XV

Daß am Vorabend des gefürchteten 10. Juni eine kleine, fröhliche, improvisierte Abendgesellschaft in seinem Hause stattfand, entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dachte Fenton. Um die Mittagszeit, als er den 9. Juni eintrug, trat er an eines der offenen Fenster des Studierzimmers und rauchte seine lange Pfeife, bis er sich an dem Tonkopf die Finger verbrannte. Als er an den Kampf in der Nacht des 7. Juni und die im Regen heranpreschende Rotte der Dragoner dachte, mußte er lächeln. »Meiner Treu!« sagte er vor sich hin, obgleich ihm alle Knochen im Leibe weh taten. »Was für eine Nacht!«

Es stand jetzt fest, daß Donner, Löwe und Nacktarsch durchkommen würden. Mr. Milligrew hatte ihn zwar in einer Sprache verwünscht, die einem Adligen gegenüber nicht angebracht war, aber er hielt es für möglich, daß die heftige körperliche Anstrengung dazu beigetragen hatte, das Gift aus den Körpern zu entfernen. Nach dem Kampf war Fenton in die Küche geeilt, um für seine kleine, verwundete Armee zu sorgen.

Big Tom hatte den bewußtlosen Harry auf seiner Schulter zurückgetragen. Harry hatte außer einem Arm-und Beinbruch noch andere Verletzungen erlitten. Daß er selbst ein angeknacktes Bein und einen Degenstoß durch den Schenkel hatte, erwähnte Big Tom nicht.

Obgleich alle zugaben, daß sie Verletzungen erlitten hatten, wollte keiner einen Knochenbruch eingestehen. Aber Job hatte ein gebrochenes Schlüsselbein und Whip mehrere geknackte Rippen. Auf Fentons Befragen erklärten sie einstimmig, daß kein vermaledeiter Wundarzt an ihren Gliedern herumzerren solle. Dann hatte Whip einen Geistesblitz. Wenn der Herr so besorgt sei, dann solle Mr. Milligrew seines Amtes walten. Zu ihm hätten sie Vertrauen. Potz Blitz! Wenn der Pferdedoktor schon so viel vom Knocheneinrichten bei Hunden und Pferden verstehe, würde er da nicht viel mehr über den Menschen wissen?

Der rosige Mr. Milligrew, sofort herbeigeholt, stimmte dieser Ansicht freudig zu.

»Dann macht Eure Sache gut, Mr. Milligrew!« sagte Fenton. »Flickt sie wieder zusammen, und ich versichere Euch, ich werde mich erkenntlich zeigen.« Langsam und voller Dankbarkeit blickte er alle der Reihe nach an. »Kann ich euch nicht irgendeinen Wunsch erfüllen? Sprecht frei heraus!«

Big Tom, der es sich an der Wand bequem gemacht hatte, um die Schmerzen in seinem Bein zu lindern, hielt jetzt eine Bittrede. Fenton blickte auf Nan Curtis, die Toms Dialekt verstand. »Sir.« stammelte Nan, den Tränen nahe. »Sprich, sprich!« drängte Fenton. »Was hat er gesagt?«

»S-sir, er fragt an, ob sich nicht alle in dieser Nacht betrinken dürften wie nie zuvor. Er bittet darum, daß jedem ein Literkrug mit starkem Bier oder Wein ans Bett gestellt wird und ich diesen nachfüllen soll, sobald sie rufen.«

»Beim Barte des Bacchus, ja!« stimmte Fenton zu. »Giles hat den Schlüssel zum Keller. Sag ihm, ich hab's befohlen.«

Big Tom, Whip und Job brachen in lautes Beifallsgeheul aus. Obgleich Whip und Tom kaum auf den Beinen stehen konnten, stampften sie mit den Füßen auf den Boden und schlugen mit Holzlöffeln auf alles, was in erreichbarer Nähe stand. Fenton war ganz bestürzt. Er wußte nicht, was er sagen sollte. »Ei, laßt es gut sein. Ich ... hm ... ich danke euch ...« Und in ein paar Sätzen sprang er die Treppe hinauf. Als er die nächste Treppe zu den Schlafräumen emporstieg, fühlte er sich schuldbewußt und versuchte, in seinen Sporenstiefeln lautlos zu gehen. Seit langem hatte er gespürt, wie Blut auf seine Schulter träufelte; es kam von seinem Ohr, das durch einen Keulenschlag auf die Ohrenklappe verletzt worden war. Sein Körper war steif und schmerzte von den vielen Wunden, die man ihm geschlagen hatte, aber seine Knochen waren noch heil. Als er so die Treppe hinaufschlich, nahm er an, daß Lydia ein Aufheben machen würde. Aber sie wartete, voll angezogen, auf ihn. Sie umarmte ihn, obwohl er sie warnte, er sei verwundet, und erklärte, sie habe den Ausgang des Kampfes vorausgesehen.

