Als Fenton am nächsten Morgen erwachte, hatte er nicht das Gefühl, geträumt zu haben. Er wußte sehr wohl, wo er sich befand. Ein schwacher morgendlicher Schimmer drang durch die Bettvorhänge aus ungebleichtem Linnen, die abermals fest zugezogen waren. Fenton hatte sich selten so glücklich, so übermütig und so erfrischt gefühlt. Er straffte seine Muskeln unter dem verwickelten Schlafrock und sog die Luft tief in die Lungen. Ja, es war erstaunlich, daß ein Mann sich so frisch fühlte im Alter von achtundf. nein, sechsundzwanzig Jahren. Besser noch! Seine gestrigen Sorgen erschienen ihm jetzt leicht. Meg aus dem Haus jagen und Lydias Leben retten - die einfachste Sache auf der Welt! Selbst wenn Meg keine Schuld trug, war es gut, wenn man sie loswurde.
»Die Welt, das Fleisch und der Teufel«, sann er laut, »ich habe sie alle drei herausgefordert.« Professor Fenton lächelte. »Ich besitze beides: die Weisheit des Alters und die Kraft der Jugend - eine gute Kombination, um mit allen dreien fertig zu werden.« Wie auf ein Signal hin wurden im nächsten Augenblick beide Vorhänge zu seiner Linken weit aufgezogen.
In der Öffnung stand ein hagerer, nicht sehr großer Mann in schlichter, dunkler Kleidung von guter Qualität. Er trug Kniehosen und seidene Strümpfe. Eine blitzartige Erinnerung an die alten Stahlstiche verriet Fenton sofort, daß es Giles Collins war, Sir Nicks Diener und Schreiber in einer Person. Sein feuerrotes Haar stand kerzengerade in die Höhe. Er hatte ein langes, mageres Puritanergesicht, aber lüsterne Augen und einen sinnlichen Mund. Seine angeborene Frechheit verleitete ihn dazu, seinem Herrn zu widersprechen, wobei er sehr weit ging. Aber wie Fenton aus anderen Quellen als Giles' eigenen Aufzeichnungen wußte, war er der treueste Diener, den man sich denken konnte. »Einen schönen guten Morgen, mein Herr und Gebieter«, sagte er unterwürfig.
Fenton rollte auf die Seite und ließ sich die Phrasen und den Akzent, die er gebrauchen mußte, durch den Kopf gehen. »Heda, du verwünschter Spitzbube«, brummte er. »Gehst schon so früh deinen Geschäften nach?«
»Ja, freilich. Und Euren ebenfalls. Wie ich sehe, wart Ihr gestern abend wieder benebelt. Nanu! Könnt Ihr denn nicht ein properes Nachtgewand anlegen, selbst wenn ich es für Euch zurechtlege?«
»Es ist verdammt lästig.«
»Wahr, in mancher Beziehung wahr!« pflichtete ihm Giles weise bei, während ein lüsternes Lächeln um seinen Mund spielte. »Ah, diese Damen! Wenn Madam York dies macht« - seine Beschreibung war drastischer, als sich hier wiedergeben läßt -, »oder wenn Madam York jenes macht.«
»Halt dein Maul, verdammt noch mal!«
Der rotköpfige Giles schrumpfte zusammen wie eine gestochene Blase und blickte tiefverletzt drein. »Na, na«, knurrte Fenton, »hab's nicht böse gemeint.«
»Und ich will Euch doch nur gute Dienste leisten, Sir!« sagte Giles. »Und dieses Frauenzimmer, diese Magdalen York, sie soll das Haus verlassen, sobald wir eine Glaskutsche holen können. Wohin sie geht, steht in ihrem Belieben. Ich bin mit ihr fertig. Verstanden?« Fenton brach ab, weil Giles, das lange Gesicht zur Seite geneigt, ihn mit einem Blick betrachtete, in dem weder Unterwürfigkeit, Zustimmung noch Frechheit lagen. »Was zwackt dich nun, Giles?«
»Nichts für ungut, bester Herr«, erwiderte Giles. »Es ist nur, daß ich dieselben Worte schon so oft von Euch gehört habe.« Fenton richtete sich kerzengerade im Bett auf. Leise trat Giles an den Tisch zu Häupten des Bettes. Auf diesem stand jetzt ein schweres silbernes Tablett mit einem fast ebenso schweren silbernen Becher, der dampfend heiße Schokolade enthielt. Geschickt hob Giles das Tablett auf und ließ es auf Fentons Schoß gleiten. Ebenso geschickt und rasch zog er die anderen Bettvorhänge auf und befestigte sie alle mit einer Schlinge an den Bettpfosten. Fenton blickte sich verstohlen im Zimmer um.
