Doch Fenton selbst wäre dieser Gedanke nicht in den Sinn gekommen, als er in der dumpfen Samtkutsche nach Hause rollte. Er war wie gelähmt.
Normalerweise wäre das Schaukeln des Wagens für seinen zerschlagenen Körper sehr schmerzhaft gewesen; aber er fühlte nichts. Auch spürte er keinen Stich im Herzen, keine Neigung, zu toben und zu fluchen; gar nichts. Aber er fand es außerordentlich schwierig, seine Arme und Beine richtig zu bewegen. »Ich muß dies gründlich durchdenken«, sagte er dauernd vor sich hin. »Von Anfang bis Ende.«
Er erinnerte sich, daß er seine Taschenuhr herausgezogen hatte, als er den Palast verließ und den von Fackeln beschienenen Hof betrat, wo die Kutsche seiner harrte. Mit Staunen hatte er festgestellt, daß es noch kaum halb neun war. Seine ganze Audienz beim König hatte weniger als eine Stunde gedauert. Und jetzt fuhr die großartige Kutsche vor seiner Tür vor. Ich muß das alles durchdenken, wiederholte er im stillen. Obwohl er froh war, daß man ihm aus dem Wagen half, gab er lächelnd vor, keine Hilfe zu benötigen. Später erinnerte er sich daran, daß er Sam in ruhigem Ton sagte, er brauche nicht so lange an der Tür zu stehen. Sam öffnete mit einer Verbeugung die Tür und verschwand.
Der immer gegenwärtige Giles stand mit einer Kerze in der Halle. Als er Fentons Gesicht sah, preßte er seine dünnen Lippen aufeinander.
»Guten Abend, Sir.«
»Dir ebenfalls, guter Giles. Einen recht schönen guten Abend!«
»Darf ich mir als alter Diener die Freiheit nehmen, Sir, zu fragen, ob alles im Whitehall-Palast nach Wunsch und Willen gegangen ist?«
»Ja, es ging alles gut. Warum auch nicht?«
»Seine Majestät war nicht etwa - zornig? Wenn Ihr nur einen Blick in den Spiegel werfen würdet, wäre Euch meine Frage verständlich.«
»Zornig, sagst du? Schockschwerenot!« rief Fenton aus, mäßigte aber seine Stimme, als er fortfuhr: »Höre, Naseweis, wie zornig der König war. Er bot mir jegliche Belohnung an, die ich mir nur wünschte. Ehrenhalber konnte ich jedoch das Anerbieten nicht annehmen. Das wirst du verstehen. Immerhin!«
»Wißt Ihr, was man Euch zugedacht hatte, Sir? Nein? Dann will ich's Euch sagen. Seine Majestät wollte Euch zum Peer machen.«
»Daß dich die Pest! Was sollte ich wohl mit der Peerswürde anfangen? Giles, ist. Mylady wohlauf?«
»Ei, fürwahr«, erwiderte Giles erstaunt und setzte eine sauertöpfische Miene auf, weil sein Herr eine Peerswürde so verächtlich abtat. »Kurz nach Eurem Aufbruch löste sich die Tafelgesellschaft auf. Der betrunkene Lord George wurde in Mylord Danbys Kutsche nach Hause gebracht. Aber ich muß sagen, Sir, es gefiel mir gar nicht, wie der ältere Herr im Sattel schwankte, als er davonritt. Eure Gemahlin, Sir, hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie äußerte die Bitte .«
Fenton packte Giles am Rock.
»Ich möchte nicht mit meiner - mit ihr reden. Das heißt, nicht jetzt. Erst ein paar Minuten vor Mitternacht. Hast du mich verstanden, Giles?«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Hol mir Kerzen«, sagte Fenton. »Ich möchte in mein Schlafgemach gehen und dort über etwas nachdenken. Auf keinen Fall möchte ich gestört werden. Ist das klar?«
Giles verneigte sich und zündete rasch die Kerzen in einem dreiarmigen Leuchter an.
»Nein, du brauchst mir nicht die Treppe hinaufzuleuchten. Ich tue es selbst. Gib mir den Leuchter.«
Es kostete Fenton große Mühe, seine Hand ruhig zu halten. Sein Verstand war die ganze Zeit über klar gewesen, und er sah zu, daß es so blieb. Doch als die Wirkung des Schocks nachließ, machten sich die körperlichen Schmerzen wieder bemerkbar.