»Lieb Herz, ich habe vom Fenster aus zugesehen. Und als ich beobachtete, wie du über hundert erschlugst. «

»Liebe Lydia! Es waren im ganzen nur.«

Aber sie ließ ihn nicht ausreden. Sie und Bet rannten mit aufgesteckten Röcken und Ärmeln die Treppen auf und ab, um eimerweise kaltes und heißes Wasser für ein Bad herbeizuschleppen. Als er sich gründlich gesäubert hatte und in Lydias Bett lag, in seidene Verbände gewickelt, fühlte er sich, von heftigen Kopfschmerzen abgesehen, fast wieder wohl.

Er hörte, wie der Regen immer noch auf das Dach prasselte, gegen die Fenster klatschte und in den Schornsteinen zischte. Lydia kuschelte sich neben ihn und vermochte endlich ihre Neugierde zu befriedigen.

»Und als der große Wolkenguß begann«, sagte sie, »kam ein Trupp Dragoner herbeigeritten, die breite Federhüte an Stelle von Helmen trugen. Der Führer hatte eine Fackel in der Hand und wechselte einige Worte mit dir.«

Fenton lachte. »Es war das Erste Königliche Dragonerregiment in der neuen Armee des Königs. Der Anführer dieser Truppe, ein ausgezeichneter Kerl namens Captain O'Callaghan, haßt die Grünbebänderten ebenso wie ich. Er sagte, wenn ich es wünschte, könnte ich jeden der Verwundeten an den Galgen bringen. Doch mahnte er zur Vorsicht.«

»Und warum?« murmelte Lydia.

»Nun! Seine Majestät und der Herzog von York schätzen diese öffentlichen Raufereien nicht.«

»Hm«, meinte Lydia.

»Jedenfalls war mein Hauptmann überzeugend. Ich solle mir weiter keine Gedanken darüber machen. Er werde schon ein Wörtchen mit dem nächsten Friedensrichter reden. Mittlerweile lasse er zwei große Wagen holen. Auf den einen sollten die Toten geladen und in den Pestgruben begraben werden. Der zweite Wagen sei für die Verwundeten. Die Leichtverletzten würden nach Hause gebracht und gewarnt, daß beim nächsten Aufruhr der Galgen ihrer harre. Die Schwerverwundeten sollten zum ChristKrankenhaus geschafft werden, und dem Chefarzt werde dieselbe Warnung ins Ohr geflüstert, damit er sie an die Männer weitergebe. Somit sei alles geebnet und vertuscht.«

Fenton wurde nachdenklich. »Nach Giles' Schätzung beträgt die Zahl der Toten und Verwundeten im ganzen einunddreißig.«

»Du hast aber auch so gut gekämpft wie nur irgendein Rundkopf.«

»Wie. wer?« fragte Fenton. Selbst in dieser Verfassung packte ihn der Zorn.

»Wie . wie Prinz Rupert selbst«, erwiderte Lydia sanft und legte ihren Kopf auf seine Brust, als er in die Kissen zurücksank. »Schlaf, Liebster. Schlafe nun. Schlaf.«

Am folgenden Tage, als die Reaktion einsetzte und er sehr unter den Schmerzen litt, nahm Fenton Opiumtinktur und schlummerte den ganzen Tag und die folgende Nacht. Am Morgen darauf erwachte er jedoch voller Energie. Da er zu jenen Patienten zählte, die es einfach nicht im Bett aushalten können, bestand er darauf, aufzustehen und angekleidet zu werden.

