XI

In den ersten vierzehn Tagen seines neuen Lebens, während sich das Grün der Blätter in der warmen Maisonne vertiefte, lernte Fenton so mancherlei.

Er lernte, die Speisen dieses Jahrhunderts zu essen, hauptsächlich Fleisch mit dicken, fetten Saucen, die er dank seiner jugendlichen Verdauung genießen konnte. Kartoffeln, Eier, Fisch und guten Käse gab es in Massen. Niemand, stellte er mit Vergnügen fest, plagte einen, aus Gesundheitsgründen Gemüse zu essen. Also strich er es von seinem Speisezettel.

Er lernte es, zunächst einmal ein Liter des schwersten Weines zu trinken, ohne einen Rausch zu bekommen oder auffällig zu lallen. George Harwell staunte über seine Nüchternheit und verwünschte ihn als einen Tugendbold.

Das Tabakrauchen war leichter. Obwohl der Rauch aus einem Tonkopf beißender ist, so war der Virginiatabak doch besser, als er erwartet hatte. Er kroch den langen Stiel herauf und wirkte beruhigend, ohne den Gaumen zu ätzen.

Big Tom konstruierte je eine Zahnbürste für ihn und Lydia nach einem Muster, das Fenton auf ein Stück Papier zeichnete und sechsmal sorgfältig erklärte.

Aber dies kam erst später. Es muß leider gesagt werden, daß seine offizielle Anordnung im Haushalt Tumult und beinahe einen Aufruhr verursachte.

Dieser Tumult brach am 13. Mai aus, einen Tag nachdem er Sir John Gilead aufgesucht hatte, um mit ihm über den halb mit Kloakenwasser angefüllten Keller zu reden. George, der am Abend zuvor zum Essen erschienen war, erklärte ihm die Sache.

»Mein Güte!« rief George. »Wo steckt denn da die Schwierigkeit? Eine kleine Bestechung. Weiter nichts.«

Fenton, mehr Historiker als Haushaltungsvorstand, wollte sich gewisse Dinge bestätigen lassen, die ihm von seinen Studien her bekannt waren.

»Ich muß also jeden bestechen?«

»Nicht die Ladenbesitzer oder Händler, meiner Treu! Aber wenn es sich um eine Gunst, eine höhere Stellung oder eine Arbeit handelt, die einem Verwaltungsbüro unterliegt, na, dann laß deinen Geldsack auf den Tisch plumpsen, und damit basta!«

»Mit anderen Worten also: ein ganz anständiger Brauch, wie?«

»Für alle, die nicht gar zu gewissenhaft sind, ja.« George zuckte die Achseln. »Mein Vater. hm! Wir wollen lieber keine Namen nennen. Jedenfalls werde ich dir verraten, wie man mit Sir John Gilead redet.«

Sir John Gileads Büro lag im Schatzamt auf der Westseite der King Street. Von dem kleinen, nach hinten liegenden Raum hatte Fenton einen Blick auf ein Haus mit roten Ziegelwänden und weißgestrichenem, abgeflachtem Spitzdach, das sich lebhaft von dem hellen Grün in St.-James-Park abhob. Dort wohnte Mylord Schatzkanzler, der Graf von Danby. Fenton erfuhr zu seiner Überraschung, daß sowohl Sir Nicks Vater als auch Sir Nick selbst eng mit dem Schatzkanzler befreundet waren, der ein Finanzgenie und selbst ein Meister in der Bestechungskunst war, wenn es galt, Parlamentsmitglieder für die Hofpartei zu gewinnen.

Hierdurch erklärte sich zweifellos die große Höflichkeit, mit der Sir John Gilead Fenton willkommen hieß und ihm zuhörte. »Und das ist mein Problem«, schloß Fenton und nahm aus einem großen Lederkoffer am Boden einen mit Goldstücken gefüllten und oben fest zugeschnürten Segeltuchsack, der weit mehr Geld enthielt, als sein Projekt erforderte. Gleichgültig legte er den Sack auf den Tisch.

»Hm!« sagte Sir John und legte gewichtig einen Finger an seine Lippe. »Da fällt mir tatsächlich ein guter Plan ein.« Es skizzierte dann einen Plan, wonach ein Rohr unter Fentons Hintergarten und der tiefliegenden Gartenmauer hergeleitet werden sollte, so daß das Kloakenwasser unter den zur Mall führenden Terrassen »absickern« würde.

»Potz Geck!« rief Fenton, der sich den Ausdruck von George angeeignet hatte. »Dies erscheint mir nicht gerade zweckmäßig. Der Gestank wird allen in die Nase steigen, besonders Seiner Majestät, wenn er in seinem eigenen Park promeniert. Und was passiert, wenn das Wasser die Mall erreichen sollte?«

»Zweifellos ergeben sich Schwierigkeiten.«

»Was haltet Ihr von meinem ersten Plan, eine dreihundert Meter lange Leitung zu einem Hauptabzugskanal zu legen?«

»Das wäre kostspielig, mein lieber Herr. Sehr kostspielig.« Fenton langte abermals in den Koffer am Boden, holte einen zweiten Segeltuchsack hervor, der noch etwas größer war als der erste, und legte ihn ebenfalls auf den Tisch.

