VI

Knarrend und kreischend schwangen die Aushängeschilder in dem heftigen Wind, der den Strand von Charing Cross her hinunterwehte. Sie klapperten und quietschten über den Häuptern der Passanten und prallten mit großem Krach aufeinander. Sie mochten alt oder schmutzig sein, diese Schilder, aber wenn die Sonne hervorkroch, glänzten ihre primitiven Bilder in leuchtenden Farben. Hier klaffte ein roter Mund in einem Gesicht von der Farbe eines neuen Schornsteinaufsatzes. Dort tänzelte eine grüne Wassernixe über der Tür einer Garküche. Augen, Hundeköpfe, Fische sprangen auf und ab und blitzten in Rot, Purpur und Gold, während Wind und Ruß miteinander fochten.

Doch der Lärm der Schilder war kaum größer als der Lärm des Straßenverkehrs. In den Strand, einst eine vornehme Allee, in der die Stadthäuser der Adligen mit der Rückseite nach der rauchigglitzernden Themse standen, waren Handel und Wandel bereits eingedrungen, bevor das Große Feuer vor neun Jahren Cheapside und Eastcheap einäscherte.

Hier, wo die Gosse oder der Kloakengraben in der Mitte der Straße üble Dünste aufsteigen ließ, krachten eisenbereifte Räder über das Kopfpflaster, begleitet von den Flüchen der Kutscher. Höker schrien ihre Waren aus. Rastelbinder riefen die Leute herbei, indem sie auf einem Messingkessel herumtrommelten. Sie wurden übertönt durch die Rufe der Lehrlinge, die sich über die unteren Hälften der zweiteiligen Ladentüren lehnten oder vor den Läden auf und ab gingen. »Tuch, Sir! Wie Samt; faßt es nur an!«

»Lilienweißer Essig! Lilienweißer Essig!«

»Habt ihr einen Messingtopf, einen Eisentopf, einen Kochtiegel oder eine Bratpfanne, die ausgebessert werden müssen?«

»Und ein schöneres Bordell«, schrie Lord George Harwell seinem Gefährten ins Ohr, »hab' ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Mit Mutter Cresswells Haus überhaupt nicht zu vergleichen; pfui!«

»Hm - besser?«

»Ein wahrer Venustempel, meiner Treu! Ich kann dir sagen. Zum Teufel, Nick, nimm dich doch in acht! Du kommst mir noch unter die Räder oder fällst in die Gosse! Zurück!« George hatte dauernd auf Fenton aufpassen müssen, seitdem sie in östlicher Richtung die Pall Mall entlanggewandert waren. Die Augen seines Gefährten waren glasig und halb geschlossen. Er drehte sich beim Gehen ständig nach allen Seiten um. Wenn sein Blick auf etwas fiel, was ihm ein wenig bekannt vorkam, bewegte er schweigend die Lippen, als spräche er den Namen vor sich hin. George wurde allmählich ganz nervös. Als sie sich der Reiterstatue Charles' des Ersten näherten, legte er seinem Gefährten die Hand auf den Arm.

»Schockschwerenot!« stieß er nach tiefer Überlegung hervor. »Du kannst doch unmöglich so viel Rotwein in dich hineingeschlaucht haben, ehe du von zu Hause fortgingst. Ich habe dich doch gesehen.«

Fenton tat die Bemerkung mit einer heftigen Geste ab und deutete mit dem Finger.

»Dort an der Nordseite«, sagte er, »sind wohl die königlichen Marställe, wo die Soldaten einquartiert sind?«

»Ja. Du tust ja so, als ob du nie den Zapfenstreich von dort gehört hättest!«

»Und nach Süden zu«, sagte Fenton, indem er sich vollständig umdrehte, »ist die King Street. Zur Linken ...« Seine Hand deutete auf einen Haufen alter, schmutziger Backsteingebäude, die von wehendem Rauch und dem grauen Himmel halb verdunkelt waren und sich eine halbe Meile lang zwischen der King Street und dem Flußufer dahinzogen.

»Whitehall-Palast«, sagte Fenton. Seine Hand fegte nach der anderen Seite. »Diese Eisengitter und Hecken zur Rechten verbergen den Privatgarten des Königs, und dahinter erstreckt sich der St.-James-Park.«

Fenton starrte immer noch die King Street hinab auf einen viereckigen Turm aus roten, blauen und gelben Ziegelsteinen mit einem sich drehenden Wetterhahn an jeder Ecke. Der Turm stand genau mitten in der Straße und hatte einen großen Torbogen für einen Durchgang nach Westminster.