Sobald er sein Zimmer erreichte, ging er mechanisch zu den beiden Fenstern, die nach hinten über seinen Garten zur Mall und auf den Park gingen.
Er stellte den dreiarmigen Leuchter auf seinen langen, schweren Ankleidetisch neben den Spiegel und betrachtete in dem flackernden Licht sein blasses Gesicht.
»Warum hat Lydia dies getan?« fragte er sein Spiegelbild. »War ihre ganze Liebe zu mir nur Heuchelei?«
»Das weißt du doch.«
»Ich kann mich nicht damit abfinden.«
»Du mußt dich damit abfinden.«
Das weiche Kerzenlicht schimmerte auf dem Glas und glühte in dem dunklen Rot der Weinkaraffe, die seit kurzem immer in seinem Zimmer stand. Hastig griff er nach Karaffe und Becher, vom Wunsch getrieben, seinen Schmerz im Alkohol zu ersäufen. Aber er stellte beides wieder hin. Vor allen Dingen mußte er jetzt einen klaren Kopf behalten.
Einem plötzlichen Impulse folgend, zog er den Stuhl an eins der dunklen Fenster.
Bis Mitternacht waren es noch dreieinhalb Stunden. Die Gefahr für Lydia begann genau mit dem Schlag zwölf. Nicht ein einziges Mal dachte er daran, in ihr Zimmer zu stürzen und ihr den Brief anklagend ins Gesicht zu werfen.
Er vermochte es einfach nicht. Er schreckte davor zurück. Wenn sie wirklich schuldig war, wollte er sich so lange wie möglich diesem Wissen verschließen. Es war gleichgültig . jedenfalls beinahe gleichgültig . was sie getan hatte. Er liebte sie und würde sie trotz allem beschützen.
Sorgfältig legte er seine Uhr in Reichweite auf den Tisch und ließ sich dann in dem Polsterstuhl vor dem dunklen Fenster nieder. »Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte er zu sich und spürte einen leisen Stich im Herzen. »So ist Lydia nicht. Es liegt nicht in ihrem Charakter!«
Sein kühler, abwägender Verstand schien im Sinne des zwanzigsten Jahrhunderts zu antworten:
»Hör auf mit dieser Gefühlsduselei! Du wolltest doch denken. Dann denke also! Wie ist Lydias Vorgeschichte?«
»Ihre Eltern waren Presbyterianer, gehörten also einer puritanischen Sekte an. Ihr Großvater war ein Königsmörder, mit anderen Worten wahrscheinlich ein Angehöri-er der Fünften Monarchie, der an den unmittelbaren Anbruch des Reiches Christi glaubte und das Staats- und Kirchenwesen als gottwidrig ablehnte.«
»Und glaubst du etwa, daß das keinen Einfluß auf sie ausgeübt hat, ehe sie Sir Nick heiratete? Bedenke, sie ist in dem Glauben, daß du der richtige Sir Nick seist. War sie wirklich nicht verletzt, als du sie von ihrer alten Kinderfrau trenntest, selbst wenn sie dir nach dem Munde geredet hat?«
»Schweig! Warum sollte ausgerechnet Lydia einen Eifer für den Green-Ribbon-Klub entwickeln?«
»Hast du die elementaren Tatsachen der Geschichte vergessen?«
»Nein.«
»Dann denk daran, daß Mylord Shaftesbury, einst selbst ein hitziger Presbyterianer unter Oliver, bei der Restauration als erster kraftvoll dafür eintrat, daß allen puritanischen Sekten gestattet werde, den Lehns- und Supremateid abzulegen, damit sie nicht geächtet waren. Weißt du nicht, daß er alte Presbyterianer in seinem Klub willkommen heißt?«
»Aber Lydia! Sie hat weder Verständnis noch Interesse für Politik. Das hat sie mir selbst ein dutzendmal versichert.«
»Eigentlich zu bereitwillig. Meinst du nicht auch? Weißt du nicht noch, wie sie dich jedesmal rasch vom Thema ablenkte?«
»Schweig, sage ich! In der allerersten Nacht, als ich sie in Megs Zimmer traf« - der Gedanke an Meg ließ ihn ein wenig stocken -, »versuchte ich, mich für Sir Nicks Betragen zu entschuldigen, und bat sie um Verzeihung. Und Lydia antwortete: >Ihr bittet mich um Verzeihung? Ich bitte Euch darum von ganzem Herzen.<«
