XXI

Einer der Löwen brüllte in dem Käfig. Dazwischen ertönte der durchdringende Schrei eines Panthers.

Die Menagerie im Tower von London war dem Publikum gegen Entrichtung eines kleinen Eintrittsgeldes zugänglich. Laut erhob sich das Geschrei der Menge, wenn sie neugierig unter einem vom Rauch und Ruß der City verdunkelten Himmel dem langen Zwinger zustrebte.

Colonel Howard hörte das Getümmel, als er den Postengang auf der südlichen Festungsmauer neben dem Fluß entlangschlenderte. Colonel Howard, der Vizegouverneur des Towers, hätte niemals beim Militär sein sollen. Das feingeschnittene Gesicht unter dem gewölbten Schädel war das eines Gelehrten oder eines Träumers. Colonel Howard war beides.

Obgleich der Spätnachmittag sehr heiß war, hüllte er sich fester in den langen, bis zu den Füßen reichenden Mantel. Vor langer Zeit hatte er sich in den Niederlanden ein Fieber zugezogen, und ihm war daher oft kalt. Sein kurzer Spitzbart und kleiner Schnurrbart verliehen ihm ein spanisches Aussehen. Hinter ihm trampelte einer der Wärter, ein beleibter, hitziger Mann, in der seit Heinrich dem Achten traditionellen Tracht der Wärter: rotes Wams, rote Strümpfe und flache schwarze Samtmütze.

»Colonel Howard«, zischte der Wärter mit geheimnisvoller Stimme. Dreist berührte er den Ärmel des Vizegouverneurs und steckte seine dicke Nase weit vor. »Was geht eigentlich vor sich? Was für Teufelswerk ist für diese Nacht geplant? Ist es Mord?«

Colonel Howard betrachtete ihn mit leicht gerunzelter Stirn. »Habt Ihr denn etwas von Mord gehört? Wenn ja, dann sprecht Ihr reichlich spät.«

Der Wärter wich, hastig protestierend, zurück. Ihm fehlten die Worte, um zu erklären, daß unter den Wächtern und Rotröcken dieser alten Festung ein Gerücht umlief, wonach heute abend etwas Schreckliches hier geschehen würde.

»Kommt«, forderte ihn Colonel Howard voller Geduld, aber mit zusammengekniffenen Augen auf, »sprecht Euch offen aus!«

Der Wärter deutete aufs Geratewohl auf den runden, gedrungenen, aus rauhen Steinen erbauten Middle Tower, den mittleren Turm der aus Türmen bestehenden Festung, dessen schwervergitterte Tür auf den Postengang hinausführte.

»Sir Nick Fenton, der Teufel in Samt«, sagte er heiser, »ist seit zwei Wochen dort eingeschlossen. Bei Gott, Sir! Als sie ihn brachten, hielt ich ihn für einen alten Mann.«

»Es ging mir genauso«, sagte Colonel Howard geistesabwesend. »Ah! Aber gutes Essen und Wein haben in zwei Wochen Wunder gewirkt. Er hat wieder Fleisch angesetzt und Muskeln entwickelt. Jetzt läuft er unruhig hin und her wie der Panther im Käfig. Und mit einem Blick . einem Blick .«

Colonel Howard, der seinen Gefährten fast vergessen hatte, nickte, in Gedanken versunken.

»Als wenn er etwas Grauenvolles hinter sich hätte«, murmelte der Vizegouverneur, »was er eben erst überwunden hat. Die Erinnerung ist immer noch in seinen Augen aufgespeichert.«

Der Wärter stand ganz verblüfft vor diesem Engländer mit dem Gesicht eines Spaniers. Mit dem Schaft seiner kurzen Partisane stieß er auf die alten Steine.

