VII

»Nehmt mir meinen Vorschlag nicht übel«, bettelte der Apotheker von neuem. »Diese Bullenbeißer verlassen ihr Asyl nur dann, wenn sie gegen Bezahlung zu töten beabsichtigen. Es ist ganz natürlich, daß sie geschickter mit dem Degen umzugehen verstehen als Leute, die in vornehmer Umgebung aufgewachsen sind .«

»An seinem Hut«, bemerkte George, »trägt er ein grünes Band.« Mit kräftigem Arm schob Sir Nick den Apotheker beiseite, trat ans Fenster und blickte auf die Stelle, die George angab. »Der Green-Ribbon-Klub«, sagte er. »Mylord Shaftesbury. Seine Gnaden, der Herzog von Bucks .«

Und mit splitterndem Krachen zerbrach er den Stock, daß es klang, als sei ein Deckenbalken geborsten.

Auf seinem vor Zorn geschwollenen Gesicht lag etwas wie religiöse Ekstase. Wenn irgendeine unsichtbare Erscheinung versucht hatte, ihn zurückzuhalten, so war sie jetzt in alle Winde vertrieben. Doch sein Verhalten strahlte Ruhe und Energie aus. »George«, sagte er, »bleib du hier und verhalte dich ruhig. Ich werde Freund Langbein da oben am Bogen attackieren und ihn die Straße immer weiter hinunterlocken, bis ich beide Schurken zusammen bekämpfen kann. Eine solche Gelegenheit bietet sich so leicht nicht wieder.«

Aber das war zuviel für George, der gellend erwiderte: »Hierbleiben? Mich ruhig verhallen? Bei Gott, Nick Fenton, wofür hältst du mich? Hast du das Gefecht vergessen - es ist kaum acht Monate her -, als wir Rücken an Rücken standen und .«

»Ich - ich .«

»Donnerwetter! In deinen Augen bin ich wohl zu fett und langsam geworden, wie?«

»Nein, nein - ich würde dich nicht so beleidigen.« Plötzlich schnitt Sir Nick eine Grimasse, die er selbst für ein angenehmes Grinsen hielt. »Dann willst du mir also beistehen, alter Freund? Gut! Es sei drum! Aber weg mit den Rüschen, Mann! Stopf sie in den Ärmel. Recht so! Sonst verwickeln sie sich in das Stichblatt, und dann ist's um dich geschehen. Nimm dich in acht, daß der silberne Griff nicht in deiner Hand ausgleitet oder sich dreht. Bist du bereit?«

»Ja.«

Sir Nick zog mit der rechten Hand das Rapier ein wenig aus der Scheide, schüttelte es, um sich zu überzeugen, daß es locker war, und ließ es zurückgleiten. Dann rückte er sein Degengehenk etwas zurecht.

»Ich möchte mir aber Freund Langbein mit dem grünen Band vorknöpfen. Nimm du den anderen«, sagte er scharf. »Also los!« Sir Nick öffnete leise die Tür und ging mit langsamen, ruhigen Schritten hinaus.

George folgte ihm und wandte sich an den Butzenscheiben vorbei nach links.

»Oh, Herr!« stöhnte der Apotheker.

Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und tanzte vor Qual in dem kleinen Laden herum - eine groteske Figur in seiner langen schwarzen Robe und der schwarzen Kappe. Meister Wynnel war der ernsthafteste, ehrbarste Bürger in dieser Gasse und überhaupt in der ganzen Umgebung. Durfte er da hinauseilen, um einem ordinären Streit zuzuschauen? Obgleich er so viel über Sir Nicholas Fenton gehört hatte, war es ihm nie vergönnt gewesen, ihn bei einem Degengefecht zu beobachten. Und dabei hätte er fast sein Leben darum gegeben. Die menschliche Natur trug natürlich den Sieg davon. »Oh, Gott!« rief der Apotheker und schoß in gebückter Haltung aus dem Laden. Wenn er sich hinter die Pferdetränke vor dem Laden des Heuhändlers duckte, konnte er unbemerkt zu der Stelle hinübersehen, wo Sir Nick und Freund Langbein aneinandergeraten mußten.