»Hm ! « meinte Sir John, scheinbar ohne davon Kenntnis zu nehmen. »Nun, mein Herr«, fügte er nach einer Weile hinzu, »nach reiflicher Erwägung bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß sich die Sache machen läßt.« Er erhob sich und strahlte Fenton durch seine Brillengläser an. »Und für einen Freund von Mylord Danby, dem obersten Minister des Königs, soll die Sache unverzüglich in Angriff genommen werden.«

Und so geschah es; gleich am nächsten Morgen.

Am selben Morgen kehrte Fenton in seinem braunen, mit scharlachrotem Mohn bestickten Schlafrock ziemlich früh aus Lydias Zimmer in sein eigenes Gemach zurück. Sein Gang war federnd; seine Augen strahlten, und aus seiner Haltung sprach feste Zuversicht. »He, Frechdachs!« bellte er Giles an, wobei er allerdings lächelte. »Vom heutigen Tage an weht ein frischer Wind durch dieses alte Gemäuer.«

»Wollt Ihr, daß ich die Betten umstelle, Sir? Es wäre doch bequemer, wenn .«

Fenton brachte ihn zum Schweigen und erklärte, daß er, Giles, ausgehen müsse, um die beste Badewanne zu kaufen, die für Geld zu haben sei, selbst wenn sie eigens angefertigt werden müsse. Sie sollte groß und nach Möglichkeit mit Porzellan ausgeschlagen sein. Dann sollte sie in diesem Stockwerk installiert werden, und zwar in einem Raum, aus dem sämtliche Möbel außer ein paar Stühlen zu entfernen seien und der künftighin schlichtweg als Badezimmer bezeichnet werde.

Giles machte gewisse Bemerkungen, und Fenton warf ihm einen schweren Reitstiefel an den Kopf.

Aber das war noch nicht alles. In einem Nebenraum der Küche sollte auch eine Badewanne für die Dienstboten aufgestellt werden. Nur ein Bad in der Woche sei erforderlich. Dies verursachte eine wahre Revolte unter der Dienerschaft, zu der sechs Personen gehörten, die er noch nie gesehen hatte.

Er konnte nicht verstehen, warum sie sich so heftig sträubten. Zweimal schickte er Giles als Abgesandten zu ihnen, um nach ihren Gründen zu fragen.

»Sir, sie sagen, es sei ein unsauberer Brauch.«

»Unsauber?«

»Ich kann nur wiederholen, was sie gesagt haben, Sir.«

Durch einen Gegenzug brach Fenton ihren Widerstand. Ein guter Hausherr bewilligte seinen niedrigeren Dienstboten jährlich einen Mantel, einen Anzug oder ein Kleid. Fenton bot ihnen nun zwei Anzüge im Jahr und außerdem einen Sonntagsanzug. Die Dienstboten, die diesen neuen Sir Nick verehrten, weil er nicht duldete, daß sie mißhandelt wurden, gaben ihre Zustimmung jedoch nur unter gewissen Bedingungen.

»Sir«, meldete Giles, »unter Ächzen und Stöhnen haben sie sich dazu bereit erklärt, ein Bad zu nehmen, aber nur einmal im Monat. Euch zu Gefallen wollen sie hingegen jede Woche die Unterwäsche wechseln und das saubere Linnen anziehen, das Ihr ihnen versprochen habt.«

»Topp!« sagte Fenton sofort, und so wurde die Angelegenheit geregelt, ohne daß selbst die Nachbarn etwas davon erfuhren. Denn Sir Nick hatte wenige Freunde, da die meisten ihn für einen griesgrämigen, blutrünstigen Kerl hielten.

Das Bad im oberen Stock wurde als erstes eingerichtet. Da es nicht möglich war, eine Pumpe zu installieren, schleppte Big Tom täglich eimerweise das heiße Wasser nach oben. Und wie stellte sich Lydia dazu?

Die Vorstellung eines täglichen Bades brachte sogar sie zunächst ein wenig aus der Fassung. Fenton war sich bewußt, daß er - allerdings mit der äußersten Vorsicht -die unsinnigen Ideen ausrotten mußte, die man ihr durch ihre Erziehung eingepflanzt hatte. Mit Hilfe seiner Kenntnisse von lateinischen sowie französischen Autoren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts machte er sie darauf aufmerksam, daß ein Bad nicht nur den Zwecken der Reinlichkeit zu dienen brauche, wenn zwei Personen es teilten. Sie war im Glauben erzogen, daß zu vieles Waschen der Gesundheit nicht zuträglich, sondern ebenso schädlich wie die Nachtluft sei, und außerdem eine Sünde, da es den Körper enthüllte. Aber als Fenton ihr gewisse Dinge erklärte, änderten sich ihre Gefühle im Handumdrehen.