»Na, was blieb ihr auch anders übrig?«
»Das verstehe ich nicht.«
»Niemand schildert ihren Charakter als kalt und bösartig. Sie war eben gerührt. Warum hat sie denn wohl ihren Eltern zum Trotz Sir Nick geheiratet? Es war eine physische Attraktion, weiter nichts. Als sie dann entdeckte, daß Sir Nick ein grausamer, boshafter Kerl war, haßte sie ihn. Dennoch besaß er für sie immer noch eine gewisse Anziehungskraft.«
»Das stimmt! Als sie am nächsten Morgen mit dem vom Gift hervorgerufenen Ausschlag auf Stirn und Armen in dieses Zimmer eilte, war sie die Zärtlichkeit selber und . und .«
»Die war sicher geheuchelt. Aber weißt du noch, was du sagtest?«
»Ich hab's vergessen.«
»Nur weil du es vergessen willst. Sir Nick gewann die Oberhand und erging sich in einer Flut von Schmähungen; er stieß die heftigsten Verwünschungen gegen die ganze Rasse der Puritaner aus. Du hast vergessen, daß sie im Grund ihres Herzens vielleicht ein ebenso leidenschaftlicher Rundkopf ist, wie du ein leidenschaftlicher Kavalier bist.«
»Hinterher war sie aber doch zärtlich. Meine Güte, sie war es doch, die mich bat, sie - in der Nacht aufzusuchen!«
»Heuchelei in der Hauptsache. Außerdem weißt du, daß sie eine vollblütige, leidenschaftliche Frau ist.«
»Es war keine Heuchelei. Du lügst.«
»Ah, ist deine Eitelkeit verletzt?«
»Willst du behaupten, daß sie sofort nach der Einladung zum nächtlichen Rendezvous den Brief schrieb, der meinen Feinden enthüllte, wo ich zu finden war?«
»Natürlich. Sie liebt dich nicht. Du bist gefährlich. Du mußt vernichtet werden.«
»Hör auf mit diesem Unsinn!«
»Du wolltest doch alles durchdenken. Wie oft, wenn sie dir falsches Lob zu spenden wünschte, ist ihr das Wort >Rundkopf< entschlüpft? Denk mal darüber nach! > Sanft wie ein Diener Gottes, doch kühn und beherzt wie einer von Cromwells Eisernen Dragonern<.«
»Ich habe zu der Zeit gar nicht einmal daran gedacht.«
»Wer lockte dich an jenem Abend nach Spring Gardens? Und schlüpfte am selben Tage heimlich aus dem Hause, um den Brief zu senden, der dir die drei Degenfechter auf den Hals schickte? Um ein neues Kleid zu kaufen? Unsinn! Denn der Laden >La Belle Poitrine< ist ein neuer Sammelplatz für Briefe.«
»Hör endlich mit dieser Tortur auf! Wenn Lydia gar nichts für mich übrig hätte, warum dann diese Eifersucht, vor allem ihre Eifersucht auf Meg?«
»Das ist wieder einmal Unsinn. Lydia ist eine Frau. Du bist ihr Eigentum. Glaubst du etwa, sie ließe sich das von einer anderen streitig machen? Am allerwenigsten von Meg oder vielmehr Mary Grenville. Lydia weiß genau, daß du eine geheime Schwäche für Meg hast. Das kann sie nicht ertragen. Das läßt ihre Eitelkeit nicht zu. Bedenke, daß du achtundfünfzig Jahre alt bist. Nicht physisch, aber im Geist. Könntest du dich nicht leicht von einem hübschen Gesicht, einem schönen Getue und einem verlockenden Körper täuschen lassen? Bist du nicht gar völlig betört?«
»Ja, diese Möglichkeit muß ich wohl ins Auge fassen.«
»Dann nimm dich in acht, wenn sie dich vor der einzigen Frau warnt, die dich wirklich gern hat: Meg York. Lydia haßt Sir Nick und hält dich selbstverständlich für Sir Nick. Sie wendet nur die von Sir Nick erlernten Liebeskünste auf einen anderen Mann an.«
Fenton sprang auf und bedeckte seine Augen mit der Hand. Ein gewaltiger Zorn bemächtigte sich seiner, aber er wußte, daß er sich beherrschen mußte. Er verschloß sich all diesem Geflüster - so glaubte er wenigstens -, und nahm wieder vor dem dunklen Fenster Platz, um seine Gedanken zu ordnen. Eine Zeitlang war es ihm dunkel vor Augen. Dann auf einmal mahnte ihn das laute Ticken seiner Uhr an die dahineilenden Minuten.