Sir Nick ging inzwischen langsam auf den Torweg zu, und Freund Langbein, der immer noch lässig an der Wand lehnte und an einem Strohhalm kaute, machte eine plötzliche Bewegung. Der Mann war so geschmeidig wie ein Panther. Ein riesiger Seitensprung brachte ihn mitten vor den Torbogen, den er somit verbarrikadierte, und eine braune Staubwolke umhüllte seine Beine. Sir Nick blieb zwei Meter vor ihm stehen. Wenn er einen Blick nach rechts geworfen hätte, so hätte er die glitzernden Brillengläser und die schwarze Kappe des Apothekers gesehen, der hinter der Tränke verborgen war. Vom anderen Ende der Gasse bei dem mit Eisenspitzen versehenen Tor ertönte ein rasches Klirren von Degenklingen. Doch niemand blickte hin, niemand drehte sich um. Nun, ein Narr, dachte der wie Espenlaub zitternde Apotheker, ein Narr, der die große Spanne von Bullys langen Beinen in den enganliegenden Lumpen sähe, würde zwanzig Schilling gegen einen Penny wetten, daß Sir Nick den kürzeren zieht. Aber . Aus der Nähe betrachtet, hatte Freund Langbein ein langes, geflecktes Gesicht, das mit schwarzen Bartstoppeln bedeckt war und einen noch höhnischeren Ausdruck trug. Seine Augen unter dem zerfetzten Hut waren entzündet, aber scharf.

»Möchtet Ihr hier passieren, kleiner Hofschranze?« rief er laut.

»Ja«, entgegnete Sir Nick, »meinen Degen werde ich durch deine verfaulten Gedärme passieren lassen. Wer bist du überhaupt, du Gossengezücht?«

Freund Langbein spuckte den Strohhalm aus. Sir Nicks verächtliche Worte hatten ihn wie eine Ohrfeige getroffen.

»Führer der Raufbolde bin ich!«, rief er und schlug sich in verletztem Stolz mit der rechten Faust auf die Brust. »Ich kann ein rennendes Huhn am Hals aufspießen und bin hier«, setzte er höhnisch hinzu, »um mit Euch genauso zu verfahren, kleiner Mann.«

»Zieh!« fauchte Sir Nick. »Zieh, und dann wollen wir sehen, was passiert!«

Beide Klingen flitzten im selben Augenblick aus der Scheide. Ein dünner Sonnenstrahl ließ sie kurz aufleuchten. Langbein machte einen kleinen Hopser nach links und einen nach rechts, als wollte er seinen Gegner umkreisen, um ihm von der Seite beizukommen. Aber auf dem eingeengten Platz wagte er das Risiko nicht.

Sir Nick hatte Paradestellung eingenommen: den Körper seitwärts zum Gegner, den rechten Fuß mit leicht gebeugtem Knie vorgestellt, den linken Fuß rechtwinklig zurück.

Aber wiederum schien er den Degen - obwohl dieser direkt auf Langbein gerichtet war - zu dicht an seinen Körper zu halten. »Nein, nein«, murmelte der Apotheker. »Nicht doch!« Langbein bemerkte es ebenfalls. Er nahm dieselbe Paradestellung ein. Aber die Klingen berührten sich nicht. Sir Nicks Degen blieb regungslos. Bully von Alsatia streckte mit schlangenartiger Bewegung seinen langen Arm vor, tastete mit der Spitze, tastete abermals, zog zurück und drängte sich allmählich näher heran . Dann auf einmal machte Bully mit der ganzen Länge seines Arms einen Terzausfall nach der rechten Brustseite seines Gegners. Es ertönte ein scharfes Klicken, als Sir Nick in horizontaler Bewegung seine Hand fünfzehn Zentimeter nach rechts riß und parierte. Trotz seiner Behendigkeit konnte Langbein nicht rasch genug den rechten Fuß wieder in Paradestellung bringen, bevor Sir Nick einen Quart-Halbstoß ausführte.