»Das ist das Holbein-Tor«, sagte Fenton. »Und dahinten nach Südwesten: das muß ein Eingang zu Spring Gardens sein.« Bei diesen Worten legte sich Georges Nervosität, und er begann zu schmunzeln. Wenn Nick vorgab, Spring Gardens, den großen Lustgarten, nicht zu kennen - und ein flotter Geselle konnte dort immer Liebe finden, potz Geck!

-, dann hatte Nick keinen Wahnsinnsanfall, sondern war einfach total betrunken. George brüllte vor Lachen.

»Spotte meiner nicht, ich bitte dich«, sagte Fenton unerwartet. Sein Gesicht war so bleich, daß George offenen Mundes stehenblieb. Fenton netzte sich die Lippen. Nach einem Blick auf die östlich gelegene Neue Börse und die Einfahrt zum Strand kehrte er wieder um. Neben der Statue bückte er sich und nahm eine Handvoll Staub und Erde vom Boden, die er langsam durch die Finger rieseln ließ. »Ich bin hier«, sagte er leise. Aber George hatte dies alles vergessen, als sie sich durch das Menschengewühl auf der Nordseite des Strand drängten. Voller Seligkeit wollte er gerade den Traum aller Bordelle beschreiben, als Fenton, der sich immer noch umblickte, beinahe unter die Räder eines Leichenwagens geriet und zurückgerissen werden mußte.

»Nun hör mal zu, Nick«, riet George, der nicht zornig, sondern sehr beunruhigt war. »Ich frage keinen Pfifferling danach, wenn ein Mann zu tief in der Becher guckt. Spaß muß sein. Aber...«

»Ich bitte dich um Entschuldigung«, sagte Fenton, der sich bemühte, sich den Ruß aus den Augen zu reiben. »Mein Kopf ist jetzt wieder klar.«

»Gut! Dann wirst du jetzt nicht mehr starren und glotzen. Sonst.«

»Falle ich in den Kloakengraben, ja?«

»Darum ist mir nicht so bange. Aber hier treibt sich eine rauhe Bande herum. Dieses Lumpengesindel, diese Bettler, die sich krank stellen, diese Landstreicher, ja selbst die Lastenträger, sie alle.«

Georges Stimme wurde übertönt von dem Horn eines Schweinestechers. Einer der zahlreichen jungen Schuhputzer, die mit ihrer Mischung aus Ruß und ranzigem Öl in den Gassen herumlungerten, sah, in welchem Zustand sich Georges Schuhe befanden, und stürzte auf ihn los. Mit einem wohlgezielten Faustschlag entledigte sich George dieser Person.

»Sie halten einen für einen Tölpel vom Lande, der zum ersten Male in die Stadt gekommen ist. Oder für einen Mußjöh - so nennen sie einen Franzosen! -, und das ist noch schlimmer. Sie spielen dir einen Schabernack; sie bewerfen dich mit Widderhörnern oder Schmutz aus dem Kanal; sie schwirren um dich herum wie Hornissen. Dann packt dich die Wut; du ziehst den Degen, und schon ist die Hölle los.«

»Ich werde vorsichtig sein, George.«

Schwapp! schlug ihm eine Degenscheide in die Kniekehle. Die Hälfte dieser Menschen schien Degen zu tragen. Und wenn man nicht höllisch aufpaßte, stolperte man darüber oder bekam einen Stoß. Fenton, der sich immer noch bemühte, seine Augen vor Ruß und seine Nase vor dem Kanalgeruch zu schützen, wachte aus seinen Träumereien auf und blickte um sich. Ergriff nach seinem Hut, aber der saß fest. Ihre Hüte waren mit langen goldenen Nadeln an den Perücken befestigt, sonst wären sie längst fortgeflogen. Wieder einmal drang ein Sonnenstrahl durch den Dunst. Fenton beobachtete, wie ein Stutzer unter dem Hohngelächter des Lumpengesindels in einer Sänfte getragen wurde. Er sah solide Bürger in Kamelott-mänteln, Wollstrümpfen und Schnallenschuhen einherschreiten.