Ein grauer, bedeckter Himmel zeigte sich hinter den beiden Fenstern. Vom Bett aus waren nur windbewegte Baumwipfel zu sehen. Die Vorhänge aus schwerem mattweißem, mit roten Fäden durchwehtem Brokat waren alle zurückgezogen und mit Schlingen befestigt. Auf dem Boden lag ein Teppich in so bunten Farben und verschlungenen orientalischen Mustern, daß Fenton die Augen schloß. Das Mobiliar bestand aus düsterer, harter, unnachgiebiger Eiche. Die niedrige Decke und die braungetäfelten Wände wirkten bedrückend.
Er zog eine Grimasse, als er seine Schokolade trank. Sie war körnig und viel zu süß; aber ein junger Gaumen kann alles vertragen. Giles beobachtete ihn scharf.
»Herr, Ihr müßt Euch sputen!« stöhnte der DienerSchreiber, die Hände ringend. »Die Stunde ist vorgerückt.«
»Wie spät?«
»Nach acht. Und Lord George wird bald hier sein.«
»Nennst du das spät?« fragte Fenton, während er ein Gähnen vortäuschte. »Nun mal rasch Rede und Antwort gestanden, Rotkopf: was für einen Tag haben wir heute? Und was für einen Monat? Und wo wir schon mal dabei sind, potz Geck, was für ein Jahr?«
Giles warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, unterdrückte jedoch eine unverschämte Bemerkung und setzte ihn davon in Kenntnis, daß es Dienstag, der zehnte Mai im Jahre des Herrn 1675 sei. Dann war der gestrige Abend, dachte Fenton, ein Teil dieses Tages. Natürlich nach Mitternacht! Der Teufel hielt seinen Pakt genau ein. Und Lord George mußte natürlich George Harwell, der zweite Sohn des Grafen von Bristol, sein. Er war Sir Nicks engster Freund und Zechkumpan. »Eure Kleider, guter Herr!« sagte Giles, der von einem Stuhl zum anderen flog, auf denen die verschiedenen Kleidungsstücke ausgelegt waren. »Schlicht, doch mit einem farbigen Einschlag zum Zeichen Eures vornehmen Standes? Rock und Hose aus schwarzem Samt, schwarze Strümpfe und Euren Clemens-Hornn-Degen?«
Verdrießlich blieb Giles neben einem hohen Stuhl stehen, über dem ein schmales ledernes Degengehenk mit silberner Schnalle lag.
»Wird wohl ein Blutvergießen geben heute«, setzte er hinzu. »Ich fürchte, Ihr geht manchmal zu weit.«
»Blutvergießen?« rief Fenton. »Zu weit gehen?« Davon hatte im Manuskript nichts gestanden. Vielleicht war es nicht geschehen oder aus Zartgefühl unterdrückt.
»Seid Ihr mit meiner Wahl einverstanden, Herr?«
Fenton betrachtete die Kleidungsstücke. Von zahlreichen Bildern her wußte er genau, wie sie aussahen, wenn sie getragen wurden. Aber er hatte keine Ahnung, wie er sie anlegen sollte. Also erteilte er den einzig möglichen Befehl, der zugleich der passende Befehl dieser Zeit war.
»Kleide mich an!« gebot er und kam sich recht albern vor. dies führte ihn an einen Tisch, der zwischen dem linken Fenster und der Wand stand und Megs Ankleidetisch ähnelte. Der Diener hatte verschiedene Dinge darauf angeordnet: eine riesige silberne Waschschale, eine enorme Kanne mit heißem Wasser, ein sehr großes Rasiermesser mit gerader Klinge, das auf einem geölten Wetzschiefer lag - Fenton scheute ein wenig davor zurück -, mehrere stark parfümierte Seifen in Näpfen und erwärmte Tücher. Am Tisch stand ein gerundeter Stuhl mit einem tiefen Kissen. Auf Giles' breite, einladende Geste hin nahm Fenton darauf Platz. Geschickt wickelte Giles Fentons Kopfputz los. Höchst würdevoll, ohne einen Tropfen Wasser zu verspritzen, wusch er Fentons Hände - jede bis zu einer Stelle, die etwa fünf Zentimeter oberhalb des Handgelenkes lag-und trocknete sie mit großer Sorgfalt.