»Mit Verlaub, Colonel, ein finsterer, häßlicher Blick ist ein finsterer, häßlicher Blick, weiter nichts! Aber wer unter uns hat schon von einem Gefangenen im Middle Tower gehört? Warum nicht der Beauchamp Tower wie üblich? Dort ist er fest und sicher. Aber im Middle Tower, dessen Tür direkt hier auf den Postengang führt? Und werft einmal einen Blick hierher!«

Der fette, rotgekleidete Wärter lehnte sich in eine Scharte der Brustwehr. Unten lag ein langer Kai, der sich der ganzen Südseite der Festung entlangstreckte. Eine lange Reihe schwerer Geschütze aus Eisen oder Messing war zum Schutz gegen einen Angriff vom Fluß her aufgestellt.

Damit aber der Fluß als ein natürlicher Festungsgraben diente, war der Kai weiter draußen, in einiger Entfernung von der Mauer, gebaut worden. Die Themse floß dunkel und gemächlich unter ihrer Dunstdecke dahin. Doch zwischen den Pfeilern des Kais und der Mauer zischte und schäumte das Wasser in weißen Massen.

»Nur eine Tür«, meinte der Wärter, »steht zwischen dem Teufel in Samt und einem Sprung in die Tiefe. Wir könnten ihn wohl mit Musketen beschießen, ja, aber .«

Keuchend wandte er sich um und brach jäh ab. Colonel Howard hatte nicht einmal zugehört. Er stand da und betrachtete nachdenklich die aus rauhem Stein gebauten Türme innerhalb der Ringmauer.

»Diese Steine sind zu alt und zu voll von Knochen«, sagte Colonel Howard. »Zu viele Männer sind hier gestorben. Ihr Geist geht in den Mauern um. William Brown, habt Ihr niemals Angst?«

Der Wärter starrte ihn an. »Ich, Sir?«

»Dann seid Ihr glücklich. Ich fürchte mich oft.«

Löwengebrüll, vermischt mit dem Lachen von Kindern, schallte vom Zwinger herüber. Der Ausdruck im Gesicht des Vizegouverneurs änderte sich unmerklich, und Wärter Brown spürte eine seltsame Unruhe.

»Was Eure Befürchtungen angeht«, murmelte Colonel Howard, »so tragt Ihr sie wohl besser Sir Robert vor.« Er meinte den Gouverneur des Towers, einen strengen Zuchtmeister. »Nun öffnet mir diese Tür zum Middle Tower und haltet draußen Wache, während ich mit dem Gefangenen spreche.«

Der Wärter gehorchte. Sobald Colonel Howard eingetreten war, wurden draußen die Riegel klirrend wieder vorgeschoben. Der Vizegouverneur stand in einem runden Gemach mit Steinwänden, das zwar sehr heiß und bedrückend, aber doch recht geräumig war und Fenster hatte. Die Gefangenen im Tower litten selten so sehr wie die im Newgate-Gefängnis.

»Ich bringe Euch eine Nachricht«, sagte Colonel Howard zu Fenton.

Dieser stand mitten im Raum an einem Tisch. »Eure Nachricht habe ich längst erraten«, sagte er finster. »An dem Abend als sie mich verhafteten, war ich zu erschüttert, um nachzudenken. Aber ein Freund - nennen wir ihn Mr. Reeve - hatte mich bereits gewarnt vor dem, was geschehen könnte. Nun bin ich angeklagt, der Führer einer katholischen Verschwörung zu sein, die sich mit Blut und Feuer gegen London richtet. Beachtet bitte, wie gut sich alles zusammenreimt: von einer sogenannten katholischen Mätresse bis zu einer französischen Köchin namens Madame Taupin, einer Katholikin. Man riet mir sogar, eine Audienz beim König zu suchen, der mich dann selbst zu einer Audienz einlud. Und nun bin ich hier.«

Ohne etwas darauf zu erwidern, zog Colonel Howard einen Stuhl hervor und nahm am Tisch Platz, auf dem mehrere lange Tonpfeifen mit einer irdenen Tabakschale und ein Haufen Bücher lagen. »Nein«, entgegnete er schließlich, »das ist nicht meine Nachricht.« Dann setzte er hinzu, als ob es belanglos wäre: »Ich glaube, ich habe Euch jeden Tag seit Eurer Einkerkerung besucht.«