Hier, das wußte er, würde er keinen reichen Kaufleuten mit goldenen Ketten und gewichtigen Pelzroben begegnen. Sie gehörten zur entlegenen City, wo nach dem Großen Feuer Backsteinhäuser anstelle der alten Holzbauten errichtet wurden. Unwillkürlich blickte er zu den alten Häusern mit ihren verschmutzten Fachwerkgiebeln hinüber, die weit in die Straße hineinragten.

In einem der Häuser wurde ein Fensterflügel aufgestoßen, und nach einer Weile der andere. Eine gähnende, unfrisierte Schlampe erschien in ziemlich unbekleidetem Zustand am Fenster. Interesselos blickte sie auf die Straße hinab, während sie sich mit einer Hand kratzte und in der anderen einen Krug mit Dünnbier hielt.

»Ich hab's!« stieß George, der tief in Gedanken versunken gewesen war und jetzt Fentons Blick folgte, plötzlich hervor. »Nun fällt's mir wieder ein.«

»Wovon sprichst du?«

»Menschenskind, vom Venustempel! Ich wollte dir doch erzählen.«

»Apropos Venus, George«, unterbrach ihn Fenton, der sich all seiner Probleme wieder bewußt wurde, »was würdest du sagen, wenn ich mich entschlossen hätte, allen Frauen außer Lydia abzuschwören?«

»Wie, bitte?«

»Was würdest du dazu sagen?«

George rollte seine braunen Augen und warf sich in die an Umfang zunehmende Brust. Das Glitzern seiner Ringe spiegelte sich in den Augen der Vagabunden, die an den Hauswänden lehnten. »Nun«, meinte George, »dann würde ich mich höflich nach Meg Yorks Befinden erkundigen.«

»Ja, Meg. Sie wird morgen mein Haus verlassen.« George blickte seltsam drein. »Meg - geht fort? Wohin denn?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß sie von einem gewissen Captain Duroc unterhalten werden soll, über den mir nichts bekannt ist.«

»Tatsächlich?« murmelte George, und seine linke Hand fiel auf den Degengriff.

»Die Frage, die ich . halt! Wir müssen fast am Ziel sein.« Fenton blieb plötzlich in dem Gedränge stehen. Beinahe riß ihm das Schmalzfaß eines vorübereilenden Lastträgers den Kopf von den Schultern. Der Lärm war immer noch so groß, daß er gezwungen war zu schreien, wie er und George es die ganze Zeit hindurch getan hatten.

»Wir müssen ganz in der Nähe sein, wenn wir nicht schon daran vorbeigelaufen sind. Achte du auf die linke Seite der Straße, während ich die rechte in Augenschein nehme. Die Totenmannsgasse biegt beim >Kopf des Wilden Mannes< ab. Das ist wohl ein Wirtshaus.«

»Wirtshaus!« sagte George und spuckte verächtlich aufs Pflaster. »Es ist ein Tabakladen. Er liegt ja vor uns. Siehst du nicht das Schild?«

Das Schild war mit einem langen, gräßlichen braunen Gesicht bemalt - wahrscheinlich des Künstlers Vorstellung von einem Indianer -, in dem zwei Reihen raubtierartiger Zähne eine lange Tonpfeife umklammert hielten.

Die Totenmannsgasse hatte, wie so viele andere Gassen und Gäßchen, die vom Strand abbogen, am Eingang einen etwa drei Meter hohen und fast ebenso breiten Torbogen, dessen mit glatten Steinen gepflasterter Tunnel ungefähr sieben Meter lang war und über sich ein kleines Haus trug. George schien über etwas nachzusinnen.

»He, diese Feuereimer!« sagte er obenhin, aber mit einem verschlagenen Blick auf seinen Gefährten. »Wie kommen die bloß hierher? Was meinst du wohl?«

»Nanu, George! Dein Verstand ist wohl umnebelt.«

»Mein Verstand? Bei Gott!«

»Nun«, sagte Fenton ungezwungen, »seit dem Feuer sind doch wer weiß wie viele königliche Edikte erlassen worden, wonach jeder Kaufmann einen Feuereimer im Laden aufstellen muß. Erinnerst du dich nicht, George?«

»Ich . ich .«

»Aber in engen, vollgestopften Läden sind diese Feuereimer verteufelt lästig, fürwahr! Sie kippen leicht um und durchnässen die Waren, nicht selten auch den Kunden. Also stellt man sie stillschweigend woandershin.«