»Nun, das ist eine gute Leistung!« meinte der Professor, wobei er seine rechte Hand aus dem Ärmel schob und einer genauen Inspektion unterzog. »Fürwahr, eine bewundernswerte Leistung, so weit sie reicht. Reicht sie aber, so fragt man sich, weit genug? Wie, wenn ich gesonnen wäre, mir ein Bad bereiten zu lassen?«
Giles' rote Augenbrauen schossen in die Höhe, so daß sie zwei Halbkreise formten. »Guter Herr?« sagte er.
»Ich habe es aus guter Quelle«, erwiderte Fenton sinnend, »daß Königin Catherine von Braganza, als sie vor einer Dekade unseren König heiratete, in einem ihrer Gemächer im Whitehall-Palast eine große Badewanne aufstellen ließ mit einer Pumpe, die das Wasser hinaufschaffte.«
»Wir haben auch eine Badewanne«, bemerkte Giles beleidigt. »Und wohl ein halbes dutzendmal im Jahr, soviel ich weiß, muß Big Tom sie aus dem Keller heraufholen, weil Mylady Fenton oder Madam York ein solches Gezeter machen.«
»Wogegen du gemäßigter sein würdest, nicht wahr?«
»Ich sage nichts dazu«, erklärte Giles.
Während dieser Unterhaltung hatten die Finger seiner rechten Hand in einem Seifenschälchen gearbeitet und einen duftenden Rasierschaum hervorgezaubert. Dann fuhr er fort: »Aber die Damen unseres Hauses bringen es fertig, sich ohne ein ungeheuer großes Faß und zahllose Eimer frischen Wassers aus der Pumpe zu waschen. Ihr Verlangen, Hals, Arme und Schultern zu säubern, dünkt mich ganz natürlich, da diese in öffentlichen Plätzen wie Ballsälen und Spielhäusern zur Schau gestellt werden. Doch bei Gelegenheit waschen sie sich von oben bis unten.« Hier blinzelte er lüstern mit einem Auge, aber so ungekünstelt und heiter, daß selbst dieser Blick nicht unangenehm wirkte.
»Giles«, sagte sein Herr, »du bist ein lüsterner alter Kerl.«
»Alt oder jung, wer ist es denn nicht?« entgegnete Giles. »Etwas anderes zu simulieren, wäre Heuchelei, die in der Heiligen Schrift unzählige Male verurteilt wird.«
Mit der linken Hand legte Giles ein warmes Tuch sanft um Fentons Hals und schob dessen Kopf so weit zurück, daß sein Nacken wie in einem Schraubstock auf der runden Rückenlehne des Stuhles ruhte. Nun seifte Giles seinen Herrn geschickt ein. »Um bei dem Thema zu bleiben .«, bemerkte Giles.
»Potz Geck! Hörst du überhaupt nicht damit auf?«
»Sir Nick, Ihr flucht zuviel. Den Kopf zurück, bitte.«
Fentons Kopf wurde abermals zurückgeschoben, und sein Nacken erlitt Höllenqualen. »Nun, Frauen im allgemeinen, von der hochgestellten Madam Carwell -diese französische Sirene, die Seine Majestät umgarnt - bis zur niedrigen Mistreß Kitty, unserer Köchin, auf die ihr selbst so oft Euer lüsternes Auge geworfen habt.«
»Was?«
»Den Mund bitte schließen, guter Herr, sonst dringt der Schaum ein; so ist's gut. Frauen, sage ich immer, müssen ihren Körper duftender und reinlicher halten als wir armen Teufel, die sie durch ihre Schmeicheleien so plagen und ködern, daß sie infolge ihres eigenen Benehmens des öfteren unbekleidet sind.«
»Vorsichtig mit dem Rasiermesser, Frechdachs! Ich könnte ebensogut mit einem zweihändigen Schwert rasiert werden!«
»Seid unbesorgt«, murmelte Giles. »Es wird federleicht sein.«
Und so war es auch. Fenton spürte das Messer kaum, selbst nicht am Nacken und am Kiefer.