Die Spitze traf den Gegner ganz in der Nähe des Herzens, und es floß etwas Blut. Aber es war eine oberflächliche Wunde, die Langbeins Wut nur noch steigerte.

»Der Henker hole Euch!« schrie Langbein und machte ebenfalls einen Quartstoß nach der linken Brust seines Gegners. Sir Nicks Hand fegte über die eigene Brust hinweg nach links. Klick! Und der Stoß war abgewehrt, aber so dicht am Körper, daß die Klingen zischend aneinanderglitten.

Noch zweimal schossen die Klingen vor und klirrten zusammen, so daß Magister Wynnel eine Gänsehaut bekam. Dann wurde ihm ein erschreckender Anblick zuteil. Er sah einen besonderen Ausfall, einen Geheimtrick, der in der damaligen Zeit noch nicht allgemein bekannt war.

Wenn man nämlich den im rechten Winkel stehenden linken Fuß dicht an den rechten heranzieht, wie Sir Nick es jetzt tat, kann man beim Vorwärtsgehen einen unglaublich langen Ausfall mit dem Bein machen. Arm und Degen bilden eine gerade Linie und haben eine bedeutend längere Reichweite.

Wie eine zubeißende Schlange schoß Sir Nick Fenton vor und machte einen vollen Ausfall, die Degenspitze direkt auf den Bauch seines Gegners gerichtet.

»Ha!« rief der Apotheker und machte eine so heftige Kopfbewegung, daß seine Brille in das Wasser der Pferdetränke fiel. Nur Langbeins Geschmeidigkeit rettete ihm das Leben. Er machte einen gewaltigen Luftsprung nach hinten und landete volle zwei Meter weiter im Tunnel.

Langsam und unerbittlich folgte ihm Sir Nick, um zu töten oder getötet zu werden.

Bully war taumelnd, aber immer noch kampfeswütig neben der doppelten Reihe roter Feuereimer gelandet. Er ging noch weiter zurück, blieb aber stehen, als er Sir Nick mit geblähten Nüstern und fletschenden Zähnen im grauen Licht des Torbogens auf sich zukommen sah.

»Stillgestanden!« rief Sir Nick, das Wort in die Länge ziehend. »Stillgestanden, Führer der Raufbolde. Oder bist du es doch nicht?«

Sir Nick keuchte. Seine an dem Hut festgesteckte Perücke belästigte ihn. Sie hatte sich über ein Auge geschoben, und er faßte mit der Hand danach.

Langbein stand in Paradestellung. Unauffällig kroch seine linke Hand in die Tasche, in der er vorsorglich eine Handvoll Kies, mit Sand und Staub vermengt, trug.

»Macht Euch nicht so mausig!« brüllte Langbein. »Wenn Eure Eingeweide erst durchlöchert sind .«

Seine linke Hand mußte den Kies direkt in Sir Nicks Augen schleudern, und zwar eine Sekunde, bevor er seinen Ausfall machte. Doch mußte er niedrig werfen, nicht hoch, damit der Wind den Sand nicht in seine eigenen Augen blies. Es war zu der Zeit ein ziemlich fairer Trick.

»Wenn Eure Eingeweide durchlöchert sind«, schrie er, »werdet Ihr wissen, wer Herr ist!«

Staub und Kies spritzten aus seiner linken Hand. Sir Nick, dessen linker Daumen bereits unter der Perücke steckte, während seine Finger sie von oben griffen, riß die Perücke nach vorn. Der breitrandige Hut bildete einen Schild für sein Gesicht. In der nächsten Sekunde schleuderte er Hut und Perücke in die Luft - gerade als Langbein einen vollen Sekondstoß nach dem rechten Oberschenkel seines Gegners machte.

Sir Nicks Rapier sauste von oben herab, und die beiden Klingen klirrten zusammen, als er den Stoß parierte und Langbeins Degen zur Seite schlug. Noch ehe Langbein wieder zur Paradestellung zurückspringen konnte, schoß Sir Nicks Degenspitze vor und in einem schrägen Winkel nach oben.