»Bei Gott, du bist doch Nick Fenton!«

Sein Gefährte tat erstaunt. »Hast du das etwa ange-zweifelt?«

»Ei nun, nicht gerade angezweifelt; aber .« George ließ den Satz unvollendet. Er fuchtelte mit den Händen, daß die Rüschen flatterten. Wenn er etwas nicht verstand, ließ er das Thema rasch fallen. »Also, Nick, was Meg York angeht.«

»Ich kann dir nur sagen, daß sie morgen mein Haus verläßt. Allerdings habe ich vorhin eins noch vergessen. Sie erwähnte, daß dieser Captain Duroc ihr eine Wohnung in Chancery Lane besorgt habe. Wenn du das Verlangen hast, sie auszuhalten .«

»Sie aushalten?»schrie George in tiefster Empörung. »Ich möchte sie ehelichen!«

»Was, du willst sie ehelichen - Meg?«

»Und warum nicht?« Wiederum warf sich George in die Brust. »Meg ist eine Dame von Stand, verwandt mit deiner eigenen Frau. Sie braucht keine Mitgift. Ich habe genug Münze.« Hier wurde George ein wenig verlegen. »Certes, ich weiß um ihre Beziehungen zu dir.«

Zum Glück oder zum Unglück, dachte Fenton, weiß ich nichts darüber.

»Aber nenne mir eine einzige hochgeborene Dame«, fuhr George herausfordernd fort, »mit Ausnahme von Königin Catherine und Lady Temple und - und certes Lydia, die nicht von einem flotten Burschen ein dutzendmal mit ins Bett genommen worden ist! Das ist nun mal so Sitte. Und ich bin ein Mann, der mit der Zeit geht.«

Bei diesen Worten trat George unruhig von einem Fuß auf den anderen und starrte auf den schmutzigen Boden des Tunnels. »Nick«, platzte er heraus, »denkst du, daß sie mich haben will?«

»Oh, daran zweifle ich nicht. Ich frage mich nur, ob es ratsam ist.« Fenton war seiner eigenen Gefühle nicht sicher. »Gott im Himmel!« fuhr er fort. »Zweimal innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden stand ich im Begriff, dies verdammte Frauenzimmer zu töten: einmal

Dies bereitete George ein ungeheures Vergnügen. »Macht nichts, alter Freund!« schmunzelte er. »Das ist nur des Lieblings ergötzliche Laune.«

»Zweifellos. Doch magst du es nicht so ergötzlich finden, George, wenn sie dir einen Dolch durch die Rippen jagt oder. oder dir heißen Glühwein mit Arsenik vorsetzt.«

»Arsenik«, rief er und schien vor dem Wort zurückzuschrecken. »Potztausend, darum sind wir ja hier! Ich hatte es ganz vergessen.« Er warf rasch einen Blick auf seine rechte Hand, um zu sehen, ob sie schon geschwollen und schwarz geworden sei. Mit Erleichterung stellte er fest, daß es nicht der Fall war. Die Totenmannsgasse war nicht mehr als vier Meter breit. Auf der rechten Seite befand sich eine hohe, dunkle, fensterlose Ziegelwand. Zehn Meter weiter bog sie in eine andere Gasse ein, die durch ein verschlossenes, mit Spitzen versehenes Eisengitter verbarrikadiert war.

Auf der linken Seite zog sich die lange, offene Fassade einer Heu- und Getreidehandlung hin. Davor standen ein Karren und eine lange steinerne Tränke. Es war eine Anzahl von Läden vorhanden, doch die beiden Freunde sahen nur einen: eine blaue Tür und das Schild mit dem blauen Mörser. George wandte sich an seinen Gefährten.

»Was hat dies alles überhaupt für einen Sinn?« fragte er, und seine Stirn unter der flachsenen Perücke rötete sich vor Zorn. »Niemand ist vergiftet in deinem Haus, Nick, oder die Obrigkeit hätte sich längst eingemischt. Du kannst nicht behaupten, daß Meg .« Das ernste Gesicht seines Gefährten brachte ihn zum Schweigen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Fenton unglücklich. »Eine ganze Zeit lang habe ich es geglaubt, das will ich ganz offen zugeben. Heute jedoch sind mir immer und immer wieder Zweifel gekommen. Wer bin ich, daß ich sagen könnte: >Diese Person würde dies tun<, oder: >Jene Person würde das tun?< George, ich weiß es einfach nicht.«

