I

Mitten in der Nacht wurde er wach. Irgend etwas hatte seinen Schlummer verscheucht. Vielleicht die schwüle, stickige Luft hinter den geschlossenen Bettvorhängen.

In seiner Benommenheit konnte er sich allerdings nicht erinnern, die Vorhänge dieses dreihundert Jahre alten Bettes zugezogen zu haben. Dann fiel ihm ein, daß er am Abend ein ziemlich starkes Schlafmittel geschluckt hatte. Daher vielleicht diese Vergeßlichkeit.

Sein Gedächtnis, das er im Dunkeln anzuregen versuchte, schenkte ihm nur Bilder hinter dichten, wogenden Gazeschleiern. Wenn er sich bemühte, Worte heraufzubeschwören, so glichen sie lautlos aufsteigenden Rauchwölkchen.

Wie ein Rauchschwaden wirkte auch die kleine Rede, die er jetzt hielt.

»Mein Name ist Nicholas Fenton«, sagte er sich, um Klarheit zu gewinnen. »Ich bin Geschichtsprofessor am Paracelsus-College, Cambridge. In diesem Jahr des Heils bin ich achtundfünfzig Jahre alt.«

Erstaunt wurde er sich bewußt, daß er diese Worte im leisen Flüsterton geäußert hatte, und sein Gedächtnis belohnte ihn kurz mit einer verschwommenen Vision des gestrigen Abends. Ja, dieser gestrige Abend ...

Er hatte unten im Salon gesessen, in dem Haus, das er kürzlich für die Dauer des Sommers gemietet hatte, da »niemand« sich um diese Zeit in London aufhalten würde. Ihm gegenüber auf den Brokatkissen eines Sofas saß Mary, die zum Zeichen, daß es sich nur um einen kurzen Besuch handelte, ihren Glockenhut aufbehalten hatte. Sie hielt ein Glas Whisky in der Hand. Mary war natürlich bedeutend jünger als er selbst und sehr hübsch. »Mary«, sagte er, »ich habe dem Teufel meine Seele verkauft.« Nicholas Fenton wußte, daß sie nicht lachen, ja, nicht einmal lächeln würde. Sie nickte einfach mit ernster Miene.

»Wirklich?« fragte sie. »Und wie sah der Teufel aus, Professor Fenton?«

»Ich kann mich nicht genau daran erinnern«, erwiderte er. »Er schien dauernd eine andere Gestalt anzunehmen. Das Licht war trübe; er saß da drüben in dem Sessel, und meine schlechten Augen.« Mary beugte sich vor. Ihre Augen hätte er in seinen jüngeren Tagen als verschleiert bezeichnet: sie waren von unergründlichem Grau, das sich bisweilen fast ins Schwarz verdunkelte, als huschte ein Schatten über ihr junges Gesicht. »Haben Sie Ihre Seele tatsächlich verkauft, Professor Fenton?«

»Genaugenommen, nicht«, versetzte er mit einem kaum hörbaren ironischen Lachen, »Zunächst einmal kann ich nicht so recht an die Existenz des Teufels glauben. Vielleicht war es nur ein guter Freund, der mir einen Schabernack spielte. Parkinson vom Caius-College wäre es zum Beispiel ohne weiteres zuzutrauen. Ferner .«

»Ferner?« drängte Mary.

»Mit Ausnahme von Dr. Faust«, erwiderte Fenton nachdenklich, »hat der Teufel immer ein zu leichtes Spiel mit seinen Gegnern gehabt.«

»Inwiefern?«

»Seine Opfer sind immer Einfaltspinsel, denen gegenüber er mit falschen Würfeln spielt. Er ist noch nie einem Mann von Geist begegnet. Wenn ich tatsächlich einen Pakt mit ihm gemacht habe, dann ist der Teufel in eine Falle geraten.«

Er hatte ihr zulächeln wollen, um anzudeuten, daß sie ihn nicht allzu ernst nehmen dürfe. Woraufhin - so kam es jedenfalls dem halbbetäubten Mann vor, der jetzt hinter zugezogenen Bettvorhängen lag - die Szene im Salon traumartigen Charakter annahm. Was Mary in der Hand gehalten hatte, war kein gewöhnliches Trinkglas. Es schien ein silberner, blankpolierter Humpen zu sein. Als sie diesen Humpen an die Lippen setzte, funkelte und blitzte das Licht auf seiner Oberfläche, daß Fenton von dem Glanz fast geblendet wurde. Licht, sagt man, ist kalt. Doch dieser Strahl, der Fenton traf, besaß spürbare Hitze.