Er war jetzt geradezu vernarrt in sie und hatte auch alle Ursache dazu. Es schien ihm, als sei eine Ewigkeit vergangen seit der Nacht ihrer ersten Begegnung, als sie mit ihrem von Schminke entstellten Gesicht und glanzlosen Augen vor ihn hintrat. Tag für Tag konnte er die Veränderung beobachten, die mit ihr vorging. Ihre Augen waren jetzt strahlend blau und funkelten vor Heiterkeit. Ihr hellbraunes Haar wurde weicher, üppiger und glänzender, seitdem das Arsenik aus den Haarwurzeln verschwunden war. Ihre blasse Haut hatte die rosaweiße Tönung angenommen, die von strotzender Gesundheit zeugt. Ihr ganzes Wesen hatte sich verwandelt. An einem klaren blauen Nachmittag, als die Linden in der Pall Mall in üppigem Blätterschmuck prangten, ritten Lord George Harwell und Mr. Reeve auf guten Pferden bei Fentons Haus vor. Sobald die Tiere in den Stall gebracht waren, führte Fenton seine Gäste in das lange, dunkle Speisezimmer, wo viele auf Holz gemalte Bilder von Nicks Vorfahren hingen. Eines der schönsten war ein Porträt von Sir Nicks Vater, dessen Küraß und Schwert darunter aufgehängt waren.

Fenton nahm an, daß es dem alten Kavalier gefallen werde, und darin hatte er sich nicht getäuscht. Mr. Reeve stand ehrerbietig davor und nahm seinen breitkrempigen Hut ab. George, der sich einen Stuhl an der langen Tafel hervorzog und Platz nahm, kam sofort zur Sache. »Nick«, fragte er, »weißt du, was für einen Tag wir heute haben?«

Fenton wußte es sehr wohl. Das Datum jedes Tages notierte er in einem Buch, das er in der Schublade seines Schreibtisches verschlossen hielt. Obgleich er hoffte, daß durch Kittys Entlassung Lydia allen Gefahren entronnen sei, spürte er im Herzen, daß dies eine Illusion war.

»Heute haben wir«, entgegnete er, »den 19. Mai.«

»Hast recht!« stimmte George zu und klopfte mit der Hand auf den Tisch. »Heute morgen wurde Mylord Shaftesbury schmachvoll aus dem Rat Seiner Majestät entlassen und aus London beordert. Genau, wie du es prophezeit hast.«

Fenton blickte auf den polierten Tisch hinab. »Na und?« sagte er. »Die Nachricht«, erwiderte George, »ging wie ein Lauffeuer durch alle Wirtschaften und Kaffeehäuser. Nick, hörst du nicht das Zungengedresche derer, die das grüne Band tragen?«

»Ich kann's mir vorstellen. Aber worauf willst du hinaus?« Zögernd senkte George den Kopf, wobei die gelbe Feder auf seinem roten Hut auf und ab wippte.

»Nick, du gehst so selten in Gesellschaft. Wer sieht dich je beim Hofball in Whitehall oder in einem der anderen großen Häuser? Wer trifft dich woanders als in einer stinkigen Kneipe oder über den Büchern in deinem Studierzimmer? Und doch bist du ein so wunderbarer Degenfechter. Und doch erscheinst du plötzlich im letzten November als Redner und fesselst das Parlament wie ein Schauspieler sein Publikum. Und doch sagst du haargenau auf den Tag die Zukunft voraus!«

»Ich wiederhole, George, wozu dies alles?«

George würgte verlegen, während ihm unter seiner Perücke der Schweiß ausbrach. »Manche Narren nennen dich einen finsteren Hund, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat.« Fenton blickte ihn seltsam an.

»Nun wollen wir mal offen reden«, schlug George vor. »Wenn man auch arme verrückte Geschöpfe henkt, weil das Gesetz es noch verlangt, so wissen verständige Leute doch, daß dieser Geister- und Hexenspuk ein törichtes Hirngespinst unserer Altvordern ist.«

»Ja, und selbst wenn dem so ist?«

»Potz Geck! Die Sache liegt doch klar auf der Hand! Nick, du steckst eben tief im Vertrauen Seiner Majestät. Es ist ganz natürlich, daß du es vorher wußtest.«

»George, das ist nicht wahr.«

George warf ihm einen flüchtigen Blick zu und spielte mit seinem Reithandschuh. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Manche behaupten«, murmelte er, »daß ein unterirdischer Tunnel von deinem Haus zum Whitehall-Palast führt und dies der Grund ist, warum man dich dort nicht sieht.« George hielt inne und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nick, verzeihe mir, ich will nicht spionieren.«

»Es gibt auch nichts zu spionieren, alter Freund. Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, daß ich nie ein Wort mit Seiner Majestät gewechselt habe, und ich bin ebensowenig fähig, die Zukunft zu weissagen, wie du selber!«

»Na, wenn du das sagst«, entgegnete George erleichtert, »glaube ich es dir. Und damit basta! Außerdem kann dir jetzt, wo Mylord Shaftesbury von London fort ist, noch keine Gefahr drohen .«

»Gefahr? Was für eine Gefahr?«

»Potz Geck! Meine vermaledeite schwatzhafte Zunge! Na, meinetwegen. Ich will's dir sagen. Entsinnst du dich noch deiner anderen Prophezeiungen im Green-Ribbon-Klub?«

»Es war irgendein Unsinn. Ich hab's vergessen.«

»Die anderen aber nicht, Nick. Sie behaupten, du habest prophezeit, daß die Papisten bald einen großen, blutigen Aufstand machen, uns die Kehlen abschneiden und London in Brand stecken würden.«

Fenton stand langsam auf.

Zuerst tobte und fluchte er. Dann ging er im Zimmer auf und ab, um Sir Nicks Drängen, die Oberhand zu gewinnen, im Keim zu ersticken.