»Ich werde es ausfindig machen .«

»Nein! Überlaß das Reden bitte mir.«

Fenton stieß die blaue Tür auf, und sie traten in einen kleinen, nicht allzu sauberen Raum. Er hatte ein ziemlich großes Fenster mit bleigefaßten Butzenscheiben. Durch das buckelige Glas fiel ein etwas grünliches Licht auf den dunkelgebeizten Eichentresen mit der trüben Messingwaage. Der Apotheker, ein kleiner, verrunzelter Mann, der sein eisengraues Haar unter einem schwarzen Käppchen trug, stand hinter dem Tresen und las in einem aufgeschlagenen Buch. Als seine Besucher eintraten, blickte er sie durch seine länglichen, stahlgefaßten Brillengläser an

»Einen schönen guten Tag, die Herren«, begrüßte er sie mit einer Stimme, die wie ein Straßenschild knarrte, während er sich tief, aber ohne Unterwürfigkeit verbeugte. »Und womit kann ich Euch dienen?«

Der Apotheker, Magister William Wynnel, war im Grunde ein fröhlicher, rühriger, lebhafter Mann. Aber sein Beruf hatte ihm ein gesetztes, strenges Aussehen verliehen. Er betrachtete die Besucher mit gespitzten Lippen und einem traurig-ernsthaften Blick, als sei die Last seiner Gelehrsamkeit zu schwer für ihn. »Magister Apotheker, mein Name ist Fenton.«

»Habe ich die Ehre«, erwiderte der andere, sich abermals verneigend, »mit Sir Nicholas Fenton zu reden?«

»Wenn Ihr es eine Ehre zu nennen beliebt, ja, ich bin Nicholas Fenton.«

Der alte Apotheker war hocherfreut, daß ihm eine so höfliche Behandlung widerfuhr, wie sie ihm nach seinem Dafürhalten auch zukam.

»Ihr seid zu gnädig, Sir Nicholas! Und was führt Euch zu mir, wenn ich fragen darf?«

Fenton griff in seine große rechte Tasche. Über dem Päckchen mit Arsenik lag die kleine, aber schwere Geldbörse mit der Zugschnur, die er sich von Giles hatte geben lassen, ehe er von zu Hause fortging. »Ich möchte Wissen kaufen«, entgegnete er.

Er öffnete den Geldsack und schüttete einen Teil des Inhalts aus. Gold- und Silbermünzen rollten klirrend über den Ladentisch.

Der kleine William Wynnel richtete sich würdevoll auf. »Sir«, bemerkte er, »ich bin Drogist und Apotheker, ein Metier, das gelernt sein will und fast an das des Chirurgen oder Doktors der Medizin heranreicht. Steckt bitte das Geld weg, bis wir in Erfahrung gebracht haben, ob ich . das Wissen, wonach Euch verlangt, besitze.«

Ein Schweigen folgte diesen Worten. George wollte gerade den Mund öffnen, um den Apotheker anzubrüllen. Doch ein Zeichen, das Fenton ihm unterhalb des Tresens gab, hinderte ihn daran. Fenton hatte einen ganz bestimmten Zweck im Auge. »Eure Worte sind berechtigt«, gab er zu und fegte die Münzen wieder in die Geldkatze. »Und Euer Tadel ebenfalls. Ich bitte Euch um Verzeihung.« George und der Apotheker starrten ihn an. Die höfliche Entschuldigung eines Adligen, dessen Vorfahren bis in die Zeit vor Edward III. zurückgingen, erschien so leutselig, daß der Apotheker völliges Vertrauen gewonnen hatte. Er hätte jetzt jedes Geheimnis enthüllt.

»Zunächst einmal«, fuhr Fenton fort, während er die Geldkatze wieder in seiner Tasche verschwinden ließ und ungezwungen das Päckchen Arsenik herauszog, »nehme ich an, daß Ihr dies verkauft habt. Habe ich recht?«

Magister Wynnel nahm das Päckchen in die Hand, um es genauer zu betrachten.