Und hatte er nicht in der einen Ecke des Zimmers eine kurze, rasche Bewegung - wie von einem Besucher -wahrgenommen? Nein; es konnte nur eine Illusion gewesen sein. Mary hielt ein gewöhnliches Trinkglas in der Hand.

»Um was für eine Gabe haben Sie den Teufel gebeten? Daß Sie wieder jung sein möchten, wie Faust?«

»Nein. Das interessiert mich nicht.« Diese Behauptung war nur zu einem Teil wahr. Fenton glaubte sich jung wie eh und je. »War es dann ... was dumme Leute als Ihre fixe Idee bezeichnet haben?«

»In gewissem Sinne, ja. Ich bat darum, an einen gewissen Tag im dritten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts versetzt zu werden.«

»Oh, das sieht Ihnen ähnlich«, flüsterte Mary. Fenton wünschte, daß sie nicht so dasitzen und ihn mit solch ernsten, aufmerksamen Blicken betrachten möchte. Manchmal konnte er nicht verstehen, was sie an der Unterhaltung eines ältlichen Kauzes interessant fand.

»Sie sind der einzige Historiker«, fuhr Mary fort, »der mit allen Einzelheiten genügend vertraut ist, um den Sprung zu wagen. Und dennoch«, setzte sie plötzlich hinzu, »verstehe ich dies nicht.«

»Ich verstehe es selber nicht. Aber wenn der Teufel sich an den Pakt hält.«

»Sie haben mich falsch verstanden. Ich meine, Sie müssen sich früher schon oft gewünscht haben, in die Vergangenheit versetzt zu werden, nicht wahr?«

»Oh, ja. >Gewünscht< ist nicht der richtige Ausdruck«, flüsterte Fenton und spürte, wie ihm ein eisiger Schauer den Rücken hinabrieselte. »Gesehnt habe ich mich danach! Wie andere Männer vom Verlangen nach Geld, nach Frauen, nach gesellschaftlicher Stellung gequält werden, so hat mich dieser Wunsch geplagt. Aber ich dachte, es sei nur eine abstrakte Neugierde.«

»Warum wollen Sie denn diesen Wunsch auf einmal in die Tat umsetzen?«

»Erstens hat sich meine Neugierde bis ins Unerträgliche gesteigert. Zweitens habe ich eine Aufgabe. Drittens wußte ich nicht, daß es so leicht ist, den Teufel herbeizupfeifen.« Mary schien sich nur für einen dieser Punkte zu interessieren. »Aufgabe, Professor Fenton? Was für eine Aufgabe?« Fenton zögerte. Er berührte den Kneifer, der auf der Nase seines milden Gelehrtengesichts saß, und strich sich mechanisch über den hohen, gewölbten Schädel, auf dem die letzten Strähnen seines rötlichen Haares zurückgebürstet waren. Er war ein sehr hagerer Mann, mittelgroß, und hielt sich vom vielen Lesen etwas gebückt.