Die Spitze drang Langbein, dessen Kopf ein wenig zurückgelehnt war, unterhalb des Kinns in die Kehle, dann hinter den Zähnen durch den Gaumen hindurch und schließlich ins Gehirn. Im nächsten Augenblick zerrte Nick mit beiden Händen an dem Degen, um ihn zu lockern und herauszuziehen. Es gelang ihm schließlich. Das Blut schoß aus der Wunde und strömte ihm über Hände und Ärmelaufschläge.

Eine halbe Sekunde lang stand Langbein noch, kaum schwankend, aufrecht. Eine dünne Schicht von Blut legte sich über seine Augen, so daß sie erloschen. Blut stürzte ihm aus der Nase und schäumte über seine Lippen.

Langbein schlug der Länge nach hin und fiel mit dem Gesicht nach unten über die Doppelreihe rotlederner Feuereimer. Die meisten davon schwappten über, hielten aber quietschend sein Gewicht, zwei fielen um, und das stinkende, mit Blut vermischte Wasser bildete eine Pfütze im Staub.

Sir Nick blickte auf seinen Gegner hinab, während er sich mit dem Samtärmel den Schweiß aus der Stirn wischte. Etwas weiter entfernt lag seine staubige Perücke mit Hut auf der Erde. Ein plötzlicher Lärm ließ ihn aus seinen Gedanken, die sich noch mit der Abwehr gegen den Sand beschäftigten, auffahren. Er raste aus dem Tunnel und die Gasse hinab. Er kam an dem schwatzenden Apotheker vorbei, der aller Vorsicht zum Trotz aus seinem Versteck herausgekrochen war. George befand sich in Schwierigkeiten.

Sein keuchender Atem war weithin vernehmbar. Er stand mit dem Rücken zu dem mit Eisenspitzen besetzten Tor an der Biegung. Sein Gegner - der zweite Bully von Alsatia - hatte Sir Nick den Rücken zugekehrt und bedrängte George hart. Sie waren beide bis zu den Hüften in eine dünne Staubwolke eingehüllt. Sir Nick blieb stehen und maß die Entfernung mit den Augen. Dann stieß er zu. Die Spitze traf den Mann ein paar Zentimeter unterhalb des linken Schulterblattes Er zuckte zusammen wie ein Fisch am Angelhaken, nahm aber sofort wieder Paradestellung gegen George ein.

»Senk deinen Degen!« befahl Sir Nick. »Senke ihn, oder du bist ein Kind des Todes. George, senk deinen Degen ebenfalls, aber erst nach ihm.« Langsam ließ Bully der Zweite die Hand mit dem Degen sinken. Als Sir Nick diesen Degen sah, wuchsen seine Freundschaft und Bewunderung für George in demselben Maße wie seine finstere Rachsucht gegen Bully.

Es war eine ganz altmodische Klinge, länger und bedeutend schwerer als Georges, mit zwei geschärften Schneiden und einer Spitze. Als Gegner damit fertig zu werden war Kinderspiel, wenn man die nötigen Kenntnisse besaß. Aber George, der nur im zeitgenössischen Degenfechten bewandert war, hatte trotz seines Putzes, seiner hohen Absätze und seiner Korpulenz wie ein Berserker ge-fochten und seinen Gegner drei Minuten - eine ungeheuer lange Zeit! - in Schach gehalten.

Über Bullys Schultern hinweg konnte Sir Nick Georges bleiches, schweißtriefendes Gesicht sehen. George keuchte so sehr, daß er nicht sprechen konnte.

»Ich bin Nick Fenton«, sagte Sir Nick und drehte die Degenspitze in Bullys Rücken, so daß den Mann eine Gänsehaut überlief. »Du kennst mich ja wohl, nicht wahr?«

»Ich kenne dich«, fauchte er, während er ebenso wie Sir Nick das verächtliche Du gebrauchte, »als Hurenjäger und Schweinehund, der sich eine papistische Dirne hält...«

»Ich gehe jetzt fünf lange Schritte zurück, du Spitzbube. Dann dreh dich um und fechte!«

»Und der Herr schenke mir den Sieg über den Philister!« Sir Nick stampfte fest mit den Hacken auf, damit alle die fünf Schritte hören konnten.