»Nun, freilich«, entgegnete er prompt. »Hätte ich die Tatsache zu verbergen gewünscht, so hätte ich nicht mein Zeichen so deutlich darauf vermerkt. Denn es verstößt nicht gegen das Gesetz, Arsenik zu verkaufen. Fast alle unsere Häuser sind ja mit Ungeziefer behaftet: Ratten, Mäuse, große und kleine Insekten, die man vertilgen muß. Es ist dem Apotheker überlassen, mit Hilfe seines Urteilsvermögens und geschickter Fragen die Ehrlichkeit des Käufers zu ermessen.«

Damit hatte er recht. Dennoch trat in seine Augen ein unruhiger, ängstlicher Ausdruck.

»Aber ich hoffe«, sagte er, »daß sich kein . kein . Unglücksfall zugetragen hat.«

»Keineswegs«, versicherte ihm Fenton lächelnd. »Ich gehe der Sache nur auf den Grund, um meinen Haushalt Vorsicht und Sparsamkeit zu lehren.«

Ein leiser, halberstickter Seufzer der Erleichterung wurde hörbar. Die gespitzten Lippen und das wichtige Gehabe des Apothekers waren wie weggeblasen. Er war jetzt ein dienstbeflissener, lebhafter, entgegenkommender kleiner Mann, dessen Augen hinter den Brillengläsern funkelten.

»Könnt Ihr Euch«, fragte Fenton,«auf das Datum besinnen, an dem das Gift gekauft wurde?«

»Mich besinnen? Nein, Sir, aber ich kann es Euch unverzüglich sagen!«

Er stürzte sich auf das aufgeschlagen vor ihm liegende Buch, blätterte rasch ein paar Seiten um und deutete mit dem Finger auf einen Eintrag.

»Das Datum«, erklärte Magister Wynnel, »war der 16. April. Also vor gut drei Wochen.«

»Könntet Ihr vielleicht auch feststellen . obzwar es an ein Wunder grenzen würde. wieviel Arsenik aus dem Päckchen verschwunden ist?«

»Ein Wunder? Aber nein, Sir Nicholas! Hier!« Er flog zu der alten Messingwaage, wo er das Päckchen in eine Waagschale und einen sehr leichten Kieselstein in die andere legte.

»Dies ist keine gute Waage«, meinte er. »Aber ich bin zu arm, um. Na, es sind etwa drei oder vier Gran daraus verschwunden.«

»Und wie hoch war die ursprüngliche Menge, die Ihr dispensiert habt?«

»Das steht in meinem Buch. Einhundertunddreißig Gran.« Die fehlende Menge, über drei Wochen verteilt, entsprach genau Lydias Symptomen.

»Der Teufel hole diesen ganzen Kram!« platzte George heraus. »Was wir wissen wollen -«

»Pst!« flüsterte Fenton mit einem warnenden Blick und wandte sich wieder dem Apotheker zu. »Und der Name des Käufers, wie steht's damit?«

»Damit kann ich nicht dienen, Sir. Sie wollte keinen Namen nennen.«

Als Lord George das ominöse Wort sie vernahm, war es ihm, als habe sich eine Schlinge um seinen Hals gelegt. »Sie gehört aber zu Eurem Haushalt«, sagte der Apotheker zu Fenton. »Das nehme ich jedenfalls an.«

»Könnt Ihr sie beschreiben?«

»Das Mädchen legte ein gutes, demütiges, bescheidenes Benehmen an den Tag. Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Sie trug einen Schal um die Schultern und Holzschuhe an den Füßen. Ach ja, und sie hatte auffallendes dunkelrotes Haar, das in der Sonne aufleuchtete. Ich konnte sofort sehen, daß sie ehrlich und tugendhaft war.«

»Kitty«, flüsterte George und trommelte leise auf dem Tresen. »Hörst du, Nick? Deine Köchin.« Fenton verzog keine Miene.

»Aber gewiß habt Ihr doch«, meinte er, »einige Fragen an sie gerichtet, Herr Apotheker: wie sie hierhergekommen ist, wer sie geschickt hat und so weiter.«

»Freilich, Sir Nicholas!« bestätigte der Apotheker und lehnte sich, listig blinzelnd, über den Tresen. »Sie sagte zu mir, sie möchte gern Arsenik kaufen, und zwar >so viel, wie in den größten Beutel geht<.«

Erregt und dramatisch schilderte der Apotheker die Szene. »>Nun, meine Liebe<, sagte ich schmeichelnd, >wozu möchtet Ihr das denn haben?< Sie erwiderte, es sei für die Ratten, sehr große Ratten, von denen es in der Küche des Hauses, wo sie eine arme Dienstmagd sei, nur so wimmele; sie verschlängen die Lebensmittel, zernagten das Holzwerk und flößten ihr große Angst ein.«