»Was Männer anbelangt«, fuhr Giles fort, »so ziemt es sich, besonders für Standespersonen, daß sie gelegentlich ihren ganzen Körper waschen. Auch sollten die Fenster eines Hauses häufig geöffnet werden, um die nächtlichen Gerüche zu entfernen.«
»Potz Blitz!« rief Fenton heftig und richtete sich so unvermittelt auf, daß nur Giles' Geschicklichkeit verhinderte, daß ihm die Kehle durchschnitten wurde. »Warum ist dann aber ein so widerlicher Gestank in diesem Hause?«
Giles wischte den Schaum mit dem Nackentuch ab und zuckte wie ein Franzose die Achseln.
»Nun, mein Herr, als wenn das meine Schuld wäre und nicht die Eure.«
»Meine Schuld? Wieso?«
Diesmal zuckte Giles die Achseln, daß sie fast bis zu den Ohren reichten.
»Unser Keller ist zur Hälfte mit Kloakenwasser angefüllt, und man weiß nicht, wohin damit.« Giles blickte traurig drein. »Und Ihr seid ein Parlamentsmitglied, ein Königstreuer und der glühendste Anhänger der Hofpartei. Wohl ein halbes hundertmal habt Ihr geschworen und dabei mit der Faust auf den Tisch geschlagen, daß Ihr Euren Mund öffnen und gemeinsame Sache mit Sir John Gilead machen wolltet, um ein Rohr bis zum Hauptabzugskanal legen zu lassen. Doch immer habt Ihr es wieder vergessen.«
»Diesmal aber nicht, das kann ich dir versichern«, gelobte Fenton und ließ seinen Nacken noch einmal zurücksinken, um die Qual der Stuhllehne und die letzte Rasur über sich ergehen zu lassen.
»Allerdings«, murmelte Giles, »steht uns ein dritter Weg offen.«
»So?«
»Gewiß, wir könnten alles in die Straße pumpen lassen, wie Sir Francis North es getan hat. Aber ich fürchte, das würde unsere Nachbarn arg vexieren.«
»Ei ja«, meinte Fenton. »Roger North erzählt die Anekdote in seiner Biographie von« - er korrigierte sich rasch -, »Mr. North erzählt es jedem, der es hören will, wenn er ein paar Halbe in der Teufelsschenke innerhalb von Temple Bar geschmettert hat.« Das Rasiermesser hielt inne. Fenton spürte, daß alle Keckheit und Schwatzhaftigkeit von Giles abgefallen waren, daß sich eine leise Furcht seiner bemächtigt hatte.
»Aber sicherlich«, warf Giles rasch ein, »würdet Ihr keinen Becher Wein in der Teufelsschenke trinken? So dicht beim >Königshaupt< an der Ecke von Chancery Lane?«
»Und warum etwa nicht?«
Hier machte Fenton, ohne es zu wissen, seinen ersten großen Schnitzer. Fenton, so eifrig darauf bedacht, sich nicht in Kleinigkeiten zu verraten, hatte einen wichtigen Punkt unbemerkt gelassen. Er hatte gewußt, daß Sir Nick ein Parlamentsmitglied und ein Anhänger der Hofpartei war. Es hatte ihn in hohem Maße gefreut, da er für diese Ära denselben politischen Standpunkt vertrat. Doch im Augenblick verband er diese Tatsachen nicht mit der Schenke »Königshaupt«. Dieser Name spielte auf die Enthauptung von König Charles dem Ersten im Jahre 1649 an. Die Hinrichtung erfolgte auf Betreiben von Cromwell. Der frostige graue Himmel schien auf einen frostigen, übelriechenden Raum herabzupressen.
»Nun beugt Euren Kopf nach vorn über das Waschbecken«, sagte Giles, »damit ich Euer Gesicht waschen kann.«
Zwanzig Minuten später stand Fenton, völlig angekleidet, vor einem langen Spiegel und betrachtete sein Ebenbild mit ungläubigem Staunen. Die glänzende schwarze Perücke, deren Locken ihm über die Schultern fielen, hätte über dem Gesicht des Professors mit seinem Kneifer recht lächerlich gewirkt. Doch als Rahmen für das breite, dunkelbraune Gesicht Sir Nicks mit seinen finsteren grauen Augen und seinem dünngezeichneten Schnurrbart paßte sie ausgezeichnet.
