den Sitz ihres Negliges zu achten, wirbelte sie herum und deutete auf die unordentlich über den Ankleidetisch verstreuten Tücher und Salben, mit deren Hilfe sie ihr Make-up entfernt hatte.
»Und bin ich es etwa, die die Franzosenkrankheit hat«, fragte sie, wieder herumwirbelnd, »so daß ich mein Gesicht nur unter einer dicken Puderschicht zu zeigen wage? Pah! Oder ist es die anscheinend unschuldige, die tugendhafte Gemahlin - Enkelin eines verurteilten und gehängten Königsmörders -, die in Wirklichkeit eine Gefahr für die Männer ist, weil sie .« Abermals hielt Meg inne.
Fenton fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Es wurde ihm ganz schwarz vor den Augen, und er war seiner selbst nicht mehr mächtig. Mit beiden Händen wirbelte er den schweren Stuhl in der Luft herum, als sei er aus Sperrholz gemacht, um ihn Meg York auf den Kopf zu schmettern. Meg, zum ersten Male wirklich in Angst und Schrecken, wich schreiend zurück und fiel auf Hände und Knie, wobei sie ihr Gesicht hinter dem langen, vornüberfliegenden Haar verbarg. Mit ihren Fingern krallte sie sich in den hellen Teppich, daß der Staub aufwirbelte.
Daß sie mit dem Leben davonkam, lag einmal daran, daß Sir Nick zu sehr nach ihr lüstete und daher zauderte, sie zu töten; und zum anderen, daß Professor Fenton, der sich gleichsam abmühte, den Deckel eines Sarges zu schließen, spürte, wie der Kampf nachließ und der Deckel zuklappte.
Fentons Arme und Beine zitterten, als er den Stuhl zu Boden senkte. Der Ekel stieg ihm in die Kehle. Als ihm sein eigenes bleiches Gesicht mit den schwarzen, geschweiften Augenbrauen und dem dünnen Schnurrbart aus dem Spiegel entgegenstarrte, erkannte er sich nicht und blickte sich wild nach einem anderen um. Allmählich wurde er ruhiger.
»Hoffentlich habe ich Euch nicht erschreckt, Madam«, sagte er heiser - zu Lydia, nicht zu Meg.
»Ein wenig«, gab Lydia zur Antwort. »Aber nicht so sehr, wie Ihr annehmt. Ihr werdet sie nun doch wohl fortschicken?« Hinter Fentons Rücken ertönte ein höhnisches Kichern. Meg, die immer noch zwischen Tisch und Bettrand am Boden hockte, blickte ihn durch den Vorhang ihres langen schwarzen Haares an. Sie kniff die Augen zusammen und lachte mit geschlossenen Lippen. Er wußte, daß, von einem angsterfüllten Augenblick abgesehen, dieses Teufelsweib einen königlichen Spaß an dem ganzen Vorfall gehabt hatte. Fenton schritt auf die Tür zu.
»Es soll geschehen, wie Ihr es wünscht«, versprach er Lydia und preßte seine Hand auf ihre nackte Schulter. »Indessen- nicht heute nacht. Diese Nacht, teures Weib, schlafe ich allein, da ich nachdenken muß. Und vor allem«, sagte er barsch, als er sich in der Tür umwandte, »wünsche ich Euch allen beiden angenehme Ruhe!« Er schlug die Tür hinter sich zu, schlurfte einige Schritte in Richtung seines eigenen Schlafzimmers, legte dann den Kopf gegen die Wandtäfelung und versuchte, eine Weile nachzudenken. Hatte wohl je ein Mann, so fragte er sich, mit einem so furchtbaren Problem zu ringen gehabt?
Zweimal in dieser Nacht hatte Sir Nick beinahe -beinahe aber nicht ganz - die Herrschaft über ihn gewonnen. Und nicht allein im Zorn. Der Teufel hatte so obenhin von Zorn gesprochen. Körperliches Verlangen, das irgendwie vage mit Zorn verknüpft zu sein schien und genauso machtvoll sein konnte, hatte der Teufel - der in Zukunft nicht unterschätzt werden durfte - jedoch nicht erwähnt. Aber körperliches Verlangen trat von selbst in Erscheinung, wenn man sich strotzende Gesundheit und das Alter von sechsundzwanzig Jahren ausbedungen hatte.
Er begann allmählich, Sir Nicks Charakter ein wenig zu verstehen. Sir Nick begehrte Meg York und würde sie niemals vertreiben oder zu Schaden kommen lassen. Aber Sir Nick liebte seine Frau ebenfalls. Konnte ein Mann im gesetzten Alter diese Gelüste beherrschen? Aber Achtundfünfzig war eigentlich noch kein Alter; hatte er überhaupt den Wunsch, diese Regungen zu unterdrücken? Es dämmerte Fenton mit Entsetzen, daß er im Innersten Sir Nicks Gefühle teilte.
Dabei hatte er versprochen, Meg am nächsten Tag den Laufpaß zu geben.
Doch dies war nicht das eigentliche Problem. Nein, bei weitem nicht! Das eigentliche Problem, das er aus dem säuberlich geschriebenen Manuskript von Giles Collins herausgeschält hatte, war folgendes:
Wenn er es nicht verhindern konnte, würde Lydia genau nach einem Monat an Vergiftung sterben. Und die Person, die er auf Grund gewisser Einzelheiten des Manuskripts seit langem als Mörderin in Verdacht hatte, war Meg York.
In seinen knirschenden Lederpantoffeln stolperte Fenton in sein Schlafzimmer.