Bei näherer Überlegung wußte Fenton gut, daß er zu schwach war, um sich wie ein Schwimmer in die dunklen Wasser der Vergangenheit zu stürzen, voller unbekannter Strömungen. Aber er beschloß, sich darüber weiter keine Gedanken zu machen. »In diesem Haus«, entgegnete er, »starb am 10. Juni des Jahres 1675 eine gewisse Person an Vergiftung. Es war ein langsamer, brutaler Mord.«

»Oh«, rief Mary und stellte ihr Glas auf einen Nebentisch, »haben Sie authentische Beweise dafür?«

»Ja. Ich habe sogar Bildnisse - Stiche im Folioformat -von allen Personen jenes Haushalts. Ich könnte jede von ihnen erkennen, wenn sie diesen Raum beträte.«

»Mord.« Mary wiederholte das Wort ganz langsam. »Und wer waren diese Leute?«

»Drei von ihnen waren Frauen, und alle schön. Nicht«, fügte Fenton hastig hinzu, »daß dies meinen Entschluß in irgendeiner Weise beeinflußt hätte.« Plötzlich richtete er sich auf. »Haben Sie es auch gehört, dieses merkwürdige, leise Lachen vom Bücherschrank her?«

»Nein.«

Unter Marys Hut lugten an jeder Seite ein paar Strähnen ihres kurzgeschnittenen schwarzen Haares hervor und hoben sich glänzend von dem milchweißen Teint ihres Gesichts ab. Fenton hatte den Eindruck, als sei ein harter Ausdruck in ihre Augen getreten.

»Außerdem«, fuhr er rasch fort, »war da auch noch der Eigentümer des Hauses. Hm - seltsamerweise trug er denselben Namen wie ich. Nicholas Fenton.«

»Einer Ihrer Vorfahren?«

»Nein. Er war überhaupt nicht mit mir verwandt. Ich bin der Spur sorgfältig nachgegangen. Sir Nicholas Fenton war ein Baronet. Seine Linie starb in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrhunderts aus. Mary, wer hatte diesen Mord wohl begangen?«

»Das wissen Sie also nicht?« fragte Mary ungläubig.

»Nein! Nein! Nein!«

»Bitte, Professor Fenton! Sie dürfen sich nicht so erregen. Ihre Stimme.«

»Ich bitte Sie um Verzeihung.« Fenton gewann seine Selbstbeherrschung wieder, obgleich ihn abermals ein kalter Schauer durchfuhr. »Der Grund, warum ich es nicht weiß«, fuhr er in seinem üblichen milden Ton fort, »liegt darin, daß drei Bogen von Giles Collins' handschriftlichem Bericht fehlen. Irgend jemand wurde verhaftet, vor Gericht gebracht und nach einem freiwillig abgelegten Bekenntnis hingerichtet. Aber die Seiten, die den Bericht darüber enthielten, sind entweder verlorengegangen oder gestohlen worden.«

»Aber sicherlich«, protestierte Mary, »muß es noch einen anderen Bericht über diesen Mord geben außer dem von Giles Collins.«

»Das hatte ich auch angenommen. Neun Jahre lang - ja, ganze neun Jahre! - habe ich die Bibliotheken durchsucht und in den Zeitungen annonciert, um irgendein Buch oder eine Broschüre, ja, sogar das Plakat zu entdecken, das gewöhnlich zur Zeit einer Hinrichtung erschien. Aber ohne Erfolg.«

»Neun Jahre«, flüsterte Mary. »Und Sie haben mir nie etwas davon gesagt.« Ihr Gesicht schien sich auf geheimnisvolle Art zu verändern. »Drei Frauen sind darin verwickelt, wie Sie sagten. Ich möchte wohl annehmen, daß Ihr >Sir Nicholas< in eine davon heftig verliebt war. Stimmt's?«

»Nun ... ja.« Wie hatte das Kind dies nur erraten? Mary war fünfundzwanzig Jahre alt, aber er betrachtete sie immer noch als Kind, denn sie war die Tochter seines alten Freundes, Dr. Greenville. »Gott oder vielmehr der Teufel steh mir bei, aber ich habe alles getan, was in meiner Macht stand! Ich habe sogar an einem Kursus in Kriminologie und Gerichtsmedizin teilgenommen, da es sich um einen Giftmord handelte. Ich glaube, den Namen des Mörders erraten zu können.« Seine Stimme wurde lauter. »Aber ich habe keine Beweise.«

»Und daher«, erklärte Mary, die hübschen Achseln zuckend, »sind Sie jetzt so verzweifelt, daß Sie unbedingt in die Vergangenheit zurückkehren und die Wahrheit herausfinden müssen, ja?«

»Ich habe auch eine Aufgabe, bedenken Sie das. Vielleicht bin ich in der Lage, den Mord zu verhindern.« Eine Weile herrschte tiefes Schweigen.