Der schwarze Samtrock war ziemlich lang - er reichte fast bis zu den Knien -, aber bequem. Obgleich er lose herabhing und nie geschlossen getragen wurde, hatte er eine kurze Reihe silberner Knöpfe auf der rechten Seite.
Fenton hatte von Giles keine Juwelen bekommen, wofür er sehr dankbar war. Am Halse trug er nur ein kurzes Spitzenjabot über einer langen, schwarzen, rotgeschlitzten Seidenweste. Dann kamen Kniehosen aus schwarzem Samt und schwarze Strümpfe. Nur die Schuhe fehlten noch. Unwillkürlich fiel seine Hand auf den Degengriff, der an seiner linken Hüfte ein gutes Stück unter dem Rock hervorragte. Ebenso mechanisch glitten seine Hände unter die ziemlich lange Weste und schoben das Koppel eine Idee nach rechts. Hinter der linken Hüfte hingen von diesem Koppel zwei dünne Ketten, die die Scheide stützten und neigten. Und da die Scheide nur aus dünnsten, zusammengeleimten und mit Chagrinleder bedeckten Holzstreifen bestand, war sie so leicht, daß sie dem Duellanten nie hinderlich war.
»Clemens Hornn«, sagte Fenton, ohne sich bewußt zu sein, daß er laut gesprochen hatte. »Der größte Degenmacher Englands in alten Zeiten.«
Seine rechte Hand schloß sich um den festen, aus Draht geflochtenen Griff. Er trat vom Spiegel zurück und zog das Rapier. Die Klinge glitzerte schwach. Es war keins der schönen, altmodischen Kavalier-Rapiere mit Bechergriff und langen Stichblattzapfen. Diese hatten eine viel zu lange und schwer zu handhabende Klinge. Man hatte inzwischen entdeckt, daß der altmodische Hieb von der Schulter aus nichts gegen den blitzschnellen Stoß mit der Spitze vermochte.
Fentons Degen war immer noch ein Rapier, wenn auch im Übergangsstadium zum Stoßdegen. Sein Stichblatt glänzte wie eine aus Stahl geschnitzte, sich schließende Blume. Die kurzen, gebogenen Stichblattzapfen dienten nur als Ornament. Er war kürzer als die alten Degen - die Kanten stumpf und etwa zwölf Millimeter breit, unten schmaler werdend bis zur mörderischen Spitze -, aber leichter und viel tödlicher. eine schöne alte Waffe, die den Anforderungen der Zeit völlig entsprach.
Von dem Augenblick an, wo er den Stahl berührte, spürte Fenton, wie ihn ein Gefühl von Stolz und Vergnügen, von Sicherheit und Macht durchdrang, was ihn sehr in Erstaunen versetzte, denn er war gewiß kein Degenfechter.
Allerdings war er in seinen jüngeren Jahren ein sehr tüchtiger Florettfechter gewesen. Aber jetzt konnte er nur darüber lachen. Das Florett war ein Spielzeug. Ein Florettfechter konnte sich nicht zwanzig Sekunden gegen einen Degenfechter behaupten. Andererseits .
In meiner kleinen Plauderei mit dem Teufel, dachte er bei sich, war von einem Duell nicht die Rede gewesen. Ich kann nicht vor meiner Zeit sterben; stimmt. Ich kann nicht von einer Krankheit befallen werden; stimmt. Wie steht's aber mit einem bösartigen Degenhieb?
»Eure Schuhe, guter Herr«, unterbrach ihn Giles Collins' Stimme, die wie ein Rapier in Fentons Gedanken stieß, daß ihm der Degen beinahe aus der Hand gefallen wäre.
»Wenn Ihr die Güte haben wollt, Platz zu nehmen«, sagte er, »werde ich sie Euch anziehen. Ich sehe, Ihr übt Euren geheimen Ausfall.«
Plötzlich erblickte Fenton sein Ebenbild im Spiegel: die Oberlippe war zurückgezogen und zeigte die weißen Zähne wie bei einem bissigen Hund. Die Locken seiner Perücke waren ein wenig nach vorn gerutscht. Er stand seitlich zum Spiegel, der rechte Fuß mit gebeugtem Knie vorgestreckt, der linke Fuß zur Seite und ein wenig rückwärts, sich an das rechte Bein heranschiebend. Das Rapier hielt er in einer unherkömmlichen Parade. Fenton kam wieder zu sich und lachte ein wenig zu laut. »Es ist kein >geheimer< Ausfall«, informierte ihn Giles trocken, »obwohl alle Raufbolde es annehmen. Achtet darauf, wie sich Euer linker Fuß dem rechten nähert. Eure Parade ist viel zu dicht am Körper. Oho! Ich kenne mich aus.«
»Ach, ich bin kein Fechter«, sagte Fenton achtlos, während er den Degen wieder in die Scheide steckte.