An diesem Tag saß er nachdenklich mit Lydia im Studierzimmer, wo er heimlich seinen Eintrag machte. Er hatte das Gefühl, daß zu wenig Leben und Heiterkeit im Haus herrsche, daß Lydia sich langweilen müsse. Also schrieb er an Mylord Danby, den Lord Schatzkanzler, sowie an mehrere Freunde auf dem Land (die George als Freunde erwähnt hatte) und bat sie, einen Tag zu nennen, an dem sie bei ihm zu Mittag oder zu Abend speisen könnten. Am nächsten Tag, als er den 9. Juni eintrug, fühlte er sich ganz wohl. Er hätte es jedenfalls so bezeichnet. Die Wunden in seiner Seite und am Ohr waren unbedeutend, aber die vielen Quetschungen erschwerten seine Bewegungen.

Am Spätnachmittag entschloß er sich zu einem Spaziergang. Als er seinen Hut an der Perücke befestigt hatte und die Haustür aufschließen wollte, stieß er auf Schwierigkeiten. Ungeduldig zog er den großen Schlüssel heraus. Nach einem gründlichen Blick prüfte er das Schlüsselloch sorgfältig mit den Fingerspitzen. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Seife. Verschmutzte Seifenreste. Einer unter dem Pöbel hatte fraglos die Hunde vergiftet. Aber jemand anders, der sich vielleicht diese Gelegenheit zunutze machte, hatte einen Seifenabdruck vom Schloß genommen, um sich einen Schlüssel anfertigen zu lassen.

Fenton ging sofort zu den Stallungen, um Job, der wieder heiter bei der Arbeit war, Instruktionen zu erteilen. Er hieß ihn, in allerkürzester Zeit innen an der Haustür einen Riegel anzubringen. Dann machte er sich auf den Weg nach Charing Cross. Ein Giftmischer von außerhalb? Aber was konnte der Feind schon anrichten? Die Gefahr für Lydia begann erst Schlag Mitternacht, wenn der 10. Juni anfing. Und er selbst probierte ja alle ihre Speisen und Getränke. In seiner Abwesenheit rührte sie nichts an. Fentons heitere Stimmung kehrte zurück, als er von Charing Cross nach Hause wanderte. Vor seinem Haus war eine große, düstere, braun angemalte Kutsche mit goldenen Verzierungen vorgefahren. Er eilte an den Schlag, an dem Sam, stumm und ehrerbietig, mit seinem Amtsstab stand, den er wie eine Lanze hielt. »Nick, mein Junge!« ertönte eine Stimme aus dem Innern. Im Rahmen des offenen Schlags zeigte sich ein großer, sehr hagerer Mann, dessen Porträt Fenton gesehen hatte, den er aber nicht identifizieren konnte.

Der Mann machte einen etwas steifen, strengen Eindruck. Die ungeheure braune Perücke umrahmte ein schmales, kränkliches Gesicht mit tiefgefurchter Stirn.

»Ich hielte es für schlimm, mein Junge«, fuhr er fort, »wenn Tom Osborne nicht in eigener Person auf einen Brief von Nick Fentons Sohn antworten könnte.« Für einen Augenblick preßte er seine langen, hageren Finger ans Gesicht. »Oh, diese Arbeit, diese endlose Arbeit im Schatzamt!«

Thomas Osborne, natürlich! Graf von Danby, Lord Schatzkanzler, des Königs erster Minister.

»Mylord«, sagte Fenton, »wollt Ihr nicht aussteigen? Besser noch: wollt Ihr nicht bleiben und mit uns zu Abend speisen?« Mylord Danby lächelte, und der müde Ausdruck wich einen Augenblick aus seinem Gesicht.

»Das«, sagte er mit schiefem Gesicht, »ist die traurige Botschaft, die ich Euch bringen wollte. Ich muß heimwärts eilen und mich auf meine Papiere stürzen, wie an jedem anderen Abend, den Ihr nennen mögt. Aber wenn Ihr Euch vielleicht einen Moment zu mir in die Kutsche setzen wolltet?«

Fenton stieg ein und schloß die Tür, nachdem er dem Minister gegenüber Platz genommen hatte.

»Ich beneide Euch um Eure Jugend«, sagte Danby. Auf den ersten Blick hin schien sein Lächeln gräßlich, aber bei näherer Betrachtung wirkte es durchaus freundlich. »Nein, ich neide Euch nichts. Ist Eure Gemahlin wohlauf?«

»Gott sei Dank, ja.«

»Meine Gesundheit. Ein Doktor der Medizin hat mir seltsame Vorschriften gemacht.«

Fenton beugte sich vor.