Bully der Zweite, ein vierschrötiger Mann von Sir Nicks Größe, wirbelte herum. Sein fettiges graues Haar reichte ihm bis halb über die Ohren. Durch die Narbe einer alten Schwertwunde stand eines seiner Augen schräg. Er hatte eine sehr schlechtsitzende obere Prothese, die wie eine Reihe übler Grabsteine wirkte.

»Bist ein Puritaner, Narbengesicht?« erkundigte sich Sir Nick höflich. »Wie alle Schurken und Spitzbuben von Alsatia?«

»Als du noch in den Windeln lagst vor fünfundzwanzig Jahren, gehörte ich zu Cromwells mächtiger neuer Armee. Wenn der Herr es für richtig befunden hat, mich unter einem unrechtmäßigen König mit Unglück zu schlagen .«

»Nun, wer hat je gehört«, sagte Sir Nick lachend, »daß ein Rundkopf mit einem Degen umgehen kann?«

Wutentbrannt ging Narbengesicht zum Angriff über. Es war eigentlich gar kein Kampf. Sir Nick spielte nur mit ihm und lachte ihn aus. Narbengesicht versuchte, im neuen Stil zu fechten, und hielt den Körper in seitlicher Stellung. Aber immer wenn er heftig nach Sir Nicks Brust stieß, wurde seine Klinge verächtlich zur Seite geschlagen oder spielend beiseite geschoben, was ihn maßlos in Wut brachte. Immer wieder stieß er ins Leere. Mit einer behenden Bewegung ritzte Sir Nick die Nase seines Gegners, so daß ein einziger Tropfen Blut hervorquoll.

Narbengesicht holte zu einem altmodischen Hieb weit mit dem Arm aus und ließ die ganze rechte Seite seines Körpers ungeschützt. Im selben Augenblick machte Sir Nick einen vollen Ausfall. Die Spitze drang in die Achselhöhle, bewegte sich etwas nach links und stieß auf einen Teil der Wirbelsäule. Narbengesicht wurde zurückgeschleudert und fast umgeworfen, erlangte jedoch das Gleichgewicht wieder, als das Rapier herausgezogen wurde. Eine halbe Sekunde stand er regungslos da. Obwohl er den rechten Arm wahrscheinlich nicht heben konnte, umklammerten seine Finger krampfhaft den Degen.

»Nimm dich in acht vor dem Kerl hinter dir!« rief er und streckte die linke Hand aus - ein uralter, unter Duellanten gebräuchlicher Trick. Beim Sprechen flogen ihm seine falschen Zähne aus dem Mund und landeten, ohne zu zerbrechen, im wirbelnden Staub. Sir Nick, ausnahmsweise nicht auf der Hut, blickte über die rechte Schulter. Diesen Augenblick nahm sein Gegner wahr, rannte links an Sir Nick vorbei und eilte wie ein geflügelter Gott auf den Tunnel zu. Blutstropfen spritzten überall auf den Boden. Sir Nick jagte sofort mit mächtigen Schritten hinter ihm her und versuchte, ihm den Degen in den Rücken zu stoßen. Aber Freund Narbengesicht, der zu beten schien, besaß ein unmenschliches Tempo. Er stürzte durch den Bogen in den Tunnel, dann an seinem toten Gefährten vorbei, ohne in der Blutlache auszurutschen, da sie bereits eingetrocknet war. Er erreichte den belebten Strand und entkam tatsächlich durch ein Wunder.