Abermals warf Giles ihm jenen merkwürdigen, rätselhaften Blick zu und war im Begriff, etwas zu sagen, als Fenton ihn zum Schweigen brachte.
»Ich habe viel Wichtiges zu erledigen«, sagte er, und sein rauher, barscher Ton traf den Diener wie ein Schlag. »Ist Lord George Harwell schon da?«
»Nein, Sir, ich glaube nicht«, erwiderte Giles, während er seinem Herrn die Schuhe anzog.
»Na, wenn er kommen sollte, muß er eben warten. Du kannst einen Gang für mich besorgen. Richte der gnädigen Frau eine Empfehlung von mir aus und .«
Giles' dunkle Augen weiteten sich. »Eurer Gemahlin?«
»Hast du keine Ohren?« fragte Fenton. »Gewiß doch. Ich dachte nur .«
»Frag sie«, fuhr Fenton fort, eingedenk der geltenden Regeln, »ob sie mir hier so bald wie möglich ihre Aufwartung machen will, falls es ihr keine zu große Mühe verursacht.« Der Ehemann mußte stets die Frau zu sich kommen lassen und niemals in der Öffentlichkeit zu ihr gehen.
»Ich fliege«, murmelte Giles und versuchte, einen lüsternen Blick zu unterdrücken. Als er sich umwandte, spürte Fenton ein heftiges Verlangen, ihm einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten zu versetzen, doch er wußte, daß Giles trotz seines Alters, das irgendwo zwischen fünfzig und siebzig lag, viel zu behende war, um sich schnappen zu lassen.
»Ah«, murmelte der Diener, »wenn ich mich erdreisten darf.?«
»Was gibt's denn nun?«
»Sollte ich durch einen unglücklichen Zufall Madam York begegnen .«
»Dann soll sie sich zum Teufel scheren!« Die Tür schloß sich.
Fenton ging unruhig im Zimmer auf und ab. Er war sich bewußt, daß er durch diese Aufforderung an Lydia Gefühlsströme in Bewegung setzte, die ihn gestern nacht beinahe überschwemmt hätten. Aber jeder Augenblick dieses Morgens hatte ihn kühner gemacht; das lag wohl an seinem neuen Alter und der Verwandlung seines Äußeren. Er mußte ja zu Lydia eine gewisse Zuneigung verspüren, nachdem er neun Jahre lang versucht hatte, sich vorzustellen, wie sie in Wirklichkeit aussah.
Aber dies - das redete er sich jedenfalls ein - war jetzt nicht von Bedeutung. Er preßte die Hände an den Kopf und dachte an die Gerichtsmedizin, die er so eifrig studiert hatte. Wäre er in der vergangenen Nacht nicht übermäßig erregt gewesen, hätte er erkannt, warum Lydia sich so stark geschminkt und einen so unsteten Gang gehabt hatte.
Auf zierlichen Absätzen trippelnde Füße kamen rasch über die nackten Dielen des Flurs. Dann wurde leise an die Tür geklopft. »Tretet ein!« rief Fenton.
Es war Giles, der die Tür öffnete. Doch es wirbelten so viele Gefühlsströme in das Zimmer, daß Fenton ihn nicht einmal bemerkte. Im nächsten Augenblick trat Lydia zögernd über die Schwelle. »Mein Gott!« rief Fenton unwillkürlich und starrte sie so lange unumwunden an, daß ihr unbehaglich zumute wurde und ihr das Blut in die Wangen schoß.