»Solche Worte habe ich nicht gesprochen«, erklärte er schließlich in ruhigem Ton. »Die anderen behaupten ja genau das Gegenteil von dem, was ich gesagt habe. Ich habe von einer Verschwörung gegen unschuldige Katholiken geredet, von denen viele eines blutigen Todes sterben würden.«

Der alte Mr. Reeve wandte zum erstenmal den Blick von dem Porträt und dem darunterhängenden Küraß ab. Sein aufgedunsenes Trinkergesicht wirkte unter dem weißen Haar grotesk. »Ich kann das bezeugen«, erklärte er. »Ebenfalls Lord George Harwell. Aber wer von den anderen?«

Er setzte sich auf einen Stuhl und richtete seine listigen alten Augen auf Fenton. Seine lange Degenscheide rasselte auf dem Fußboden.

»Diese Nachrichten, die George Harwell brachte, stammen zum größten Teil von mir. Ich bin ein Horcher, wie man sagt, ein gedungener Spion, der jetzt allerdings von Mylord Shaftesburys Partei enthüllt dasteht. Aber habt Ihr, mein junger Freund, schon mal über die Bedeutung dieser Dinge nachgedacht?«

»Nein, ich .«

Die entzündeten Augen waren immer noch mit sanftem, aber durchdringendem Ausdruck auf Fenton gerichtet. »Als Ihr in dem Raum da oben Mylord Shaftesburys Schicksal und Absichten aufdecktet«, fuhr Mr. Reeve fort, »waren alle über die Maßen vexiert, und ihre Gedanken gerieten in Verwirrung. Sie erinnern sich gut an den 19. Mai, da Ihr dieses Datum Mylord so oft unter die Nase gerieben habt. Aber woran können sie sich sonst erinnern? Selbst der ehrlichste Mann ist im benebelten Zustand seiner Sache nicht sicher. Kurz gesagt, sie haben eben das gehört, was Mylord Shaftesbury ihnen eingeredet hat. Und wenn Ihr, wie er behauptet, einen blutigen Papistenaufstand prophezeit habt - nun, dann liegt's auf der Hand, daß Ihr selbst darin verwickelt seid, vielleicht gar als ein Führer von Meuchelmördern. Weshalb sollte nicht auch Seine Majestät in den Plan eingeweiht sein? Mein guter Freund, wenn Mylord Shaftesbury schon stark genug wäre - ich bin überzeugt, daß dies nicht der Fall ist -, dann hättet Ihr einen Bürgerkrieg heraufbeschworen!« Fenton ging immer noch unruhig im Zimmer auf und ab. »Das ist doch nicht Euer Ernst?« bemerkte er ironisch.

Mr. Reeves Bacchusgesicht zeigte einen Ausdruck verdutzten Unwillens.

»Sir Nicholas«, sagte er, »merkt Ihr denn nicht, welches Verbrechen man Euch aufhalsen will?« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Hochverrat! Wollt Ihr Euch den Tower von innen besehen?«

Fenton blieb stehen und wandte sich ihm zu. »Ich - ich bin mir der Gefahr nicht unbewußt«, protestierte er. »Aber Eure Nachricht kommt so plötzlich und ist so beunruhigend, daß . daß .«

»Nun, das klingt schon besser! Man hätte denken können, Ihr kümmertet Euch keinen Pfifferling darum.«

»Was soll ich aber tun?«

»Nun, folgendes«, sagte Mr. Reeve lächelnd und trommelte leise mit den Fingern auf den Tisch. »Wenn Ihr uns heute die Wahrheit gesagt habt, ist die Sache ganz einfach. Ersucht um eine Privataudienz bei Seiner Majestät, was durchaus keine Schwierigkeiten bietet.«

Hier hielt er etwas verlegen inne, weil er nie in seinem eigenen Interesse davon Gebrauch gemacht hatte. Doch er setzte sich rasch darüber hinweg.

»Sagt dem König, falls er es nicht schon weiß, daß Ihr nur Euren Verstand gebraucht und durch einen Zufall das richtige Datum getroffen habt. Erklärt ihm, daß Mylord Shaftesbury Euch zweimal Raufbolde auf den Hals gehetzt hat und Ihr seiner Aufmerksamkeiten überdrüssig geworden seid. Sagt Seiner Majestät genau, was Ihr in Wirklichkeit geäußert habt, als Ihr Eure übergeschnappten Prophezeiungen verkündetet, um Mylord gleichsam mit einem ungeheuren Schreckgespenst in Angst zu versetzen. Vor allem .«

George konnte nicht länger an sich halten.

»Vor allem«, platzte er heraus, »warum du die kühne Behauptung aufstelltest, daß dieses >papistische Komplott< in drei Jahren geschmiedet würde. Die Green-Ribbon-Leute behaupten, du habest >in drei Monaten< gesagt. Du mußt erklären, es sei alles erlogen.«

Mit einer stattlichen Geste brachte ihn Mr. Reeve zum Schweigen.

»Das ist alles, was Ihr zu tun habt«, sagte Mr. Reeve lächelnd. »Seine Majestät muß Euch gut gesonnen sein. Er war, wie ich höre, in der >Gemalten Kammer<, als Ihr gegen Shaftesbury gewettert habt. Erzählt ihm alles, und er wird über die anderen lachen . wenn ihm überhaupt nach Lachen zumute ist.«

Eine geraume Weile stand Fenton mit festgeschlossenen Augen regungslos da, während seine Hände die hohe Lehne eines Stuhles umklammert hielten. So viele Gedanken stürmten ihm durch den Kopf, daß er ganz verwirrt war. Doch über eines war er sich im klaren. Er machte die Augen auf.