»Den Mord verhindern?« wiederholte Mary dann.

»Ja.«

»Aber das ist doch unmöglich! Er ist bereits geschehen -ein Teil des Geschichtsstromes. Sie können doch nicht ändern, was .«

»Darauf hat man mich aufmerksam gemacht«, erwähnte er trocken. »Dennoch bin ich nicht ganz überzeugt davon.«

»Hat Seine Majestät der Teufel Ihnen das gesagt? Wie lauteten seine Worte?«

Wie unsagbar schwierig war es gewesen, Mary eine Unterhaltung zu beschreiben, die ihm so normal, so ungezwungen erschienen war wie die zweier Männer im Rauchzimmer eines Klubs! Denn der Teufel hatte ihm kaum eine Stunde vor Marys Ankunft einen ruhigen Besuch abgestattet. Ohne die häufig beschriebenen geisterhaften Begleiterscheinungen hatte er in dem mit Gobelin bespannten Sessel am anderen Ende des Salons Platz genommen. Was Fenton Mary erzählt hatte, stimmte durchaus. Da das Licht trübe war, sah Fenton nur den vagen, sich ständig verändernden Umriß und hörte lautlose Worte.

»Ja, Professor Fenton«, hatte sein Besucher liebenswürdig in einer leicht archaisch gefärbten Sprache gesagt, »ich glaube, ich kann diese Angelegenheit zu Eurer Zufriedenheit arrangieren. Andere vor Euch haben dieselbe Bitte gehabt. Wie war doch noch das Datum, das Ihr erwähntet.?«

»Es war der 10. Mai des Jahres 1675. Gerade einen Monat vor dem Mord.«

»Ach ja. Ich werde es mir notieren.« Nachdenklich fuhr der Besucher fort: »Es war damals eine wilde, blutdürstige Zeit, wenn ich mich recht erinnere. Aber die Damen!« Er schmatzte hörbar mit den Lippen. »Mein lieber Herr, die Damen!« Fenton erwiderte nichts darauf.

»Es ist höchst peinlich«, fuhr der Besucher in unglücklichem Ton fort, »daß zwei Gentlemen über geschäftliche Angelegenheiten reden müssen. Aber Ihr kennt meine Bedingungen und meinen - hm - Preis. Kommt! Können wir nicht gleich einen Pakt abschließen?«

Fenton lächelte. Er hatte keine sehr hohe Meinung von der Intelligenz seines Besuchers. Von seiner Macht, ja. Aber nicht von seiner Intelligenz.

»Nicht so eilig, Sir«, protestierte Fenton in sanftem Ton und strich sich über das dünne Haar. »Ehe wir irgendeinen Pakt miteinander machen, möchte ich, daß Ihr Euch meine Bedingungen anhört.«

»Eure Bedingungen?«

Aus dem Gobelinsessel schien sich eine Woge solcher Arroganz in Fentons Richtung zu wälzen, daß sie das Zimmer, ja, das ganze Haus bedrohte. Fenton, der bis dahin keinerlei Furcht gespürt hatte, wurde von Angst gepackt. Aber die Woge verlief sich, und es blieb nur gelangweilte Höflichkeit zurück. »Laßt uns Eure Bedingungen hören«, gähnte der Besucher.