»Wofür ich Euch von Herzen dankbar bin.«

»Wir haben uns über Geschichte, Literatur, Architektur, Astronomie unterhalten.« Colonel Howard seufzte beinahe, und sein Blick glitt liebevoll über die Bücher. »Nein, das Vergnügen war ganz meinerseits! Doch haben wir nie über Eure - persönlichen Angelegenheiten gesprochen.«

»Nein. Niemals.«

»Ich wage anzunehmen«, sagte Colonel Howard und blickte Fenton mit scharfen, durchdringenden Augen an, »daß Ihr jetzt allen Menschen auf dieser Erde Mißtrauen entgegenbringt.« Fenton zuckte nur die Achseln, ohne etwas zu erwidern. Er war so angespannt wie ein lauernder Panther.

»Na, ich bin nicht neugierig!« versicherte ihm Colonel Howard. »Aber ich darf wohl vermuten«, setzte er gelassen hinzu, »daß Ihr mindestens einmal dem Teufel begegnet seid. Habe ich recht?«

Fenton, der den Colonel ebenfalls anstarrte, spürte die erste Besorgnis seit vielen Tagen. Unwillkürlich legte er die Hand über die Augen.

»Fürchtet niemals Verrat von mir!« sagte Colonel Howard sanft. »Da Ihr jedoch keinem Menschen mehr traut, werdet Ihr mir wahrscheinlich nicht glauben.« Nachdenklich fuhr er fort: »Ich selbst bin dem Teufel noch nie begegnet. Aber ich weiß, daß er existiert, über die Erde geht und jeden Augenblick in unserer Mitte auftauchen kann.«

Fenton lächelte nur wie über einen kleinen Scherz. »Ihr sagtet doch«, erwiderte er höflich, »daß Ihr eine Nachricht für mich hättet.«

»Stimmt, stimmt.« Colonel Howard blickte rasch um sich und stand hastig auf. »Laßt uns etwas abseits ans Fenster treten.« Die ehemaligen Schießscharten waren schon zu Zeiten der Tudors in Fenster verwandelt worden. Sie waren allerdings klein und schwer vergittert. Colonel Howard trat mit Fenton an ein Fenster, das nach Westen blickte. Unter ihnen lag ein Wallgraben. Ein Damm führte über den Graben zum Byward Tower, und dahinter lag der Zwinger mit den lärmenden Menschen. »Nun vergeßt den Teufel«, sagte Colonel Howard mit sehr leiser Stimme. »Ich bringe Euch eine private Botschaft von Sir Robert selbst. Heute abend, zu später Stunde, werdet Ihr einen Besucher haben.«

»Wirklich?« Fentons Herz klopfte schneller. »Was für einen Besucher?«

»Eine Dame. Oder vielleicht auch nur eine Frau. Ihr Name oder Rang ist mir nicht bekannt.«

»Eine Frau?«

»S-ss-t! Dicht an der Tür, die auf den Postengang führt, ist ein Fenster, und draußen steht ein Wärter, der sich verzehrt vor Neugierde.«

»Aber nein, dieser Besuch! Innerhalb des Towers? Nach dem Zapfenstreich?«

»Ich kann Euch nur sagen, was mir aufgetragen worden ist«, erwiderte der Colonel. In seine Augen trat vorübergehend ein belustigter Blick. »Sir Robert weiß auch nicht viel mehr; das nehme ich jedenfalls an. Dieser kleine Betrug konnte nur von jemandem in hoher, machtvoller Stellung arrangiert werden.«

»Aber was ist der Zweck dieses Besuches?« erkundigte sich Fenton. »Ich kann mir nicht vorstellen«, setzte er ironisch hinzu, »daß der Wirt dieses guten Gasthauses mir sogar ein Frauenzimmer zur Verfügung stellt, um mich zu belustigen.«