»Sir«, wandte er sich an Mr. Reeve. »Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Wieso?«

»Das wage ich nicht zu erklären.«

»Wiederum muß ich Euch leise daran erinnern: möchtet Ihr im Tower schmachten?«

»Ja! Lieber als im Irrenhaus unter jaulenden Wahnsinnigen! Dort würden sie mich nämlich hinbringen. Außerdem .«

»Wir hören, Sir Nick.«

»Mein ganzes Leben lang habe ich mich mit Leib und Seele dem Studium der Geschichte gewidmet - so seltsam es in Euren Ohren klingen mag. Mir selbst erscheint es merkwürdig. Aber ich will nicht darüber spotten oder meinen Spaß damit treiben.«

»Sir Nick, was für ein wirres Zeug schwatzt Ihr da?«

»Jedes Wort, das ich zu Shaftesbury sagte, ist wahr. Ich prophezeie nicht; ich weiß es. Wollt Ihr das genaue Datum hören, an dem der König die erste Nachricht von der mythischen >Papistenverschwörung< erhält? Nun, ich will's Euch sagen: es ist der 13. August 1678.« George sprang auf die Füße; Furcht und Schrecken malten sich in seinem Antlitz. Doch der alte Mr. Reeve saß ruhig wie ein geduldiger Schulmeister da und zupfte an dem schmalen Büschel seines weißen Spitzbartes. Selbst seine rauhe, gesprungene Stimme blieb leise, als er sagte:

»Als Ihr mir vor einer Weile gütigst das Porträt zeigtet, habt Ihr wohl nicht angenommen, daß ich es erkennen würde. Ihr glaubtet sicher, ich würde nur einen alten Kavalier wie meinesgleichen darin sehen, wie?«

»Nun!« log Fenton, der spürte, daß sein Verstand jetzt von einer anderen Seite her auf die Probe gestellt wurde. »Ich erinnere mich, daß Ihr ein Freund meines Vaters wart. Doch als wir uns an jenem Abend im Wirtshaus zum >Königshaupt< begegneten, schient Ihr mich nicht zu kennen.« Mr. Reeves Augenlider senkten sich.

»Euch nicht zu kennen?« wiederholte er, und sein Blick wanderte in die Ferne. »Mein Junge, ich ritt Seite an Seite mit Eurem Vater in der Schlacht von Naseby. Prinz Rupert führe uns. Wir zerschlugen die feindliche Linie wie der Blitz einen morschen Baum . Aber das sind alte Geschichten«, fuhr er fort, »und letzten Endes haben wir die Schlacht verloren. Mein Junge, ich sah, wie das Schwert Eures Vaters, das dort an der Wand hängt, einen Hummerschwanzhelm spaltete. Am Abend, als alles vorüber war, schlichen wir zusammen abseits der Lagerfeuer umher und sahen, wie die Rundköpfe unseren Marketenderinnen die Nasen aufschlitzten .«

Wiederum hielt er mit einem Ruck inne.

»Genug davon! Aber sollte ich etwa kein Interesse für den Sohn meines Freundes haben? Was für eine seltsame Krankheit Euch befallen hat, weiß ich nicht. Aber wenn Ihr Euch nicht selber helfen wollt, werde ich es tun, das schwöre ich!« Jetzt verlor George vollständig den Kopf.

»Ihr?« rief er mit einem verächtlichen Blick auf die geflickte, armselige Kleidung des alten Mannes. »Ihr verbrauchter Säufer? Soldat und dennoch Spion? Wie könnt Ihr jemandem helfen?« Dieser Ausbruch verletzte Mr. Reeve so, daß er seine übliche Zurückhaltung vergaß.

Langsam schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich bin der Graf von Lowestoft«, sagte er, und seine Stimme klang mit schrecklicher Klarheit durch den stillen Raum.

Er bückte sich nach seinem uralten Hut und richtete sich wieder auf.

»Es ist mein angestammter Titel seit zwölf Generationen. Schurken mögen meinen Titel und meinen Besitz geraubt haben. Dennoch gehören sie mir.« Seine starke Stimme stockte und stammelte. »Ich fürchte sehr, mein junger Herr, daß alles andere, was Ihr sagtet, wahr ist. Aber es gibt noch einige, die sich an mich erinnern.«

Wiederum tastete er in dem tiefen Schweigen, das diesen Worten folgte, nach seinem Hut und fand ihn schließlich. Und jetzt passierte etwas, was den alten Mann entsetzte: Die Tränen traten ihm in die Augen und drohten die Wangen hinabzurollen. »Mit Verlaub«, sagte er und wandte hastig den Kopf zur Seite. »Ich muß Abschied nehmen.«

Fenton legte den Arm um seine Schultern und klopfte ihm verlegen auf den Rücken.