»Zunächst einmal möchte ich als Sir Nicholas Fenton in die Vergangenheit zurückkehren.«

»Selbstverständlich.« Der Besucher schien überrascht. »Gewährt!«

»Da ich nicht sehr viel über Sir Nicholas ausfindig machen kann, muß ich weitere Bedingungen stellen. Er war ein Baronet, ja. Aber wie Ihr wohl wißt, wurde der Titel eines Baronets in jenen Tagen oft von den merkwürdigsten Käuzen getragen.«

»Stimmt, stimmt! Aber.«

»Ich muß ein wohlhabender Mann von edlem Blut sein«, fuhr Fenton fort. »Ferner muß ich jung sein und darf zu keiner Zeit von körperlichen noch geistigen Krankheiten befallen werden und keinerlei Verunstaltung erdulden. Auch dürft Ihr keine Verhältnisse schaffen, die mich der erwähnten Vorteile berauben könnten.«

Eine Sekunde lang glaubte Fenton, zu weit gegangen zu sein. Aus dem Sessel flutete eine Woge kindlichen Zornes, als würde ein kleiner Junge mit dem Fuß auf den Boden stampfen. »Ich weig -« Es entstand eine mürrische Pause. »Na, schön. Gewährt.«

»Besten Dank. Nun ist mir zu Ohren gekommen, Sir, daß einer Eurer beliebtesten Scherze darin besteht, mit Daten und Uhren zu jonglieren. Wenn ich Euch also den 10. Mai 1675 als Datum nenne, so ist das der Zeitpunkt, den ich meine. Auch dürfen die Tatsachen nicht geändert werden. Ihr werdet mich, zum Beispiel, für diesen Mord nicht ins Gefängnis werfen und an den Galgen bringen lassen. Ich werde, genauso wie Sir Nicholas, eines natürlichen Todes sterben. Gewährt?«

Obgleich sich der kindliche Zorn gelegt hatte, blieb doch ein gewisser Ärger zurück.

»Gewährt, Professor Fenton. Das wäre nun wohl alles, nicht wahr?«

»Nur noch eins«, bat Fenton, der vor Aufregung schwitzte. »Obgleich ich die äußere Gestalt von Sir Nicho-las annehme, muß ich doch meinen eigenen Verstand, meine eigenen Kenntnisse, ebenso mein Gedächtnis und meine Erfahrung beibehalten.«

»Einen Augenblick, bitte«, unterbrach ihn sein Besucher. »Hier, fürchte ich, kann ich Euch nicht vollständig akkommodieren. Wie Ihr bemerkt, verfahre ich ehrlich mit Euch.«

»Vielleicht habt Ihr die Güte, Euch zu erklären.«

»Im wesentlichen«, schnurrte der Besucher, »seid Ihr ein guter, freundlicher Mann. Deshalb möchte ich auch Eure See - Eure Gesellschaft haben. Nun, Sir Nicholas, das will ich gestehen, war Euch im Grunde seines Herzens sehr ähnlich. Er war gutmütig, großzügig und leicht zu Mitgefühl gerührt. Aber als Kind seiner Zeit war er ungeschliffener, besaß er ein ganz anderes Temperament und neigte zu heftigen Wutanfällen.«

»Ich verstehe immer noch nicht ganz.«

»Zorn«, erklärte der Besucher, »ist die stärkste aller Gemütsbewegungen. Nun, wenn Ihr - Professor Fenton in der Gestalt von Sir Nicholas - in leidenschaftliche Erregung geraten solltet, dann würde Sir Nicholas für die Dauer des Wutanfalls von Eurem Verstand Besitz ergreifen. Doch erkläre ich Euch feierlichst und als Teil unseres Paktes, daß seine Wutanfälle nie länger als zehn Minuten dauerten. Wenn Ihr damit einverstanden seid, akzeptiere ich Eure Bedingung. Was meint Ihr?«

Fenton, dem abermals der Schweiß auf der Stirn ausbrach, überlegte scharf, ob der Vorschlag einen Haken haben könnte. Doch er fand keinen. Während eines Wutanfalls von zehn Minuten, das gab er zu, konnte man großen Schaden anrichten. Aber seine anderen, bereits akzeptierten Bedingungen schützten ihn ja vor jeglichem Harm. Sie waren wie schwere, nach langer Überlegung eingehämmerte Nägel, die die Tür gegen den Teufel verschlossen.

Außerdem: er sollte in heftige Wut geraten? Er, Nicholas Fenton? Eine Unverschämtheit!