Es war zehn Minuten vor neun. Einen gewissen Entschluß hatte er bereits gefaßt. Wieder sprang er auf die Füße und steckte die Uhr in die Tasche. Im selben Augenblick klopfte es leise an die Tür, und Giles lugte vorsichtig mit dem Kopf durch die Spalte.
»Sir«, sagte er, sich räuspernd, »ich hätte Euch nicht gestört. Aber Mistreß Pamphlin .«
Judith Pamphlin, kerzengrade und grimmig wie immer, stand händeringend hinter Giles.
»Mylady«, sagte sie, »läßt Euch fragen, warum Ihr sie seit Eurer Rückkehr noch nicht aufgesucht habt.« Mrs. Pamphlin grinste beinahe hämisch. »Auch möchte sie Euch bitten .«
Fentons Miene verfinsterte sich. Judith hatte sich den denkbar schlechtesten Augenblick für ihre Anwesenheit ausgesucht. »Ich hatte Euch untersagt, Euch Mylady zu nähern«, sagte Fenton. »Aber Ihr habt meinem Befehl nicht gehorcht. Darüber reden wir später noch. Doch wie ich sehe, habt Ihr eine Tugend: Ihr seid Mylady sehr ergeben und treu. Stimmt das?«
»Es stimmt.«
»Dann paßt gut auf. Richtet Mylady aus, daß ich in einer wichtigen Angelegenheit das Haus verlassen muß, aber vor Mitternacht zurückkehren werde.«
Mrs. Pamphlin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber eines Besseren und schwieg. Statt dessen trat ein böser Blick in ihre Augen. Giles drückte ihr rasch eine Kerze in die Hand, schob sie auf den Flur und schloß die Tür.
»Habt Ihr tatsächlich die Absicht, das Haus zu verlassen?« fragte Giles gemessen. »Und warum etwa nicht?«
»Wegen Eurer Verfassung, Sir. Ihr seid krank.«
»Was weißt du schon von meiner Verfassung?« fragte Fenton ironisch. Die Degen wunde in seiner Seite schmerzte, und er fieberte ein wenig. »Giles! Ich möchte etwas weniger Auffälliges tragen. Halt!« Eine leise Erinnerung regte sich. »Der schwarze Anzug, Giles! Der schwarze Samtanzug, den ich am 10. Mai trug, als ich in der Totenmannsgasse angefallen wurde.«
»Sir«, rief Giles verzweifelt, »ich bin ein schlechter Diener. Den Samtanzug habe ich noch nicht gereinigt. Es sind Blutflecke auf den Manschetten.«
Fenton befand sich in zu großer Ungeduld.
»Es ist nicht von Belang! Dieser Anzug hier« - er trug ein nüchternes Grau, nur mit einem Silberstreifen in der Weste - »eignet sich auch für diese Gelegenheit. Nun geh in den Stallhof hinunter und laß mein Pferd satteln.«
Giles warf ihm noch einen prüfenden Blick zu und verließ das Zimmer. Fenton zog indessen ein Paar weiche, helle Reitstiefel mit leichten Sporen aus dem Schrank, die ihm weit bis über die Knie reichten. Er warf einen leichten Mantel um und stülpte sich einen Hut auf die Perücke.
Den dreiarmigen Kerzenleuchter haltend, versuchte er, leise die Treppe hinunterzuschleichen. Aber selbst bei äußerster Vorsicht klirrten die Sporen ein wenig auf Holzböden. Er hatte Angst, daß Lydia aus ihrem Zimmer eilen würde.
Erleichtert atmete er auf, als er endlich unten in seinem Studierzimmer war. Aus dem Bücherschrank zog er den Band heraus, in den er den Zettel mit Meg Yorks zwei Adressen gelegt hatte. Eine davon, dachte er, als er den Zettel fand, ist jetzt nutzlos. George hatte ja erwähnt, daß sie Captain Duroc verlassen habe. Aber die andere . Er glättete das Stückchen Papier und las: »>Die Goldene Frau<, Liebesgasse, Cheapside.«
In ein paar Minuten war Sweetquean bereit. Dick, eine Laterne in der Hand, hielt die Zügel. Ein seltsamer Schmerz - ob körperlicher oder seelischer Natur, konnte er nicht sagen - überkam Fenton, als er den Fuß in den tiefen Steigbügel setzte.