»Nein, das ginge zu weit.« In verändertem Ton fuhr Colonel Howard fort: »Man hat mich nur instruiert, Euch zu sagen, daß sie Euch eine Botschaft von äußerster Wichtigkeit bringen wird. Ihr werdet zuhören und ihr gehorchen. Sie ist zuverlässig .«

»In der Tat?«

». und handelt in Eurem Interesse. Das ist alles.« Colonel Howard gab jetzt den Flüsterton auf und fuhr in normaler Stimme fort: »Möchtet Ihr nun wohl etwas Neues hören über einen Freund, den Ihr vorhin erwähntet und der sich, wie ich vernehme, in einer gewissen Angelegenheit mächtig für Euch eingesetzt hat? Mr. Jonathan Reeve?«

»Mr. Reeve!« rief Fenton und umklammerte die Eisenstäbe am Fenster. Er war wirklich erfreut. »Was könnt Ihr mir von ihm berichten?«

»Er ist belohnt worden, Sir Nicholas. Genau Eurem Wunsch entsprechend.«

»So? Und von wem?«

»Von Seiner Majestät, dem König.«

»Ich bitte Euch um Verzeihung, Colonel Howard. Aber ich gestatte mir, das anzuzweifeln.«

»Nehmt Euch in acht, Sir Nicholas«, warnte sein Gefährte. »Ich kann viel verzeihen. doch bin ich immer noch ein Offizier des Königs und Vizegouverneur des Towers.«

»Wie Ihr mich doch erschreckt!« sagte Fenton spöttisch. »Vor vierzehn Tagen war ich krank und beschämt. Jetzt bin ich wieder bei Kräften. Ruft Eure Wachen, mein guter Herr, und dann wollen wir mal sehen, was ein Mann mit einem Tischbein oder Stuhl gegen sie ausrichten kann.« Colonel Howard hörte nicht einmal zu.

»Dann möchtet Ihr also nicht hören, wie Euer guter, standhafter Freund schließlich zu seinem wohlverdienten Lohn kam?« sagte er ruhig.

Fenton blickte zögernd zu Boden. Dann nickte er. Colonel Howard kehrte wieder zum Tisch zurück, wo er sich hinsetzte und einen Band von Juvenals Satiren in die Hand nahm. »Ich selbst war Zeuge dieser Szene«, sagte er, während er müßig in dem Buche blätterte. »Ich verlasse den Tower nur selten. Vor zwei Tagen aber schickte mich Sir Robert mit einer Nachricht zum König. Seine Majestät spielte mit mehreren anderen in der Mall, unterhalb der grünen Terrassen, das Mailspiel. Plötzlich gab der König ein Zeichen, und das Spiel wurde abgebrochen. Ich sah, wie dieser Jonathan Reeve, von Mylord Danby gestützt, auf seinen gichtgeschwollenen Beinen herankam. Er wußte nicht, was ihm bevorstand. In seinem schäbigen Gewand humpelte er direkt auf den König zu; in stolzer Haltung, bis er am Ziel war. Dann fiel er sofort aufs Knie und beugte sein greises Haupt tief herab.

Ein paar der Umstehenden fingen an zu lachen; doch ein Blick des Königs ließ sie verstummen. Der König selbst, dessen Rock und Perücke mit Staub bedeckt waren, schien zuerst ein wenig verlegen.

>Nein, ich schlage Euch nicht zum Ritter<, sagte er. Dann klang seine gewaltige Stimme wie eine Trommel. >Aber steht auf, Graf von Lowestoft, Vicomte Stowe, und nehmt Euren angestammten Platz wieder ein. Die Rückgabe des Titels und der Güter ist nur eine armselige Belohnung für einen, der sich bewährt hat wie Ihr.< Und Jonathan Reeve, Graf von Lowestoft, flüsterte nur ein einziges Wort: >Majestät!< Alle drängten sich um ihn herum, um ihm zu helfen und ein paar höfliche Worte mit ihm zu wechseln. Aber kaum eine Viertelstunde später war er tot.«

Colonel Howard hielt inne. Dann warf er plötzlich den Band von Juvenals Satiren mit einem Knall auf den Tisch, daß der halbhypnotisierte Fenton erschreckt auffuhr.