Lydia trug heute ein hellbraunes, in der Taille gerafftes Hauskleid mit winzigen Rüschen am Hals und an den Ärmeln. Sie schien keine entstellenden Kosmetika aufgetragen zu haben. Ihr frisches, von lichtbraunem Haar umrahmtes Gesicht wirkte im Augenblick nicht mehr krank oder erschöpft, weil es rosig angehaucht war. Sie hatte blaue, weit auseinanderstehende Augen, eine kurze Nase, einen vollen Mund und ein rundes Kinn. Sie war kein Schönheitstyp à la mode, da es ihr an einer gewissen Kühnheit fehlte. Aber um Fenton war es geschehen. Da Lydia niedrige Absätze trug, erschien sie noch kleiner.
»Findet Ihr mich«, murmelte sie mit gesenkten Augen und schien nach einem passenden Wort zu suchen, »gefällig?«
»Gefällig?« wiederholte Fenton.
Er trat dicht an sie heran, hob ihre Hand, küßte sie und preßte sie an seine Wange.
»Gestern nacht«, stammelte sie, »habt Ihr mir auch einen Handkuß gegeben. Das habt Ihr nicht getan seit.« Sie brach ab. Jetzt, als er dicht vor ihr stand, konnte er den dünn aufgetragenen Puder sehen - hoch oben auf der Stirn beim Haaransatz und auf einer Wange. Wahrscheinlich erstreckte sich der Belag auch auf Arme und Schultern. Wenn er sie dazu überreden konnte, sich niederzulegen, konnte er selbst bei dem schlechten Licht Klarheit gewinnen.
»Mylady«, sagte er sanft, »wollt Ihr die Güte haben, Euch auf das Bett zu legen?«
Im selben Augenblick verriet ihm ein sechster Sinn die Anwesenheit von Giles Collins.
Er stand neben dem Ankleidetisch und hatte die roten Augenbrauen fast bis zum Haaransatz emporgezogen, während sein Mund sich zu einem entzückten Pfeifen spitzte.
»Affe! Laus!« brüllte Fenton, während er sich nach einem Wurfgeschoß umsah. »Ich werde dich an den Pranger bringen! Fort mit dir! Raus!«
Dieses Mal bot sich Fenton wiederum die Gelegenheit, einen gewaltigen Tritt auszuteilen, da Giles am Bett vorbei mußte. Aber es gelang Giles, diesem aus dem Wege zu gehen. »Giles«, sagte er knurrend und halb versöhnlich zu dem boshaft grinsenden Gesicht vor der Tür. »Guter Herr?«
»Sorg dafür, daß uns keiner stört.«
»Ich selbst werde Wache halten, Sir Nick.« Und Giles hakte die Tür ein, die weder Schloß noch Riegel hatte.
Fenton kehrte wieder ans Bett zurück. Lydia hatte sich inzwischen gehorsam, wenn auch leicht zitternd, hingelegt, und Fenton setzte sich auf den Bettrand.
»Mylady .«, begann er sanft.
»Kannst du denn nicht ein bißchen zärtlich sein?« flüsterte sie, ohne die Augen aufzuschlagen. »Nenne mich doch Lydia! Oder« - sie zauderte, da sie kaum den Mut besaß, diesen Vorschlag zu machen -, »oder sogar. liebes Herz?«
Fenton spürte einen Stich im Herzen, nicht wegen ihrer Naivität, sondern wegen ihrer Hingebung an den Mann, den sie in ihm vermutete.
»Liebes Herz«, sagte er und ergriff ihre Hand, wobei er verstohlen den Puls fühlte, »denkst du noch manchmal an früher? Als ich mit siebzehn Jahren im Paracelsus-College die Würde eines magister artium erlangte und Arzneikunde studieren wollte, was mein Vater aber für unter meiner Würde hielt?«
Sie nickte. Fenton, dem dies alles aus Giles' Manuskript bekannt war, besaß keine Uhr, aber er brauchte auch keine, um zu entdecken, daß ihr Pulsschlag schwach, schnell und unregelmäßig war. Als er sachte ihre Wange berührte, fand er sie kalt und ein wenig feucht und klebrig.
»Nun«, fuhr er fort, »ich will dir verraten, daß ich dieses Studium in aller Heimlichkeit betrieben habe. Ich kann dich heilen. Kannst du mir dein Vertrauen schenken?«
Die blauen Augen weiteten sich vor Staunen. »Wem sonst wohl?« fragte sie. »Bist du nicht mein Mann? Und . bin ich dir nicht zugetan?«
Aus ihrer Stimme klang solche Verwunderung, daß Fenton mit den Zähnen knirschte.