»Ein schöner Abend, Sir«, sagte Dick.
»Ja«, erwiderte er, »ein schöner Abend.«
Fenton ritt auf Charing Cross zu; er ließ der Stute die Zügel schießen. Eine dünne Mondsichel stand am dicht mit Sternen besäten Himmel.
Von Charing Cross bog er in den Strand ein, ritt unter dem Torbogen von Temple Bar hindurch und dann die absteigende Fleet Street hinunter. Sweetquean nahm Ludgate Hill im Galopp. Dort zog Fenton die Zügel an, um sich zu orientieren. Trotz der Beleuchtung durch Mond und Sterne herrschte Finsternis, da es keine Straßenlampen gab. Hin und wieder glühte das Licht eines Wirtshausfensters warm und rot in der Dunkelheit. Fenton dachte an frühere Zeiten, aber nicht an das London dieses Jahrhunderts, als er die Stute um den St.-Pauls-Kirchhof herum nach Cheapside traben ließ.
Er erinnerte sich daran, wie er und Mary Grenville -oder Meg York - in ihrem früheren Dasein zusammen im Park geritten waren: nicht im St.-James-Park, sondern im Hyde Park, der jetzt Waldland war. Es fiel ihm wieder ein, wie sie bei Richmond in der Themse geschwommen hatten. Mary war im Alter von achtzehn Jahren eine tüchtige Schwimmerin gewesen, aber er hatte sie mit über fünfzig Jahren noch um drei Längen geschlagen. Nein. Er durfte sich bei dieser Frau nicht Mary Grenville vorstellen; er mußte in ihr Meg York sehen, eine erwachsene Frau, die einer Wildkatze glich.
Klipp, klopp! klangen die Hufe seiner Stute auf dem Kopfpflaster von Cheapside. In diesem Quartier hatte das Große Feuer gewütet. Die meisten der Gebäude waren neu. Fenton lenkte die Stute in die Liebesgasse.
»Niemand«, hatte Meg geflüstert, »weiß, daß ich dort bin. Keiner kann mich finden oder belästigen. Es ist keine feine Gegend. Um so besser.«
Über der engen Gasse mit den hohen Häusern war ein schmaler Sternenstreifen zu sehen. Plötzlich erschien ein großer roter Feuerschein am Himmel, der dann rosa wurde und allmählich ganz verblaßte. Er rührte von der gewaltigen Seifensiederei in der Nähe her, die er ganz vergessen hatte. Glücklicherweise wehte der Wind aus einer anderen Richtung. Aber der rötliche Schein zeigte ihm das Haus, das er suchte. Es war ein kleines, neues Backsteinhaus, eine hohe Treppe führte zur Haustür. Keines der Fenster war erleuchtet. Fenton band Sweet-quean an einen Pfosten, rannte die Stufen hinauf und setzte den Klopfer in Bewegung, daß das Echo durch die Straße hallte. Bald darauf wurde die Tür geöffnet von einer uralten einäugigen Frau.
»Ja«, keuchte sie, während sie ihn im Schein eines in einer Öllampe schwimmenden Dochtes auf das genaueste inspizierte, »Ihr seid der Mann. Eine Treppe hoch, und dann sucht ein Zimmer, das nach der Straße geht. Meiner Treu, die Dame hat dieses Haus nicht eine Minute verlassen, aus Angst, Ihr würdet sie nicht antreffen. Einer hat diesen Geschmack«, sagte die Alte achselzuckend, »und der andere jenen.«
Fenton eilte die Treppe hinauf. Die Tür des Vorderzimmers stand ein wenig offen, und schwaches Kerzenlicht fiel auf den Flur. Und dann blieb er plötzlich stehen.
Irgend jemand im Zimmer, zweifellos Meg, spielte leise eine Tenorviola, und aus ihrer schönen Altstimme klangen Freude, Stolz und Triumph.
»Bürger, hört ihr das Freudengeheul?