Unter normalen Umständen wäre es schwierig, ja, fast unmöglich gewesen, die Straße zu überqueren. Aber ein schwerer Brauereiwagen, von zwei flandrischen Mähren gezogen, hatte sich in einen in dieselbe Richtung rollenden Gemüsekarren festgefahren. Die Kutscher fluchten und bearbeiteten sich gegenseitig mit ihren Peitschen. Ein langer, mit schweren Gerstensäcken beladener Wagen und zwei Sänften - die Sänftenträger schienen höchst amüsiert - blieben kurz stehen, um die Prügelei zu beobachten. Dadurch gelang es Narbengesicht, auf die andere Seite zu kommen, gerade als sich die Räder mit einem gewaltigen Krach voneinander lösten. Die Fahrzeuge rollten wieder ungehindert weiter, als Sir Nick folgen wollte, und er mußte zurückbleiben. George hatte sich inzwischen an die Backsteinmauer gesetzt, um wieder zu Atem zu kommen. Doch als die beiden anderen die Gasse hinaufrannten, sprang er, federnd wie ein Gummiball, auf die Füße. Er hob Narbengesichts Zähne auf und steckte sie, offenbar als ein Souvenir, in die Tasche. Dann rannte er den anderen mit unerwarteter Behendigkeit nach.

Als er durch den Bogengang stürzte, hielt er nur inne, um dem toten Mann den Hut mit der grünen Rosette vom Kopf zu reißen und ihn zerknüllt in dieselbe große Tasche zu stopfen. Sir Nicks staubige Perücke mit dem daran befestigten Hut hob er ebenfalls auf und bürstete beides ab, als er durch den Bogen auf die Straße trat.

Dort fand er seinen Freund, der stampfend und tobend vor einer endlosen Kette von Fahrzeugen stand.

»Dieser verwünschte Hund«, würgte Sir Nick hervor, »ist mir entronnen. Wie kann ich ihn jetzt nur finden?«

»Unmöglich, Nick!«

Während er seinem Gefährten die Perücke mir nichts, dir nichts über den Kopf stülpte, versuchte George, ihn zu beruhigen. »Nick«, sagte er, »da drüben sind Dutzende von winkligen Gassen und Gäßchen - hörst du zu, Nick? -, durch die er nach Alsatia zurückschlüpfen kann. Dort angelangt, ist der Schurke in Sicherheit.«

»Weil es ein Asyl ist?«

»Mehr als das, Nick. Potztausend! Keine Bürgerwehrtruppe - nicht einmal eine Kompanie Soldaten mit Steinschloßgewehren - darf sich dort hineinwagen!«

»Aber hier ist einer, der's riskiert!«

»Nein, Nick«, sagte George in aller Ruhe, »das lasse ich nicht zu.«

»Und wie willst du es verhindern?«

»So!« sagte George. Mit diesen Worten trat er hinter seinen Freund und umschloß ihn wie ein Ringer mit seinen Armen. »Laß mich los! Kruzitürken!«

Sir Nick versuchte, sich aus dem Griff zu lösen, aber es gelang ihm nicht. Als sie auf dem Pflaster herumwirbelten und ab und zu gegen die Häuserwand prallten, bekundete niemand das geringste Interesse für diese Balgerei.

Mindestens ein Bettler sah die dicke, von Sir Nicks schwerer Geldkatze verursachte Ausbuchtung in seiner Tasche. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er die Tasche mit dem Messer so leicht aufschlitzen können, daß der Geldsack unbemerkt in seine Hand gefallen wäre. Aber selbst dieser Geldgierige hielt sich zurück; nicht einmal die Straßenjungen mucksten sich.

Wenn sie einen Mann von Stand mit blutigem Schwert und blutbefleckten Händen sahen, der schweigend und grimmig mit einem Standesgenossen rang, dann war das eine ernste Angelegenheit. Die Hand des Henkers war zu deutlich spürbar. Ein Schutzmann sah es und verschwand sofort. Nur ein Friedensrichter - dies waren meist strenge, unbeugsame Männer - hätte sich einzumischen gewagt.

»Nein!« keuchte George. »Bei Gott, Nick, ich halte dich fest, bis sich dein Mütchen gekühlt hat und die Vapeurs verschwunden sind!«

»Meinst du?« keuchte Sir Nick und riß einen Arm los. Doch George umklammerte ihn sofort wieder. Gemeinsam gerieten sie in die gefährliche Nähe der krachenden Räder, taumelten zurück, kehrten wieder um, bis Sir Nick mit dem linken Bein gegen etwas stieß.