»Mylord«, sagte er in ruhigem Ton, »es wird Euch guttun, wenn Ihr zum Essen bleibt.«

Mylord Danby, der sich in seiner ganzen Länge zurückgelehnt hatte, betrachtete sein Gegenüber mit trüben, aber scharfen Augen.

»Irgendwie ist eine seltsame Wandlung mit Euch vorgegangen«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Ich kann nicht sagen, in welcher Beziehung. Ein wahres Wunder! Ihr wünscht in der Tat, daß ich hierbleibe?«

»Aber warum denn nicht?« fragte der erstaunte Fenton.

»Weil alle Männer mich hassen«, erwiderte Danby mit gesenktem Blick. »Die Oppositonspartei und sogar meine eigene Partei hassen mich. Warum hassen sie mich eigentlich?«

»Das sind Hirngespinste. Ihr seid überarbeitet.« Unvermittelt lehnte sich Danby vor und umklammerte Fentons Arm mit langen, dünnen Fingern.

»Dies behaltet für Euch selbst«, sagte er mit leiser Stimme. »Vor vier Jahren, als ich mein Amt antrat, war die Staatskasse beinahe leer. Bald aber hatte ich eine Million Pfund Sterling eingezogen, und ich habe die Flotte um dreißig neue Schiffe vergrößert - mächtigere Linienschiffe als alle, die wir bisher besaßen. Denn ich bin der Ansicht, daß wir die Herrschaft auf dem Meer behalten müssen und daß uns diese kein Holländer oder Franzose streitig machen darf.«

Er ließ die Hand fallen und wischte sich die Stirn mit einem Spitzentuch.

»Ich glaube, ich habe dem Schatzamt treu gedient«, fügte er hinzu. »Ich weiß nicht, was diese Herren eigentlich wollen.«

Goldene Lichter, die durch die Lindenbäume fielen, tanzten auf der staubigen Kutsche. Als Fentons Blick zum Fenster hinauswanderte, bot sich ihm ein herzerfrischender Anblick. Auf sein Haus zu ritten George Harwell in prachtvollem Staat und Mr. Reeve in geflickter Kleidung auf Pferden, die den Kostümen ihrer Besitzer entsprachen. Sie schienen nach Blutflecken auf der Straße zu suchen. Aber der Regen hatte solche Spuren längst fortgespült. Als sie nach links zum Stallhof einbogen, drangen einige Fetzen ihrer Unterhaltung sogar bis in die geschlossene Kutsche.

»Dann genießt Ihr also die Gunst eines neuen Frauenzimmers.« Es war die asthmatische, gewichtige Stimme Mr. Reeves. »Gut; das ist also in Ordnung. Jetzt.»

»Ich habe es Nick Fenton ja gesagt, daß ich eine finden würde«, erklärte George voller Stolz, »Potz Geck! Ich hab's geschafft. Ah, und was für eine Frau! Ihre Lippen zwei rote Kirschen, eine über der anderen! Ihre .«

Intimere Einzelheiten verhallten in der Ferne. »Seht, Mylord!« sagte Fenton und deutete auf die Sonne. Er war aufrichtig bekümmert über Danbys Gemütsverfassung. »Es ist noch nicht Abend. Wir essen immer sehr früh. Ihr braucht dringend eine ablenkende Unterhaltung, die mit Politik nichts zu tun hat. Könntet Ihr von, sagen wir, einem Kapaun und einem Glase Wein Schaden nehmen?«

Danby schien das schwere Gewicht, das auf seinen Schultern lastete, abzuwerfen.

»Na«, meinte er, »ich möchte wohl annehmen, mein Junge, daß sie meine Gesundheit nicht gefährden werden.«

Das improvisierte Abendessen war sehr heiter. Lydia zauberte rasch ein Menü für die unerwarteten Gäste hervor und verließ sich dabei hauptsächlich auf heiße und kalte Kapaunen, in größerer Zahl, als selbst George verschlingen konnte, gebackene Kartoffeln und einen riesigen Laib Käse.