Durch die Stadt tönt der heitere Schall:
Drei Männer mit Degen und drei mit der Keul'
brachten den Tyrannen zu Fall.«
Fenton wurde es fast übel, und er klammerte sich an das Treppengeländer. Dieses Lied widerte ihn an. Jedes Wort brachte ihm Lydia in den Sinn. Er stolperte blindlings den Flur entlang und stieß die Tür auf. Der Bogen der Tenorviola glitt von den Saiten. Fenton und Meg blickten einander an.
»Ihr habt es mächtig lange anstehen lassen«, sagte Meg und warf unbekümmert den Kopf in den Nacken, »mir Eure Aufwartung zu machen.« Dann änderte sich ihr Ton. »Nick, was ist mit dir?« Das Zimmer hatte zwei Fenster nach der Straße zu. Zwischen ihnen war ein offener Kamin. An jedem Fenster stand ein riesiger geschnitzter Stuhl, der mit bunten Kissen aus Schwanendaunen bedeckt war. Eine einzige Kerze brannte in einem goldenen Halter auf dem Kaminsims über einem leichten Holzfeuer. Meg, die ein purpurrotes Samtkleid mit Kaskaden von venetianischen Spitzen am tiefausgeschnittenen Mieder trug, saß auf der rechten Seite des Kamins.
Das Instrument war ihr aus der Hand geglitten, und ihr dunkles Haar glänzte im Schein des trüben Lichtes.
Da Fenton ihren Geschmack kannte, war er nicht überrascht, den kleinen viereckigen Raum so üppig ausgestattet zu finden wie irgendeinen im Palast. Es waren mehrere gepolsterte Stühle und eine Ottomane vorhanden. Aber die Gobelins und die Gemälde mit den Liebesszenen erinnerten ihn an Georges Beschreibung des .
Meg sprang hastig auf. »Einen Augenblick!« sagte Fenton.
Sein Gesicht war kreidebleich, und ihm zitterten die Beine. Sein rechter Arm schmerzte so heftig, daß er nicht rasch genug den Degen hätte ziehen können, um sein Leben zu retten. »Zunächst einmal«, sagte Fenton heiser in modernem Englisch, »wollen wir - wie schon einmal - die Ausdrucksweise dieses Jahrhunderts fallenlassen und so sprechen, wie wir es gelernt haben!« Das trübe Kerzenlicht und das flackernde Feuer ließen Schatten über Megs weiße Schultern spielen. In ihren Augen unter den gesenkten Lidern leuchtete ein Blick des Verstehens. »Gewiß, wenn Sie es wünschen. - Professor Fenton, warum sind Sie hier?«
»Weil ich ein geschlagener Mann bin«, antwortete er rundheraus. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kam hierher, um . um .«
»Um Mitleid zu suchen?« fragte Meg mit giftiger Liebenswürdigkeit: Eifersucht und Haß strömten von ihr aus. »Sie haben sich wohl mit dieser. dieser. dieser Lydia in der Wolle gehabt, wie?«
»In gewissem Sinne, ja.«
»Und jetzt kommen Sie angekrochen!« Meg richtete sich auf. »Ausgerechnet Sie!« Fenton betrachtete den bunten Teppich.
»Sie!« sagte Meg bitter. »Oh, ich kenne Mr. Reeve ebenfalls. Wer kennt ihn nicht? Und ich habe eine Abschrift seiner Verse. Er nennt Sie den Helden der >Schlacht< von Pall Mall. Darauf war ich stolz. Ja! Und entsinnen Sie sich noch, wie Sie in unserem früheren Dasein die Kampagne planten, die die ganze deutsche Verteidigungslinie fast zerschmetterte? Ja! Und wie Sie den ersten Angriff an der Spitze Ihres Bataillons selber unternahmen?«
»Seltsamerweise habe ich neulich nachts davon geträumt.«
»Und jetzt kommen Sie mitleidheischend zu mir? Einen kriechenden Mann kann ich nicht ausstehen. Verlassen Sie mich! Gehen Sie!« schrie sie ihn an.