Das einzige Wesen, das sich in ihre Nähe gewagt hatte, war ein sehr junger, in Lumpen gehüllter Schuhputzer, der sein flaches Blechgefäß mit der Mischung aus Ruß und ranzigem Öl vor sich hertrug. Sir Nicks Knie schleuderte ihn zu Boden, so daß die Ruß- und Ölmischung über den Straßenrand in die Gosse floß.

»Na, na«, sagte Sir Nick sanft. Seine Arme wurden schlaff. George, der ihn herumschwang, sah, daß er von Gewissensbissen gepeinigt war. »Ich hab's nicht bös gemeint. Wahrhaftig, ich hab's nicht bös gemeint.«

George ließ ihn gänzlich los, und Sir Nick kniete nieder, um dem erschrockenen, schwarzgesichtigen Knirps auf die Beine zu helfen. »Hier - hier ist etwas Geld. Da, nimm eine Handvoll. Es gehört dir.«

Er drückte dem Jungen die Münzen in die Hand und richtete sich langsam wieder auf. Mit schwankenden Knien torkelte er davon und lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand. Mit einem Arm verdeckte er die Augen und verharrte so eine ganze Weile. Dann ließ er den Arm wieder sinken. »Hm - George«, sagte er.

Lord George Harwell fuhr so zusammen, daß er fast in die Höhe sprang, und eine abergläubische Furcht durchrieselte ihn.

Es war eine andere Stimme, eine gänzlich andere Stimme als die des alten Nick. Nein, halt! Es war dieselbe ernste, höfliche, freundliche Stimme - in Nicks Tonfall, aber an die eines älteren Philosophen erinnernd -, die ihn schon den ganzen Tag verblüfft hatte, bis sie sich im Apothekerladen auf einmal änderte. »Wie kommen wir plötzlich hierher?« fragte die Stimme. »Wie ich mich entsinne, habe ich mich im Apothekerladen ein klein wenig echauffiert über dich - über irgendeine Bagatelle -, und seitdem kann ich mich an nichts mehr erinnern.«

Professor Fenton öffnete die Augen und blickte umher. Er fühlte sich schwach, als hätte er ein böses Erlebnis hinter sich. George hätte brennend gern gebetet. Aber ihm fiel nur das Gebet für die Sterbenden ein, und das schien hier nicht am Platz zu sein.

»Ei nun!« rief er mit erheuchelter Herzlichkeit. »Es sind knapp zehn Minuten seitdem verstrichen.«

»Zehn Minuten!« wiederholte Fenton.

Sein wandernder Blick flog zu den überhängenden Giebeln auf der anderen Straßenseite. Wie vorher, waren die beiden Flügel eines Fensters geöffnet. Die hübsche, zerzauste Schlampe stützte jetzt müßig beide Ellbogen auf den Fenstersims und hatte noch nicht einmal ihren Krug Bier geleert.

»Nun«, berichtete George in besänftigendem Ton, »du hast nur einen Mann getötet und einen anderen verwundet. - Ei, sieh mich nicht so an! Auch brauchst du nicht so auf deine Hände zu starren! Du wirst nicht in Haft genommen. Wenn ein Büttel Langbeins Leiche findet, wird er dankbar sein, daß jemand ihnen die Kosten des Aufknüpfens erspart hat. Freund Langbein kam aus Alsatia; sein Leben war seit langem verwirkt.«

»Aber.«

»Was du am allernötigsten brauchst, Nick, ist leibliche Nahrung«, erklärte George in herzhaftem Ton. »Potz Blitz! Komm! Keine zehn Meter von hier ist ein Speisehaus, der >Fette Kapaun<, wo man gut ißt. Hier, nimm meinen Arm; du bist ganz schlapp, Mann, und ich werde dir unterwegs alles erzählen.«

»Ja, auf jeden Fall! Aber .«

George, der zufällig nach rechts blickte, blieb unvermittelt stehen. »Sieh mal, hier kommt deine eigene Kutsche, und drin sitzt Meg York, die lächelnd ans Fenster klopft. Nick, Nick« - seine Stimme begann zu zittern – »was meinst du? Darf ich ihr wohl unter die Augen treten?«

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