»Tot?« wiederholte Fenton.

»Allerdings.«

»Warum so schnell?«

»Nun, der Mann war achtzig«, erwiderte Colonel Howard. »Diese Gunstbezeigung nach jahrzehntelangem Leben im Elend hat er nicht überstanden. Auf der Heimfahrt in des Königs eigener Kutsche schien er friedlich zu schlummern, bis der Kutscher plötzlich einen schwachen Schrei vernahm: >Mit Gott für König Charles!< Mit diesen Worten auf den Lippen ist er gestorben.« Fenton ging langsam zu seiner Pritsche. Er setzte sich auf die Strohmatratze und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Auch ich sehne den Tod herbei, seit vielen Jahren - seit dem Augenblick, als meine Frau schreiend in dem Großen Feuer umkam«, sagte der Colonel leise.

»Ihr hattet also eine Frau?« fragte Fenton.

Er erhob sich von seinem Lager und trat an den Tisch, wo er mit einem seltsamen Blick auf seinen Gefährten herabblickte. »Auch ich hatte eine Frau«, fügte er hinzu. »Sie ist ebenfalls tot. Man hat sie vergiftet.«

»Vergiftet?«

Aus Colonel Howards Blick war deutlich zu lesen, daß dieses Geheimnis gut gehütet worden war. Keine Behörde wußte davon. »In dieser Zelle, die Ihr mir zur Verfügung gestellt habt«, stieß Fenton hervor, »habe ich viel darüber nachgedacht. Ich kann Euch sagen, wer meine Frau vergiftet hat. Ja, ich kann es sogar beweisen! Aber es ist mir nur möglich, wenn ich schreiben oder mich mit meinen Freunden außerhalb des Towers in Verbindung setzen darf. Bisher hat man mir keinen Besuch gestattet. Man hat mir nicht einmal Tinte, Feder und Papier gelassen. Warum eigentlich nicht?«

»Das kann ich nicht sagen. Es wurden mir keine Gründe genannt.«

Fenton rüttelte an dem Tisch, bis die Bücher zu Boden fielen. »Ihr habt gehört, Sir, daß ich die gegen mich erhobenen Anklagen erraten habe. Laßt mich die Liste der Anklagen noch verlängern. Hört zu! Habe ich nicht vor dem Mob, der mein Haus angriff, ausgerufen, daß ich ebensogut ein Katholik sein könnte? Habe ich nicht die Frage des Führers, ob ich die Gabe besitze, die Zukunft vorauszusagen, mit >ja< beantwortet?«

»Hm! Habt Ihr etwa auch von irgendeinem Pakt mit dem Teufel gesprochen?«

»Nein. Aber ich wäre durchaus dazu imstande gewesen.«

»Das will ich gern glauben, bin aber nicht im geringsten darüber erzürnt.«

»Colonel, ich bin kein Verräter! In dieser Welt habe ich nur das Verlangen, die Person, die meine Frau vergiftet hat, der Gerechtigkeit zuzuführen. Darf ich nicht einen Brief oder wenigstens eine mündliche Botschaft von hier senden?«

»Es steht nicht in meiner Macht, es zu erlauben.«

»Darf ich dann um eine Unterredung mit dem Gouverneur des Towers bitten?«

»Certes, Sir Nicholas, diesen Antrag dürft Ihr stellen.«

»Mit anderen Worten«, sagte Fenton und beugte sich über ihn, »meine Bitte wird nicht gewährt?«

»Ich habe keine Instruktionen.«

Obgleich Colonel Howard sich nicht im geringsten vor dem Gefangenen fürchtete, stand er auf und stellte sich hinter seinen Stuhl.