»Dann also gute Nacht! Und leben Sie wohl.«
Er hatte nicht bemerkt, wie ihr Gesichtsausdruck sich plötzlich änderte; schon, als sie ihn anschrie. Denn er hatte sich bereits zur Tür gewandt. Jetzt rauschte sie mit ihren seidenen Röcken an ihm vorbei und stellte sich vor die Tür. »Nick! Nein! Warte!«
»Gehen Sie mir bitte aus dem Weg«, sagte er verzweifelt. »Es hat alles keinen Sinn.«
»Oh, warum muß ich immer so sein?« rief Meg. »Fast jedesmal, wenn wir uns begegnen, werde ich gehässig und zänkisch. Was ich soeben sagte, habe ich nicht ernst gemeint, wirklich nicht!« Mit Erstaunen sah er, daß echte Tränen an ihren langen schwarzen Wimpern zitterten, als sie flehentlich die Hände hob. Ihre Reue, ihre körperliche Schönheit wirkten rührend. Aber mehr noch als das: sie schien ein nahezu brennendes Mitleid auszustrahlen. »Geh nicht fort«, flüsterte sie. »Nick .« Er küßte sie, und wiederum verlor er die Sinne. »Nun sag mir doch«, bat sie mit zurückgelehntem Kopf, »was hat diese Frau dir angetan? Hat sie dich zum Hahnrei gemacht?«
»Nein.«
»Warum habt ihr euch denn gezankt?«
Fenton schwieg. Er konnte nicht davon sprechen.
»Nun, es macht nichts«, sagte Meg dann. »Es ist mir gleichgültig. Komm her, Nick.«
Sie deutete auf einen Polsterstuhl, der vor dem Kamin stand. Hinter den Fenstern sah er wieder den roten Feuerschein der Seifensiederei am Himmel.
»Es macht nichts!« wiederholte Meg mit zitternder Stimme, und beide wußten, daß es eine Lüge war. »Setz dich, lieber Nick. Und mußt du selbst hier bei mir einen hinderlichen Degen und einen Umhang tragen?«
Fenton legte Mantel und Degen ab und warf sie auf die Ottomane. Dann setzte er sich in den Sessel.
»Ich sollte dich eigentlich bitten, auch die Perücke abzunehmen«, sagte Meg. »Aber alle Männer tragen das Haar darunter so kurzgeschoren wegen der Läusegefahr.«
Fenton mußte lachen. »Du brauchst keine Angst zu haben vor einem geschorenen Schädel oder vor Läusen. Ich habe mein Haar wachsen lassen.« Mit diesen Worten nahm er die Perücke ab und schleuderte sie ebenfalls auf die Ottomane.
Sein schweres, schwarzes, auf einer Seite gescheiteltes Haar war durch die Perücke flach gepreßt. Als er sie fortwarf, war es ihm, als käme er Schritt für Schritt durch die Nebel der Vergangenheit der Zukunft näher. Doch Meg, die sich seitwärts auf seinen Schoß gesetzt hatte, damit sie ihn ansehen und sich über ihn beugen konnte, wollte ihm noch nicht gestatten, daran zu denken.
»Nein«, flüsterte sie dicht an seiner Wange, »du darfst niemals Mary Grenville in mir sehen; nur Meg York. Mein wahres Wesen ist das von Meg York - war es sogar, als ich noch Mary Grenville war, obwohl ich es damals verbergen mußte, da ihr mich alle für ein kleines Mädchen hieltet.«
Sie verfiel wieder in die Ausdrucksweise dieses Jahrhunderts, und er wußte, daß er es auch so halten mußte.
»Ich hätte dir viel Konfusion ersparen können«, fuhr Meg fort, »wenn ich schon längst über manche Dinge mit dir gesprochen hätte. Aber ich wagte es nicht. Willst du mich jetzt anhören?«
»Ich höre dich.«
»Erinnerst du dich an jenen Abend in deinem Wohnzimmer - mehr als zweihundertundfünfzig Jahre trennen uns davon -, als du mir sagtest, du habest deine Seele dem Teufel verschrieben?«
Fenton fröstelte leicht. »Ich entsinne mich sehr gut«, erwiderte er.
»Und du machtest die Entdeckung, daß ich nicht. überrascht war?«
»Ganz recht. Das Gefühl hatte ich, obwohl ich mir's nicht erklären konnte.«
»Es war eine Sache des Herzens, nicht des Verstandes. Du suchtest und fandest den Grund, ehe du ihn wußtest.«
»Doch .«
»Halt, hör mich an! Ich wußte nichts von diesen Leuten, hatte nie etwas von dem Giftmord gehört, während du dich jahrelang damit beschäftigt hattest. Ich platzte beinahe vor Wut und Eifersucht. Ich hätte mir den kleinen Finger abbeißen können.« Megs leise Stimme zischte ihn an. »Ich durfte nicht säumen. Ich liebte dich. In großer Hast mußte ich mich über diese Leute orientieren. Du hattest von drei schönen Frauen gesprochen«, erklärte Meg haßerfüllt. »Nun, als eine dieser Frauen mußte ich mit dir in die Vergangenheit reisen.«
»In die Vergangenheit reisen«, wiederholte Fenton.