»Mylord«, sagte er mit so tiefer Höflichkeit, daß dem alten Mann fast wieder die Tränen kamen, »gestattet mir, Euch hinauszubegleiten. Die Sache mit Eurem Titel und Besitz soll geregelt werden, das verspreche ich Euch! Ob durch das Gesetz oder das Schwert- sie wird ins reine gebracht!«

»Ach nein, bemüht Euch nicht. Ich bitte Euch! Doch ist es die Wahrheit, daß ich Euch helfen kann. Ich selbst gehe nie an den Hof. Aber ich habe Freunde, die Söhne und Enkel von Freunden. Sie sagen mir alles, was vom Parlament bis zum Ratszimmer geflüstert wird. Ihr sollt alles hören, damit Ihr auf der Hut sein könnt.«

George, der wohl wußte, daß der alte Bacchus ein Mann von Rang gewesen war, und ganz unüberlegt seine Worte herausgesprudelt hatte, wurde jetzt arg von Gewissensbissen geplagt. »Halt!« rief er. »Ich wollte Euch nicht verletzen!«

»Und glaubt Ihr denn«, sagte der Achtzigjährige, der inzwischen seine Tränen gemeistert hatte und wieder lächelte, »ich hätte das nicht gewußt? Ihr seid jung, mein Freund, und verachtet alles Schwache. Ei ja, ich will dennoch mit Euch reiten. Laßt mich nur ein wenig vorgehen. Es fällt mir manchmal etwas schwer, in den Sattel zu kommen, und dessen soll nur ein Stalljunge Zeuge sein.« Mit einem »Gott sei mit Euch« stapfte Jonathan Reeve, Graf von Lowestoft, Vicomte Stowe, schwerfällig aus dem Zimmer, wieder den Tränen nahe, aber so stolz, als ob er zu einem Treffen mit Prinz Rupert eilte.

Fenton hielt den schuldbewußten und ganz zerknirschten George mit einer heftigen Geste zurück.

»Und wer bist du«, fragte Fenton, »daß du dir das Recht anmaßt, jemand einen verbrauchten Säufer zu nennen?«

»Nick, ich habe wild dahergeredet. in deinem eigenen Interesse, weil du die Gefahren nicht sehen wolltest und wie ein Tollhäusler sprachst!«

»Na schön, lassen wir die Sache ruhen«, entgegnete Fenton. »Aber neulich bei unserer Zecherei im >Schwan< hast du geschworen, Meg aufzusuchen und sie mit honigsüßen Worten zu entführen.«

»Nick, ich wollte mir nur Mut antrinken und bin dabei einen Schritt zu weit gegangen.« Fenton biß sich auf die Lippe.

»Ich . die Sache ist nicht von Wichtigkeit. aber hast du dich seitdem mit ihr in Verbindung gesetzt?«

»Ei ja, am nächsten Tag. Hab's ganz vergessen, dir zu sagen. Du erinnerst dich wohl noch an diese Memme, diesen bemalten Riesen, diesen Schmarotzer, Captain Duroc, dem du eine solche Ohrfeige versetztest, daß er über das Geländer sauste und die Treppe hinunterfiel. Nun, der Zapfkellner hatte recht. Der Mann hatte sich in der Tat das linke Bein gebrochen und liegt seitdem immer noch bei dem Wundarzt in Brettern und Verbänden, tobend und fluchend, aber noch nicht geheilt.«

»Und Meg?«

»Meg sitzt allein in seiner Wohnung - eine feine Wohnung, wie ich höre, mit einer Madam Soundso als Anstandsdame - und freut sich ihres Lebens. Ich schickte ihr ein paar Zeilen und bat, ja, flehte um eine Unterredung. Sie aber erwiderte, daß sie nur einen Mann zu empfangen bereit sei.«

»Captain Duroc?«

»Nein, dich«, knurrte George, und seine Miene verfinsterte sich. Wenn er nicht eine so ehrliche Haut gewesen wäre, dachte Fenton, hätte George ihn vielleicht gehaßt. »Ich werde nicht mehr um sie herumscharwenzeln«, fuhr George fort. »Es sind tausend leichte Mädchen zu haben, wenn man ihnen ein hübsches Haus mietet und ein paar Kleider schenkt. Aber, Nick, Nick! Laß dir einen Rat geben!«

»Ich bin begierig, ihn zu hören, George.«

»Du bist so übermäßig verliebt in Lydia! Du verbringst so viel Zeit mit ihr im Bett, daß es ein wahres Wunder ist, daß du noch die Kraft hast, ein Messer bei Tisch zu halten. Ich will nichts gegen Lydia sagen, aber hüte dich vor deinen Feinden. Mylord Shaftesbury wird die Stadt verlassen, aber nicht für immer. Du verlierst mitunter deinen Verstand, wie ich soeben mit meinen eigenen Ohren gehört habe. Sieh zu, daß du nicht auch dein Geschick im Degenfechten einbüßt.« Und George stapfte schnaubend davon. »Dein Geschick im Degenfechten.«

Fenton war sich der lauernden Gefahren durchaus bewußt, und ein Gedanke spukte ihm dauernd im Kopf herum: er war es nicht gewohnt, mit einem richtigen Degen umzugehen. Früher oder später mußte er kämpfen. Wie lange würde ihm seine allerdings gründliche Erfahrung mit einem federleichten Florett gegen eine schwerere, von geschickter Hand geführte Waffe helfen? Das mußte er ausprobieren.