Sie plante dies alles so rasch, daß Fenton staunte. Und er staunte noch mehr über die Geschwindigkeit, mit der sie sich umkleidete. Sie rauschte in blauer Seide mit orangefarbenen Verzierungen und funkelnden Diamanten ins Zimmer, eine Kombination, die die Farbe ihrer Haut, ihrer Augen und ihres Haares noch mehr hervorhob. Mylord Danby machte eine so höfliche Verbeugung vor ihr und küßte ihr die Hand mit einem so geistreichen Kompliment, daß Fenton fast eifersüchtig wurde.

Fenton saß an der Spitze der Tafel, Danby zu seiner Linken und Lydia zu seiner Rechten. Mr. Reeve, der sich anfangs in der Gegenwart des Lord Schatzkanzlers so würdevoll wie ein Erzbischof benahm, saß Lydia zu Rechten. George, der ihm gegenüber neben Danby Platz genommen hatte, war etwas nervös und ließ die Sauce spritzen, als er sein Essen hinunterschlang. Der Wein übte auf alle eine gute Wirkung aus.

Am Tische eines Freundes wurden natürlich keine Hüte getragen, und die Lockenrollen der großen Perücken glänzten im Schein der vielen Wachskerzen, die auf der Tafel standen. Ein Diener stand hinter jedem Stuhl, und Giles, kerzengerade hinter Fenton, dirigierte die anderen mit strengen Blicken.

Jedesmal, wenn George oder Mr. Reeve versuchte, Fragen über kürzliche Ereignisse zu stellen, lenkte Fenton sie geschickt mit einer saftigen Anekdote ab, die schallendes Gelächter auslöste. Aber in der Hauptsache drehte sich das Gespräch um Georges neue Liebesaffäre.

»George!« flehte Lydia, während sie ihren silbernen Weinbecher zum sechstenmal füllen ließ. »Erzählt uns doch etwas von ihr! Sonst werde ich vor Neugierde nicht schlafen können!« George, der nun vollauf gesättigt war, machte eine königliche Geste.

»Dann verratet uns unverzüglich«, sagte Mr. Reeve, der wieder die Miene eines Richters aufgesetzt hatte, »ihren Namen. Ja, laßt uns ihren Namen hören.«

»Ihr Name«, erwiderte George mit Stolz und Vergnügen, »ist Fanny.«

»Na, na«, sagte der Richter und klopfte verschlagen mit dem Finger auf den Tisch. »Keine Ausflüchte, bitte! Wie lautet ihr voller Name? Oder hat sie ihn Euch vorenthalten?«

»Warum, in Dreiteufels Namen, sollte sie das tun? Sie ist Mistreß Fanny Brisket.«

»Und darf ich fragen, Lord George«, erkundigte sich Danby höflich, aber mit weintrunkenen Blicken, »wie Ihr die Bekanntschaft dieser jungen Dame gemacht habt?«

Georges puterrotes, glänzendes Gesicht konnte nicht tiefer erröten, als er mit einem verlegenen Hüsteln erwiderte: »Nun, was das anbelangt, so will ich offen bekennen: es war in einem Bordell.«

Ein gewaltiges Beifallsgemurmel erhob sich, während gleichzeitig mit Messergriffen auf den Tisch getrommelt wurde. George, der sich zuerst verhöhnt glaubte, wurde von Lydia besänftigt. »Nein, wirklich?« fragte sie begierig. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, und ihr Kinn ruhte auf den verschränkten Händen. »George! Lieber George! Erzählt uns doch von diesem Haus und wie es eingerichtet war. Bitte, George!«

»Ah!« sagte George. »Dies ist wahrhaftig von Bedeutung. Es handelt sich nämlich nicht um eines der Häuser in Whetstone Park.« Whetstone Park war kein Park, sondern eine Straße, die, wie das Gerücht ging, die Hälfte aller Huren in London beherbergte. »Nein, fuhr George fort, »dies war und ist ein wahrer Venustempel, eigens geschaffen, um den Bedürfnissen eines Mannes von Rang zu dienen.« Plötzlich hielt er inne. »Donnerwetter, Nick, ich entsinne mich, daß ich an jenem Tage mit dir davon gesprochen habe.«

Fenton hatte gerade einen Schluck aus Lydias Weinbecher getrunken. Seit kurzem hatte er sich daran gewöhnt, ziemlich viel Claret beim Abendessen zu trinken und hatte auch immer eine Karaffe in seinem eigenen Zimmer stehen. Aber als Gastgeber trank er heute abend sehr wenig, um einen kühlen Kopf zu bewahren. »An welchem Tage?« fragte er.