»Ich bedaure sehr«, sagte er, »aber meine Zeit hier ist um.« Zum erstenmal erhob er die Stimme: »Wärter! Öffnet mir die Tür!« Draußen vor der Tür wurde das Rasseln eines Schlüsselbundes laut.

»Unsere Unterhaltungen über Geschichte und Poesie«, bemerkte Colonel Howard mit Wehmut, »haben mich sehr ergötzt. Ich hege keinen Groll gegen Euch. Denkt an meine Worte: eine Frau wird Euch zu später Stunde aufsuchen. Tut, was sie verlangt.« Ein schwerer Schlüssel drehte sich im Schloß, und in dem Türspalt erschien die scharfe, glänzende Klinge der Partisane des Wärters. »Denkt daran!« sagte Colonel Howard zum zweitenmal. Als er mahnend den Finger hob, besaß er eine unheimliche

Ähnlichkeit mit Charles dem Ersten auf dem Schafott. »Ihr habt weniger Zeit, als Ihr glaubt.«

Die Tür schloß sich hinter dem Vizegouverneur und wurde abermals verriegelt. Fenton starrte darauf und fühlte alle Hoffnung dahinschwinden. Vierzehn lange Tage hindurch hatte er versucht, Colonel Howards Vertrauen zu gewinnen. Er kehrte zu seinem Lager zurück und setzte sich nieder. Von dem Pfad her, der durch den Bogen zur anderen Seite des Middle Towers führte, konnte er das Trampeln und Scherzen der Besucher hören, die sich in Begleitung eines Wärters den Tower ansehen durften.

Von der Menagerie erschallte das Husten und Bellen einer Hyäne. Der lange Nachmittag mit seinem von Rauch verdunkelten Licht ging zu Ende. Es wurde Zeit für die Menschenmenge, nach Hause zu gehen. Bald würden die Abendschatten auf das graue Gemäuer fallen.

Immer, wenn Fenton allein war, weilte er in der Phantasie bei Lydia. Sie war jetzt zurückgekehrt, um ihn zu beruhigen. Meistens erschien sie ihm, wie er sie an jenem Abend beim Glanz des Silbers und der Wachskerzen gesehen hatte, während Mr. Reeve das alte Liebeslied leise auf der Zither erklingen ließ. Sie saß auf dem Stuhl, den vor kurzem Colonel Howard eingenommen hatte. Der Blick ihrer blauen Augen war liebevoll, aber traurig. Ein heller Schimmer lag auf ihrem braunen Haar. Die halbgeöffneten Lippen versuchten zu lächeln. Ihre Hände waren gefaltet und die Arme ihm ein wenig entgegengestreckt. Und Fenton sprach laut mit ihr.

»Warte auf mich, vergiß es nicht. Es war bitter, daß es mir nicht gelang, den Vizegouverneur zu überreden. Es macht aber nichts. Ich bin noch nicht geschlagen. Da ich den Namen des Giftmischers kenne.«

Fenton hielt inne, voller Bedauern, daß er diese Worte gesprochen hatte. Denn Lydia floh bei dem Wort »Giftmischer«, obwohl sie einen verzweifelten Versuch zu machen schien, seine Hand zu berühren.

Seine Phantasie erlaubte ihm nicht, sie zu sehen, wenn er an Gift dachte.

Aber der Giftmischer war natürlich Kitty Softcover, seine frühere Köchin.

Seine Phantasie ließ Kitty, die Dirne von Alsatia, vor ihm erscheinen: klein, in schmutziger Kleidung mit ihrem schönen roten Haar und der feinen weißen Haut, aber mit schlechten Zähnen und gierigen Augen, die immer nach Diamanten und Smaragden schielten.