»Wenn ich die Rolle von Meg York spielte, aber mit meiner eigenen Persönlichkeit, konnte ich da nicht in der Tat beweisen, daß ich die Kinderschuhe abgestreift hatte?« Um Megs Lippen spielte das geheimnisvolle Lächeln, mit dem er so vertraut war. »Meiner Treu, Nick, hast du es nicht gleich am ersten Abend bemerkt, als wir uns begegneten?«
Der Feuerschein der Seifensiederei, der wieder über den Himmel flammte, zeigte ihm Megs jetzt boshaft lächelnden Mund noch deutlicher.
»Heiliger Strohsack!« fluchte Fenton und packte sie heftig am Arm, so daß ihr Lächeln noch herausfordernder wurde. »Hast du, Mary Grenville, deine Seele etwa dem -unserem Freund verschrieben?«
Megs Stimme klang rätselhaft.
»Oh, darüber müssen wir demnächst mal reden. Vor nicht langer Zeit fragtest du mich in Spring Gardens, warum ich dir nicht bei unserer ersten Begegnung verraten hätte, daß ich Mary Grenville sei. Ich erwiderte, daß ich meiner selbst nicht sicher war.« Meg erschauerte plötzlich. Er legte die Arme um sie und preßte sie fest an sich. »Doch war es nicht die volle Wahrheit«, gestand sie. »Ich mußte in dir die Überzeugung erwecken, daß ich nicht Mary Grenville sein konnte. Ich mußte die Enthüllung der Wahrheit hinausschieben. Ich mußte dich als Meg York dazu bringen, mich zu lieben oder wenigstens zu begehren.«
»Sprich! Hast du einen Pakt geschlossen mit.«
»Ich sage nicht ja, und ich sage nicht nein. Ich bin hier in meiner eigenen Gestalt aufgetaucht, obwohl ich mir die Rolle von Meg York, deiner vornehmen Mätresse, ausgesucht habe.«
»Schade«, meinte Fenton, »daß ich nie in der Lage war, von meinen Rechten Gebrauch zu machen.«
»Na, was das angeht! Der Schaden kann leicht kuriert werden . halt! Nicht so stürmisch! Ich möchte etwas Zeit haben, um .«
»Unnötig. Ich bitte dich, wozu noch warten?«
Nach einer Weile gelang es Meg, sich seinen Armen zu entziehen und aufzustehen.
Sie eilte zum Kaminsims, nahm den Kerzenleuchter und verschwand damit in einem anderen Zimmer. Dann kam sie noch einmal an die Tür zurück.
»Ich bin bald wieder da«, murmelte sie. »Verlangt es dich nach meiner Rückkehr?«
»Aber sehr!«
Sie warf ihm noch einen Blick über die Schulter zu und schloß dann die Tür hinter sich.
Fenton, dem es vor Erregung in allen Gliedern kribbelte, nahm wieder Platz.
Die einzige Lichtquelle in dem kleinen Raum war jetzt das Feuer, das anscheinend nicht richtig brennen wollte. Die Holzscheite waren unten glühend rot, doch über ihnen flackerten nur kleine Flammen. Aber mit diesem kleinen Holzfeuer hier im Rost hatte es eine merkwürdige Bewandtnis. Rauch schien ins Zimmer zu strömen, der auf seltsame Weise nach oben kräuselte. Dann aber zeigte ihm der Feuerschein der Seifensiederei, der wieder hinter den Fenstern sichtbar wurde, den wahren Sachverhalt. Es war überhaupt kein Rauch im Zimmer. Er, Fenton, hatte etwas anderes dafür gehalten, nämlich die vagen, wechselnden Umrisse einer Gestalt, die in dem großen Stuhl am Fenster saß. Eine höfliche, vertraue Stimme redete ihn an. »Guten Abend, mein Freund«, sagte der Teufel.