»Lieber Himmel! An dem berühmten Tag, als du und ich den Apotheker in der Totenmannsgasse aufsuchten und du die beiden Raufbolde aufspießtest! Nein, halt! Ich hatte gerade davon angefangen, als du in deiner Zerstreutheit beinahe in den Kloakenkanal gefallen wärst.«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Weiter, weiter«, drängte Mr. Reeve in seiner würdevollsten Art. »Wie steht's mit diesem Bordell.?«

»Nun!« sagte George und blickte die Tafelrunde mit etwas verglasten Augen an. »Eines Tages speiste ich zufällig im >Regenbogen<, und nach dem Essen überlegte ich mir nach Männerart, ob nicht irgendwo ein Tempel existiere, wie ich ihn mir nur in meinen kühnsten Träumen vorstellte. So ganz von ungefähr richtete ich also diese Frage an einen Freund, der mit mir speiste. >Du meine Güte<, sagte er, >bist du ein solcher Dummkopf, daß du so ein Haus nicht kennst? Dabei ist es nicht zwei Minuten von hier entfernte Meine Antwort könnt Ihr Euch vorstellen. >Wenn du mein Wort anzweifelstA sagte er, >will ich dir das Haus nennen und dich genau instruieren, was du sagen mußt.< Von Neugierde getrieben, sagte ich: >Topp! Gelobt sei Venus!< Ich ging gleich zu dem Haus und näherte mich dem Portier. >Guter Mann<, sagte ich sehr höflich, >ist hier wohl eine Wohnung zu vermieten?< In der Tat, man hatte mich nicht betrogen. >Ja, Sir<, sagte der Portier, >Ihr könnt sie Euch ansehen, wenn Ihr Euch die Mühe machen wollt, hineinzugehen.« George ließ eine Pause eintreten.

Als er merkte, daß er seine Zuhörerschaft gefesselt hatte, erfrischte er sich mit einem tüchtigen Schluck Kanarien-sekt aus seinem Silberbecher. Er strahlte alle leutselig an.

»Kaum war ich eingetreten, als mir eine würdige Matrone entgegenkam. Diese führte mich in ihren Salon, der elegant ausgestattet war, um mich dort näher in Augenschein zu nehmen: mit anderen Worten, um festzustellen, wie gut meine Börse gespickt war.« George streckte eine beringte Hand aus, die in allen Regenbogenfarben glitzerte. Er selbst trug einen Anzug in Orange und Silber.

»Die Matrone war sehr mit mir zufrieden. Und ich hege keinen Zweifel, Mylord«, setzte George hinzu, indem er Danby ein ernsthaftes, knallrotes Gesicht zuwandte, »daß sie mit Ew. Lordschaft ebenso zufrieden gewesen wäre.«

»Ich fühle mich sehr geehrt, Lord George.«

»Potz Geck, Mylord, warum besucht Ihr dieses Haus nicht selbst? Ich werde Euch hinführen!«

»Wiederum sehr geehrt«, erwiderte der Lord Schatzkanzler, der fast so betrunken war wie George und die Sache mit dem größten Ernst behandelte. »Aber wenn es Euch nicht zu sehr inkommodiert, noch eine Frage. Seid Ihr bei dieser Gelegenheit Eurer göttlichen Fanny begegnet?«

»Nein, nein, nein!« rief George. »Fanny, diese himmlische Kreatur, habe ich vor kaum einer Woche kennengelernt. Und als ich sie sah, war ich von ihrer Schönheit, ihrer Göttlichkeit so überwältigt, daß ich -verdammt noch mal! - ohnmächtig zu ihren Füßen niedersank!«

»Lord George«, murmelte Danby, »fahrt bitte mit der Schilderung Eures ersten Besuches fort.«

»Nachdem ich die würdevolle Matrone zufriedengestellt hatte«, fuhr George fort, »stieg sie mit mir eine Treppe empor und führte mich in einen sehr großen, schönen Speiseraum. Dieser war mit üppigen Wandteppichen behangen und mit Bildern geschmückt, die, wie ich annahm, die schönsten Frauen aller Zeiten darstellten.