Daher ließ er sich am selben Abend, als er an der Mauer seines Hintergartens stand und auf den Park hinausblickte, Giles Collins herbeiholen.

Wenn ich mich nicht darauf verstehe, dachte Fenton, muß ich es irgendwie lernen. Irgendwie!

Der Garten war sehr breit und lang und hatte kurzgeschnittene Rasenflächen. Von den Stallungen war er durch hohe Eibenhecken getrennt. Ein schattiger Pfad führte draußen an der Mauer entlang, und von dort senkten sich grasbedeckte Terrassen zu dem rötlichgelben Fahrweg der Mall.

»Ihr wünschtet mich zu sehen, Sir?« ertönte Giles' Stimme hinter ihm.

Fenton fuhr leicht zusammen und drehte sich um. »Aus gewissen Bemerkungen, die du geäußert hast, Rotkopf«, sagte Fenton, »möchte ich wohl schließen, daß du ein guter Degenfechter bist oder warst. Stimmt's?«

»Sir, ich zählte mich - und tue es auch heute noch - zu den besten Fechtmeistern.«

»Das ist gut. Denn ich habe im Sinn, mir ein wenig Übung zu verschaffen.«

In Giles' Augen erschien ein freudiges Leuchten, das aber sehr bald wieder erlosch.

»Sir, das hat schon mancher erwogen. Aber es läßt sich schlecht durchführen. Wenn man große Korke auf die Degen steckt, so fliegen diese beim Fechten ab oder werden von der Spitze durchbohrt. Macht man die Spitze stumpf, indem man sie mit recht viel weichem Material umwickelt und dieses festleimt, dann wird das Spiel schlecht und schwerfällig. Ein hölzerner Degen .«

»Was meinst du zu einem Brustharnisch?« erkundigte sich Fenton.

»Brustharnisch?«

»Ja! Es sind doch gewiß noch viele alte Brustharnische in der Rumpelkammer vorhanden. Allerdings dürfen wir nur auf die Fläche zwischen Schultern und Taille stoßen, doch .«

»Bei Gott, Sir, hört auf damit!« rief Giles ein wenig erregt. »Ganz abgesehen davon, daß die Spitze sich abstumpfen oder der Degen an der Stahlplatte gar zerbrechen könnte .«

»Dann schleifen wir eine neue Spitze oder kaufen eine neue Klinge!«

»Nein, Sir, das ist nicht das Schlimmste. Die Klinge kann beim Auftreffen abrutschen. Selbst wenn wir eine Halsberge tragen« - hier fuhr sich Giles nervös mit dem Finger über die Kehle -, »mag die Spitze nach oben in die Kehle oder ins Gesicht dringen. Oder in den Arm. Oder« -hier zogen sich seine Mundwinkel melancholisch herab -»gar nach unten, mit dem allerunseligsten Resultat.«

»Giles, ich befehle dir, hol die Brustharnische! Ich habe hier meinen Clemens-Hornn-Degen; wähle du dir von meinen Klingen irgendeine, die dir gefällt.«

Giles zögerte ein wenig, dann aber verbeugte er sich und eilte davon. Sie entdeckten bald mehrere leidlich saubere und polierte Brustharnische, die ihnen paßten.

Unter dem allmählich verblassenden gelben Abendhimmel stand Giles mit dem Rücken zu der hohen, dichten Hecke, die den Stallhof einfriedete. Die glänzende Brustplatte wirkte auf Giles' dunkler Kleidung reichlich grotesk. Er hatte eine ebenso lange und schwere Klinge gewählt wie Fenton, nur besaß seine Klinge ein rundes, gewölbtes Stichblatt aus feingeschmiedetem Stahl. Der kurzgeschnittene Rasen unter ihren Füßen war fest. Kein Laut war zu hören, nicht einmal vom Stallhof her. Auf einmal ertönte Giles' Stimme, mit einem seltsam scharfen Klang, den Fenton noch nie darin vernommen hatte.

»Sir, ich möchte Euch warnen. Von dem Augenblick an, wo wir fechten, sind wir nicht mehr Herr und Diener. Ich werde unbarmherzig zustoßen, sooft ich kann.«

Fenton spürte eine große Trockenheit in der Kehle, und sein Herz schlug heftiger als in dem Augenblick, wo er Mylord Shaftesbury gegenüberstand. »Topp!« sagte er.

Es gab noch keinen formalen Fechtgruß mit Kreuzen der Klingen. Die Kämpfer gingen mit tastenden Degen aufeinander zu. Giles, der sehr rasch auf den Füßen war, machte sofort einen Ausfall, und zwar eine niedrige Terz. Als Fenton die Klinge dicht an seinem Stichblatt abfing und mit der Hand nach links fegte, gab er seinem Handgelenk ganz mechanisch eine kleine Wendung, um Giles' Klinge weiter fortzuschlagen. Dann kam Fentons Gegenstoß, eine Quart, in die Herzgegend.

Die Spitze traf mit dumpfen Laut auf Stahl, und zwar genau auf den Punkt, den er gewählt hatte. Gleichzeitig bog sich seine Klinge und glitt seitwärts ab, ohne jedoch Giles' Arm zu berühren. Fenton hatte kaum Zeit, den Gegenstoß zu parieren.