»Nun?« fragte der Besucher in schmeichelndem Ton. »Einverstanden?«

»Einverstanden!« erwiderte Fenton barsch. »Prächtig! Dann brauchen wir nur noch den Pakt zu besiegeln.«

»Hm - ich überlege gerade«, begann Fenton, setzte aber hastig hinzu: »Nein, nein! Keine weitere Bedingung! Ich wollte bloß eine Frage stellen.«

»Mein lieber Freund!« gurrte der Besucher. »Fragt nur immerzu.«

»Es verstieße sicherlich gegen die Regeln, wenn ich den Lauf der Geschichte ändern würde. Vielleicht liegt es sogar außerhalb Eures Machtbereichs, mir diese Möglichkeit zu geben?« Die Woge, die jetzt auf ihn zuströmte, ließ auf kindliches Vergnügen schließen.

»Die Geschichte könntet Ihr überhaupt nicht ändern«, erklärte der Besucher einfach.

»Wollt Ihr allen Ernstes behaupten«, beharrte Fenton, »daß ich mit allen Hilfsmitteln des zwanzigsten Jahrhunderts, mit eingehendster Kenntnis aller geschichtlichen Daten nicht den politischen Ereignissen eine andere Wendung geben könnte?«

»Oh, Ihr könnt vielleicht hier und da ein paar unwesentliche Einzelheiten ändern«, gab der Besucher zu. »Besonders in häuslichen Angelegenheiten. Aber was Ihr auch tun würdet, das Endergebnis wäre genau dasselbe. Es steht Euch indes völlig frei«, setzte er höflich hinzu, »Euch zu versuchen.«

»Das werde ich tun!«

Damit war der Teufel gegangen, ebenso unzeremoniell, wie er gekommen war. Nicholas Fenton hatte Zeit genug, um sich hinzusetzen und seine Nerven mit einer Pfeife Tabak zu besänftigen, ehe Mary erschien.

Als er Mary diese Unterhaltung in allen Einzelheiten mitgeteilt hatte, schwieg sie eine ganze Weile.

»Dann haben Sie Ihre Seele also doch verkauft«, sagte sie schließlich, und es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Meine liebe Mary! Hoffentlich nicht.«

»Aber gewiß!«

Fenton fühlte sich ein wenig beschämt. Es kam ihm vor, als sei seine Taktik unfair gewesen, selbst gegen den Vater alles Bösen. »Tatsächlich«, begann er zögernd, »hatte ich sozusagen ... hm ... noch einen Trumpf in Reserve, mit dem ich ihn letzten Endes schlagen werde. Nein, fragen Sie bitte nicht danach.« Unvermittelt erhob sich Mary.

»Ich muß gehen«, erklärte sie. »Es ist schon spät, Professor Fenton.«

Fenton fühlte auf einmal Gewissensbisse. Er durfte das Kind nicht nach zehn Uhr bei sich behalten, sonst würden sich ihre Eltern beunruhigen. Er begleitete sie zur Haustür. »Was halten Sie von meinem Plan?« fragte er. »Vor einer Weile schienen Sie ihn zu billigen.«

»Ja«, flüsterte Mary. »Das tue ich auch jetzt noch!«

»Na, und?«

»Sie sehen den Teufel«, entgegnete sie, »als eine Kombination des liebenswürdigen Philosophen und des grausamen, naiven kleinen Jungen: ich meine, genau wie eine Person des späteren siebzehnten Jahrhunderts.«

Damit rannte sie die wenigen niedrigen Stufen zur Pall Mall hinunter und ließ Fenton in der feuchten, regnerischen Nacht an der offenen Tür zurück. Sein altes Rheuma begann ihn zu quälen. Er schloß rasch die Tür und kehrte in den trüben Salon zurück. Sollte er jetzt zu Bett gehen? Fenton wußte, daß er nicht schlafen könnte. Aber damit hatte er gerechnet. Er hatte sich ein starkes Schlafmittel besorgt. Sorgfältig goß er sich das eine Glas Whisky ein, das er sich jeden Tag gestattete. Dem Whisky fügte er eine reichliche Dosis des Mittels bei. Er nahm in einem bequemen Sessel Platz, lehnte sich behaglich zurück und trank die Mischung. Die Wirkung machte sich sehr rasch bemerkbar. Die Umrisse begannen zu verschwimmen.