Ein Diener brachte uns sofort eine Flasche Sekt, woraufhin die alte Dame mir als Willkommensgruß zutrank. Na, dachte ich, sie ist ja die Höflichkeit selber; aber wie geht das nun weiter? Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, als die Dame auch schon sprach. >Sir<, sagte sie, >da Ihr ein Gentleman seid, habt Ihr gewiß einige Kenntnis von der edlen Kunst des Zeichnens und Malens; denn sie wird von der vornehmen Welt eifrig gepflegt. Ich möchte daher gern Euer Urteil hören, Sir, und frage Euch: welches von diesen Bildern haltet Ihr für das beste?<« Hier erhob sich George, von der Rednerlust besessen, taumelnd von seinem Platz und umklammerte seinen gefüllten Weinbecher. »>Madam<, sagte ich, >ich will Euch offen und ehrlich mein Urteil verkünden. Meiner Ansicht nach ist es dieses Bild. Die dargestellte Person hat einen vollen Busen; ihre geschwungenen Augenbrauen sind schwarz und glatt; ihre Augen sind von der gleichen Farbe, doch mit grauen Tönungen .<«

»George«, unterbrach Lydia mit sanfter Stimme, »trifft diese Beschreibung nicht auf Meg York zu?«

»Der Teufel hole Meg York!« rief George. »Ich habe erfahren, daß sie den französischen Hauptmann verlassen hat. Aber wohin sie gegangen ist, weiß ich nicht.«

»Nein, George, aber ich meinte nur .«

»Sobald ich dieses Urteil über das Bild gefällt hatte«, brüllte George, der den Faden der Erzählung wieder an sich riß, »verschwand die würdevolle Matrone hinter einer mit einem Vorhang verhängten Tür. An ihrer Stelle erschien mit einem Rauschen von seidenen Röcken die auf dem Bilde dargestellte Frau - in züchtigem Aufzug, eine Dame von Stand. So wahr ich hier stehe. Während wir zusammen den Sekt tranken, machte mich die Dame mit dem vollen Busen mit den Sitten und Gebräuchen des Hauses bekannt. Wenn man nicht die ganze Nacht bleibt, hat man Anspruch auf vier Flaschen Wein, einen kleinen Imbiß und eine Mätresse - alles zum Preise von nur vierzig Schilling. »Wenn man jedoch die ganze Nacht zu bleiben wünscht«, fuhr George triumphierend fort, »dann herrscht dieser Brauch: Man legt zehn goldene Guineen unter das Kopfkissen. Jedesmal, wenn man seine Mannespflichten der Mätresse gegenüber gut erfüllt hat, ist man berechtigt, eine Guinee wieder an sich zu nehmen. Potz Geck! Ist das nicht ein ausgezeichnetes Spiel?« Danby räusperte sich. »Wenn die Frage nicht zu intim sein sollte, Lord George, wie viele von Euren zehn Guineen lagen am Morgen noch unter dem Kopfkissen?«

»Mylord«, protestierte George, der vorwurfsvoll ein Auge zukniff und leise hin und her schwankte. »Das ist eine Frage, die kein Mann von Rang in diesem Bordell an einen anderen richten darf. Doch kann ich Euch versichern, daß ich meiner Ehre Genüge getan habe«, verkündete er stolz. »Und mit Fanny erst! Potz Geck und kein Ende!« Er strahlte übers ganze Gesicht und wandte sich an Mr. Reeve. »Was sagt Ihr denn dazu, guter Freund?« Mr. Reeve nickte nachdenklich vor sich hin. Er hatte seine Zither mitgebracht. Ihre Saiten glänzten auf dem polierten Holz. »Ei, ich bin ein zu alter Draufgänger, um meine Mitmenschen nicht zu kennen. Aber es war nicht so am Hofe Charles' des Ersten.«

»Na, na, alter Tugendbolzen! Na, na, Graf von Schatten und Nebeln!«

»Wir lüsteten nicht nach Frauen im Bordell«, erwiderte Mr. Reeve. »Wir suchten uns Frauen zum Heiraten.« Seine alten, aber noch sehr behenden Finger glitten über die Saiten. Leise begann er, eine klare Melodie zu spielen. Obgleich er nicht dazu sang, saß niemand am Tisch, der sich nicht an die Worte erinnerte, die aus der Zeit vor Charles dem Ersten stammten.