»Dann«, sagte er lächelnd, »wird's nicht mehr lange dauern.« Er sprang säbelklirrend auf die Füße und eilte zum Ankleidetisch, wo er den Zipfel eines sauberen Handtuchs in das lauwarme Wasser der Kanne tauchte.
»Und nun, Lydia«, fuhr er fort, indem er mit dem angefeuchteten Tuch vorsichtig den Puder aus ihrem Gesicht wischte, »brauchen wir nur noch .«
»Nein! Das gestatte ich nicht. Niemals!« Sobald das Tuch ihre Stirn berührte, kehrte sich Lydia, heftig den Kopf schüttelnd, zur Wand. Aber Fenton hatte bereits gesehen, was er erwartet hatte: einen Hautausschlag auf der Stirn. Dieselbe Erscheinung zeigte sich unter dem Puderfleck auf der Wange. Sachte betastete er ihre Waden. Beide waren ein wenig geschwollen und mußten sehr schmerzhaft sein. Nur eine zähe Ausdauer und ein leidenschaftliches Verlangen - wonach, das wußte er allerdings nicht- erzeugten in dieser einundzwanzigjähngen Frau den Glauben, daß sie gesund sei. »Lydia!« rief er in scharfem Ton.
Mit einem Schwung drehte sie sich zu ihm um. Halb gegen das Kissen, halb gegen die Wand gelehnt, löste sie mit behenden Fingern die Schleife ihres Mieders, wodurch die ganze obere Hälfte ihres Gewandes auseinanderzufallen schien. Geschmeidig befreite sie Arme und Schultern. Ein hochgeschlossenes seidenes Untergewand, das ihr dabei hinderlich war, zerriß sie kurzerhand, so daß sie schließlich mit völlig entblößtem Oberkörper dalag. Sie entriß Fenton das Tuch und begann, hastig den Puder von Schultern, Armen und Seiten zu entfernen.
»Nun kannst du mich in meiner ganzen Schmach sehen!« rief Lydia. Obwohl es nur derselbe schwache, ekzemartige Ausschlag war traten ihr Tränen in die Augen. »Kann ich mich in der Öffentlichkeit sehen lassen, ohne daß man mich verhöhnt? Bist du nicht entsetzt?«
»Nicht im geringsten«, erwiderte er lächelnd und zwang sie, ihn anzusehen.
Doch schluchzend kehrte sie sich wieder von ihm ab. »Gestern nacht«, murmelte sie, »als diese Kreatur - oh, abscheulich! - andeutete, ich hatte die Franzosenkrankheit, hätte ich vor Schmach sterben können. Oh, sie hat es schon öfter gesagt. Aber wie hätte ich mir diese Krankheit holen können? Gott ist mein Zeuge, daß ich niemals . Aber die Angst will nicht weichen.«
»Lydia!« sagte er scharf. Er legte ihr die Hände auf die bloßen Schultern und zog sie fast in eine sitzende Stellung. »Du hast gesagt, du habest Vertrauen zu mir. Nun sieh mich mal an.« Obgleich er seine Hände fallen ließ, sank sie nicht in die Kissen zurück. Doch ihr Gesicht wollte sie ihm noch immer nicht zuwenden.
»Du hast nicht die Krankheit, die du vermutest. Überhaupt keine auf natürlichen Ursachen beruhende Krankheit. Ich kann dich in einem Tage oder noch eher heilen.« Fenton lachte. »Nun will ich dir beweisen, daß ich die Symptome kenne. Leidest du nicht manchmal unter heftigem Durst?«
»Ich - ich habe so viel Gerstensaft getrunken, daß ich beinahe platze. Aber woher weißt du das denn?«
»Und hast du nicht auch häufig«, fragte er, indem er ihre Waden berührte, »an dieser Stelle Schmerzen?«
Lydia blickte ihn an. Ihr Ausdruck grenzte fast an Ehrfurcht. »Und wenn du getrunken und gegessen hast -sagen wir mal, eine Viertelstunde später -, verspürst du da nicht gelegentlich starke Magenschmerzen mit heftigem Brechreiz?«
»O ja! Fürwahr, dir scheinen alle Anzeichen vertraut zu sein. Aber was .?«
Er fürchtete sich, ihre Frage zu beantworten, aber es blieb ihm keine Wahl.
»Lydia, irgend jemand versucht, dich ganz langsam mit Arsenik zu vergiften.«