Und das war alles, worauf er sich besinnen konnte, als er mitten in der Nacht - es mochte auch früh am Morgen sein - hinter den zugezogenen, ihn halb erstickenden Bettvorhängen wach wurde. »Seltsam!« murmelte er vor sich hin. »Was für ein merkwürdiger Traum! Ich muß das Mittel viel früher am Abend getrunken haben, als ich mich jetzt erinnern kann.«

Mechanisch strich er sich über den Kopf. Seine Hand erreichte den Nacken, hielt inne, tastete sich wieder zurück und verharrte völlig regungslos. Selbst seine letzten, über den Schädel gebürsteten Haarsträhnen waren jetzt verschwunden. Er war geschoren wie ein Zuchthäusler.

Jedoch nicht ganz kahlgeschoren. Kurze, borstige Stoppeln bedeckten den ganzen Kopf.

Fenton richtete sich kerzengerade im Bett auf und stellte fest, daß er zum ersten Male seit sehr vielen Jahren seinen Pyjama nicht angezogenen hatte, daß er gar nichts trug. »Nanu!« sagte er leise. Er rollte auf die linke Seite - die Bettlaken erschienen ihm merkwürdig rauh und grob - und kam mit den Bettvorhängen in Berührung.

Er schlug die Bettdecken zurück, schob die Leinen vorhänge beiseite, daß die Holzringe klapperten, und schwang die Füße über die Bettkante. Er mußte seinen Kneifer auf dem Nachttisch finden und sich dann am Tisch vorbeitasten, bis er den Lichtschalter an der Tür erreichte.

Statt dessen machte er eine seltsame Bewegung. Mechanisch fühlte er am Bettrand entlang, bis er auf etwas stieß, was sein Unterbewußtsein an dieser Stelle vermutete: ein lockeres, langes Gewand aus wattierter Seide mit Pelzbesatz an Kragen und Ärmeln. Der Schlafrock, ja. Unwillkürlich zog er ihn an und machte dabei eine Entdeckung, die ihn aufrüttelte. Seine ganze Figur, bis dahin lang und hager, war jetzt völlig verändert. Er hatte einen gewölbten Brustkasten, starke, muskulöse Arme, aber einen flachen Bauch. Doch seine Beine waren nicht lang genug, um den Boden zu erreichen.

Der Kehle von Nicholas Fenton, Professor der Geschichte an der Universität Cambridge, entrangen sich rein tierische Laute, die tiefer und kräftiger klangen als sein gewöhnlicher heller, feiner Bariton. Er wußte nicht einmal, ob er gesprochen hatte oder ein anderer.

Eine wilde Panik bemächtigte sich seiner. Er fürchtete sich vor der Dunkelheit, vor sich selber, vor unbekannten Urgewalten. Er hätte schreien mögen. In Schweiß gebadet saß er da, während seine Beine grotesk über dem Boden baumelten wie über einem Abgrund.

»Spring!« schien eine gewaltige Stimme zu rufen. »Hurer, Wüstling, Spielteufel, spring!«

Fenton sprang und stieß hart mit den Füßen auf. »Wo bin ich?« rief er zurück. Und dann: »Wer bin ich?«

Niemand antwortete ihm.

Alle Vorhänge mußten dicht vor den Scheiben hängen, so intensiv war die Dunkelheit. Fenton schwankte ein wenig. Sein nackter rechter Fuß berührte einen Gegenstand, der sich wie ein alter Pantoffel aus sehr hartem Leder anfühlte. Er tastete weiter und entdeckte einen zweiten; er zog das Paar an.

Der ganze Raum war von einem unangenehmen, durch die Schwüle verstärkten Geruch durchdrungen. Was wollte er doch noch suchen? Ach ja, seinen Kneifer und den Lichtschalter. Wenn aber.