»Alte Schlampe«, redete er sie an, »dich habe ich vom ersten Augenblick an in Verdacht gehabt und auch mit Giles darüber gesprochen. Ich fand am Schloß der Haustür Spuren der Seife, mit der du einen Abdruck für einen Schlüssel genommen hattest, und gab sofort Anweisung, einen Riegel von innen anbringen zu lassen. Aber es ist vergessen worden, wie ich feststellen mußte, als Captain O'Callaghan mich als Gefangenen abführte.« Es war ihm, als ziehe Kitty haßerfüllt ihre Oberlippe zurück und winde sich gleichzeitig wie eine Schlange, um ihn zu betören. »Aber wo hättest du alte Schlampe eine neue große Portion Arsenik bekommen können, um Mylady zu vergiften? Erst hier im Tower habe ich wieder an meinen Besuch mit Lord George im Laden des Apothekers William Wynnel in der Totenmannsgasse gedacht.«

In Gedanken hörte er Kitty lachen.

»Es war deutlich zu merken, daß der alte Mann in dich vernarrt war. Wärest du zu ihm zurückgekehrt, hätte er dir zum zweitenmal so viel Gift gegeben, wie du wünschtest. Darauf möchte ich jede Wette eingehen, Schmeichelkatze. Du hast mich und meine Frau gehaßt. Hast du nicht vor meinen Augen eine Schale Sektmolke mit Arsenik vergiftet? Am Abend des 10. Juni bist du in mein Haus gekrochen. Vielleicht, um zu stehlen? Du bist aber geblieben, um zu töten. Meine Freunde brauchen nur Magister Wynnel zu ergreifen und die Wahrheit aus ihm herauszupressen. Dann können wir dich dem Richter aushändigen.« Aber Kitty war verschwunden, weil Fentons Gedanken stockten. Er fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und versuchte wieder nachzudenken . Fast sofort - so kam es ihm wenigstens vor - schien eine innere Stimme klagend zu rufen: »Nimm dich in acht, nimm dich in acht, nimm dich in acht!«

Fenton setzte sich aufrecht hin und spürte bei dieser Bewegung einen heftigen Schmerz in seinen verkrampften Schultern. Vorübergehend glaubte er, in pechschwarze Finsternis gehüllt zu sein. Doch als er seine Augen öffnete, sah er, daß der Vollmond durch die vergitterten Fenster schien und alles im Raum deutlich erkennen ließ.

Er mußte wohl geschlafen haben. Im Tower war kein Laut zu hören, nicht einmal ein Flüstern, nur das leise Plätschern des Wassers unten in der Tiefe.

Die Stille war unheimlich. Lautlos - als hätte er Angst -schob er sich an den Bettrand und stand auf. Auf Zehenspitzen ging er eine Zeitlang im Kreise umher, als ob ein Feind in einem schattigen Winkel lauere.

Es waren drei Fenster im Raum: eins ging nach Westen, eins nach Süden, auf den Fluß hinaus, und eins nach Nordosten. Die Luft war jetzt kühl. Geräuschlos schlich sich Fenton an das Nordostfenster. Er konnte keine einzige Laterne leuchten sehen, wohin er auch blicken mochte. Auch in den Türmen des Towers war kein Licht, nicht einmal im Wakefield Tower, in dem der Gouverneur seine Wohnung hatte. Selbst die Raben in den Bäumen auf dem Tower-Anger mußten jetzt schlafen.

Fenton erschauerte. Geräuschlos schlich er sich an das Südfenster, das über den Fluß hinausblickte. Selbst die Themse schien leer, abgesehen von einigen Fahrzeugen, die etwa dreihundert Meter entfernt an dem gegenüberliegenden Ufer vertäut lagen. Ein größeres Schiff, ein Rahsegler, hatte zwei grüne Laternen an der Rahe seines Großmastes. Jetzt konnte Fenton das Zischen der weißen Wassermassen unter dem Kai und an der Mauer hören. Aber sonst keinen Laut.

Halt! Da war ein anderes Geräusch.

Irgend jemand bewegte sich sehr leise über den Postengang auf seine Tür zu.

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