»Nur mit dem Auge trink mir zu,

schnell gibt Bescheid dir meines ...«

Instinktiv blickten sich Lydia und Fenton in die Augen. Sie streckte ihre Hände aus, und er umklammerte sie mit festem Griff. Ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und aus ihren Augen sprach eine solche Liebe, daß es ihm Angst machte.

»Oh, Gott«, dachte er, »wenn ich sie verlöre!« Und die Stunden, die Minuten vergingen; die Uhr tickte weiter -unaufhaltsam dem gefürchteten Zeitpunkt entgegen. Niemals hatte er Lydia so sehr geliebt wie gerade in diesem Augenblick. Die Musik hatte aufgehört, aber diese beiden bemerkten es nicht.

Sie saßen da, im gegenseitigen Anblick versunken, und hörten nichts von dem, was um sie herum vorging. »Mit Verlaub, Sir!« bemerkte Danby und richtete seine verschwommenen Augen auf Mr. Reeve. »Abgesehen von diesen - hm - Bordellen, sind die Zeiten, in denen wir leben, harsch und hitzig. Möchtet Ihr, daß wir unsere Vorfahren in allen Dingen nachäffen und sie stolz besingen?« Mr. Reeves tränende Augen blitzten.

Er schob heftig seinen Stuhl zurück und stand auf. Seine gichtgeschwollenen Beine zitterten. Er blickte Danby fest in die Augen. »Nein, Mylord!« erwiderte er mit rollender Stimme. »Aber ich würde das >Grüne Band< zerreißen, ehe es zu stark wird. Auch würde ich den Abend des 7. Juni besingen, als über sechzig Aufrührer dieses Haus angriffen und sechs Männer - nur sechs, Mylord - die schreiende Bande in die Flucht schlugen. Einunddreißig Tote und Verwundete blieben auf dem Plan. Aber keinen Schritt hat man unternommen, um die Aufrührer zu bestrafen.« Wieder glitten Mr. Reeves Finger über die Saiten. Die Zither tanzte förmlich unter der lebhaften Melodie, und Mr. Reeve sang mit starker, wenn auch asthmatischer Stimme die Worte dazu:

»Bürger! Hört ihr das Freudengeheul?

Durch die Stadt tönt der heitere Schall:

Drei Männer mit Degen und drei mit der Keul'

brachten den Tyrannen zu Fall!«

Es war wohl unvermeidlich. Zwei Diener, die sich einfach nicht mehr beherrschen konnten, brachen in laute Beifallsrufe aus. Mylord Danby war plötzlich ganz nüchtern, als hätte er einen Schock bekommen. George applaudierte heftig. Im selben Augenblick öffnete sich die Tür zur Halle. Lydia und Fenton, immer noch mit sich beschäftigt, hätten sich auch jetzt nicht umgedreht, wenn nicht Giles, der seit einiger Zeit auf geheimnisvolle Weise verschwunden war, im Türrahmen gestanden hätte. Sein langer Schatten fiel zwischen sie.

Lydia schreckte zurück, als sei sie plötzlich von einer namenlosen Furcht ergriffen. Giles ging rasch um den Tisch herum, um Fenton einige Worte ins Ohr zu flüstern, die von allen gehört wurden. »Sir Robert Southwell, der Sekretär des Hofrats, ist soeben in einer Kutsche vorgefahren .«

Der Rest war den anderen unverständlich. Giles verschwand wieder, und Fenton erhob sich.

»Ich glaube, Ihr wißt wohl alle«, sagte er und tastete nach Lydias Hand, »daß ich diesen Kreis unter keinen Umständen verlassen würde, wenn nicht kein dringender Grund vorläge. Man hat mir versprochen, daß ich in einer Stunde zurückkehren darf. Ich habe nicht einmal Zeit, mich umzuziehen. Seid inzwischen weiterhin recht vergnügt. Ich bitte Euch darum.«

Mit der Linken zog er eine große, dicke Uhr aus der Westentasche und öffnete sie. Die Zeiger standen auf fünf Minuten vor sieben. Draußen war es noch taghell.

»Ich bin nach dem Whitehall-Palast befohlen«, fügte er hinzu, »zu einer Privataudienz beim König.«

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