Er klammerte sich zur Orientierung an den Bettvorhang und tastete sich nach dem Kopfende. Ja, dort stand irgendein Tisch an der Wand. Er streckte die Hand aus und berührte menschliches Haar. Diesmal drängte es ihn nicht, laut aufzuschreien. Er wußte natürlich, was er berührt hatte. Es war die große Perücke mit ihren schweren, langen Locken. Sie ruhte auf dem hohen Perückenstock, bereit für die Morgentoilette.

Fenton nickte vor sich hin. Wenn die Perücke da war, mußte auch noch etwas anderes vorhanden sein. Seine Finger glitten zur rechten Seite und stießen auf ein großes, mehrfach gefaltetes Seidentuch.

Einem Impuls folgend, nahm er es rasch an sich, schüttelte es auf und band es sich - mit überraschender Geschicklichkeit im Hinblick auf seine zitternden Hände -in Form eines flachen Turbans um den Kopf. Seine intensiven Studien hatten ihn gelehrt, daß jeder Mann von Stand auf diese Weise seinen geschorenen Kopf verhüllte, wenn er en deshabille im Haus herumschlenderte. Obgleich er sorgfältig über den Tisch tastete, konnte er seinen Kneifer nicht finden. Indem er vorsichtig an dem Tisch entlangging, kam er zu der schlecht in den Rahmen passenden Tür. Daneben an der Wand war kein Lichtschalter. An der Tür selbst entdeckte er nicht einmal einen Porzellanknopf; nur eine hölzerne Klinke, die wie eine Klaue geformt war.

Auf dem Tisch hatte eine Kerze in einem Halter gestanden. Aber es war kein Streichholz ... vielmehr, keine Zunderbüchse vorhanden. Er konnte unmöglich bis zum Morgen hier in der Dunkelheit weilen. Wenn das, was er vermutete, aber nicht recht glauben konnte, eingetreten war, mußte noch jemand anders im Hause sein. Jemand anders. Gesichter tauchten vor seinem geistigen Auge auf.

Professor Fenton hob die Klinke und stieß die Tür auf. Wieder umfing ihn Dunkelheit. Sein Schlafzimmer lag hinten im Hause, und er mußte daher jetzt am Ende des oberen Flurs stehen, zu dessen beiden Seiten sich kleine Schlafzimmer befanden. Auf der linken Seite zeigte sich ein dünner gelber Lichtstreifen an einer Türschwelle.

Fenton schritt, allerdings auf zitternden Beinen, den Gang hinunter, der von demselben unangenehmen Geruch erfüllt war wie sein Zimmer. Als er die Tür mit dem Lichtschein erreichte, klopfte er nicht erst an, sondern hob die Klinke und öffnete die Tür ein wenig.

An der Wand gegenüber stand eine Art Ankleidetisch. Eine einzige Kerze, die in einem bemalten Porzellanhalter steckte, warf nur einen trüben Schimmer, der auf den Goldblattrahmen eines Spiegels fiel.

Jemand saß in einem Eichensessel vor diesem Spiegel, und zwar mit dem Rücken zu ihm gewandt. Aber er konnte wenig erkennen, da die schmale Rücklehne des Stuhls -aus gelbem Gewebe mit Reihen von winzigen runden Löchern - ihm sogar das Spiegelbild verdeckte.

Er wußte nur, daß es eine Frau war, da ihr langes schwarzes Haar ganz heruntergelassen und zu beiden Seiten der Lehne sichtbar war. Halt! Es war, als hätte sie ihn erwartet. Bei dem Knarren der sich öffnenden Tür fuhr sie nicht zusammen. Während einer Sekunde fürchtete er sich, ihr Gesicht zu sehen. Die letzte Schranke würde sich dann schließen zwischen seinem eigenen Leben und einem Dasein, das mehr als 250 Jahre zurücklag.

Doch die Frau ließ ihm keine Zeit. Sie erhob sich, schob den Stuhl ganz zur Seite und drehte sich um, so daß sie ihm gegenüberstand. Sekundenlang vermochte er sie nur bestürzt anzustarren. »Mary!« rief er dann.

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