Nicht übel, dachte er. Gar nicht übel. Ruhig Blut! Auf Giles' Harnisch hatte er in Gedanken eine Reihe von Punkten gemalt, die zusammen die Gestalt eines X abgaben. Er kämpfte in vorschriftsmäßigem Stil, nicht so nahe am Gegner wie Sir Nick. Er holte tief Atem und ging zum Angriff über. Fünfzehn Minuten später, als das Licht so trübe geworden war, daß das Spiel gefährlich wurde, senkten beide den Degen und setzten sich hin. Sie hatten in kurzen, scharfen Gängen gefochten mit kleinen Atempausen dazwischen. Aber Giles war sehr blaß und keuchte; neue Linien schienen sich tief in sein Gesicht geschnitten zu haben.

Fenton war zwar nicht sehr außer Atem, aber vor Staunen so benommen, daß sich alles - das Gras, der ganze Garten - langsam um ihn zu drehen schien. Er konnte es immer noch nicht fassen. Giles Collins, ein höchst geschickter und gefährlicher Degenfechter, hatte nicht ein einziges Mal seinen Harnisch berührt, während er selbst mehr als die Hälfte der Punkte seines X haargenau getroffen hatte.

Das war phantastisch! In Gedanken hörte er immer noch den scharfen oder gleitenden Aufprall seiner Spitze. Dann fiel sein Blick auf Giles.

»Giles, Giles!« rief er voller Reue, als er Giles' Verfassung sah. »Ich habe ganz vergessen, daß du kein junger Mann mehr bist. Du mußt dich sofort auf dein Bett legen!«

»Pah!« erwiderte Giles höhnisch. Er hatte sich auf den Ellbogen gestützt, um wieder zu Atem zu kommen. »Sorgt nur für Euch selbst! Ihr habt bei mir kein Unheil angerichtet.« Fentons Gedanken bewegten sich im Kreise, wie sein Degen so oft den seines Gegners umkreist hatte.

»Giles«, stammelte er, »ich bedaure, daß mein Fechten heute nicht so . nicht so .«

»Hört mir zu, Sir Nick Fenton«, sagte Giles und hob den Zeigefinger. »Ich bin kein Schmeichler, wie Ihr bezeugen könnt, eher eine Wespe, die Euch sticht, wie Euer Vater es wünschte. Aber, Sir! Heute wart Ihr so behende auf den Füßen wie je zuvor. Euer Auge war vielleicht nicht ganz so akkurat wie sonst. Aber in meinem ganzen Leben habe ich kein so gutes oder so tödliches Fechten gesehen!«

»Was sagst du da?«

Wieder deutete Giles mit dem Finger auf ihn. Stolz leuchtete in seinen Augen.

»Noch eins will ich Euch sagen. Ich möchte tausend Guineen wetten, wenn ich sie hätte, daß kein Mann in London es zwanzig Sekunden lang mit Euch aufnehmen kann! Nun genug des Lobes, Säufer und Sünder!«

»Giles, du mußt dich ausruhen. Kümmere dich nicht um diesen alten Rüstungskram, sondern geh zu Bett.«

Giles erhob sich mit steifen Gliedern und ging schwankend von dannen.

Fenton begab sich, den Degen immer noch in der Hand, langsamen Schrittes zu der niedrigen Backsteinmauer am Ende des Gartens. Ein einziger gelber Streifen lag tief und trübe am Himmel. Und plötzlich wurde er sich darüber klar, wie falsch seine Auffassung gewesen war.

Im gegenwärtigen Jahr, 1675, befand sich die Fechtkunst noch in ihren Anfangsstadien. Erst hundertzwanzig Jahre später, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, würde sie beinahe Vollkommenheit erreichen. Die jetzigen Paraden bestanden aus einfachen Schlägen, obgleich Sir Nick darin geschickter gewesen sein mußte. Die Hiebe zeigten wenig Raffinesse und waren meistens leicht zu parieren. Die Finten waren kindisch und sofort zu erraten. Diese Leute hatten noch nie etwas von einer Gelenkdrehung beim Parieren gehört und kannten nicht viele Kniffe außer einigen unredlichen Tricks. In ihrer Abwehrstellung waren sie zu exponiert.

Er dagegen hatte eine über dreißigjährige Erfahrung im Florettfechten hinter sich, dazu den geschmeidigen und kräftigen Körper eines jungen Mannes. Manche Autoritäten bezeichneten das Florett wegen seiner Leichtigkeit als wertlos. Aber andere wiesen darauf hin, daß lange Übung am meisten zähle; daß jeder gründlich erlernte und geschickt ausgeführte Stoß - die ganze Fechtkunst - den Duelldegen überbiete.

Und sie hatten recht. Was Fenton als die größte Gefahr für sich betrachtet hatte, war in Wirklichkeit seine größte Stärke. Er war ein besserer Degenfechter als Sir Nick.

Fenton atmete in tiefen Zügen die würzige Luft ein. Alle Verwirrung fiel von ihm ab. Seit einiger Zeit hatte sich Sir Nick völlig ruhig verhalten, nicht einmal mit dem Deckel seines Sarges geklappert.

Doch um seine Lippen spielte ein merkwürdiges Lächeln, das ganz, ganz schwach dem mörderischen Lächeln Sir Nicks ähnelte. »Wer mich jetzt angreift«, sagte er laut, »ist mir ausgeliefert!«

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