»Bitte, erzählt nur weiter.«

»>Dann sagt mir, meine Teuerste<, sprach ich wie ein Vater, >bei wem steht Ihr in Diensten?< Sie erwiderte, daß Sir Nicholas und Lady Fenton ihre Herrschaft sei. Certes, Sir Nicholas, ich hatte schon viel von Euch gehört wegen Eures Deg . Eures hohen Ansehens im Unterhaus. >Wer hat Euch geheißen, Gift zu besorgen?' fragte ich. >Nun<, entgegnete sie, >meine Gebieterin.<«

»Lydia?« murmelte George voller Staunen und starrte seinen Gefährten ratlos an. Fenton blieb die Ruhe selbst. »>Nun, meine Teuerstem sagte ich, >noch eine letzte Frage. Wie sieht Eure Herrin aus? Beschreibt sie mir einmal.<«

»Magister Apotheker, seid Ihr mit Mylady Fenton bekannt?« Der kleine Mann spreizte die Hände.

»Sir, Sir, genieße ich eine solche Ehre? Nein, die Falle lag woanders: nicht in dem, was sie sagte, sondern darin, wie sie es vorbrachte. Würde sie stammeln oder frisch und unbefangen sprechen? Würden ihre Augen unstet hin und her wandern oder offen meinem Blick begegnen? Ah, ihr Verhalten stellte mich zufrieden!«

»Und wie hat sie Mylady Fenton beschrieben?«

»Nun, Sir, die Beschreibung entsprach ganz meinen Erwartungen: groß, eine Fülle von glänzendem schwarzem Haar, graue Augen, die oft die Farbe wechseln, und eine milchigweiße Haut.« Das Schweigen, das diesen Worten folgte, schien unerträglich lang.

»Das ist nicht Lydia«, murmelte George mit leiser, halberstickter Stimme. »Das ist. das ist.«

»Sei still, George! - Herr Apotheker, hat das Mädchen zufällig den Vornamen dieser Dame erwähnt?«

»Nein, Sir, sie. doch halt!« murmelte der Apotheker und schnalzte mit der Zunge. »Ei, der Daus, das hatte ich ja ganz vergessen! >Wenn Ihr mir keinen Glauben schenkt<, sagte sie und zupfte züchtig an den Knöpfen meines Rockes, wobei ich - hm! >Wenn Ihr mir keinen Glauben schenkt, so will ich Euch verraten, daß der Vorname der wahren Gebieterin meines Herrn im Augenblick Magdalen oder Meg ist.<« Fenton senkte den Kopf.

Links von ihm auf dem Ladentisch lag der dicke Spazierstock des Apothekers aus gedrechselter, geschnitzter Eiche. In Gedanken versunken, hob Fenton ihn auf und hielt ihn abwägend in der Hand.

Nun, er hatte das meiste erwartet. Es stand in Giles' Bericht. Aber er war gezwungen gewesen, es nachzuprüfen, da Megs Name an dieser Stelle nicht erwähnt war. Er war nur versteckt angedeutet, und zwar in einer so verworrenen und rätselhaften Weise, daß nur ein langes, konzentriertes Studium die verborgene Bedeutung zutage fördern konnte.

Aber es standen, wie Fenton allmählich entdeckte, so viele, viele wichtige Dinge nicht im Manuskript! Der Bericht war eigentlich ziemlich nutzlos, mit Ausnahme von . In diesem Augenblick explodierte der Laden gewissermaßen. »Lügner!« brüllte George plötzlich. »Infamer Lügner! Schurke! Hundsfott!«

George stürzte sich mit kräftiger Faust über den Tresen hinweg auf den Apotheker. Die Waage kippte um und fiel klirrend zu Boden.

»George! Gemach! Sachte!«

Doch George versuchte in seiner Raserei, dem Apotheker noch mehr Angst einzujagen, und zwar mit einer Lüge. »Ein Mord ist geschehen«, rief er, »und Euch wird man auch verhaften. Ihr werdet ins Newgate-Gefäng-nis wandern, und ich werde Euch am Galgen baumeln sehen. Ich werde beobachten, wie der Karren unter Euch weggezogen wird .«

Scharf schnitten dann die Worte durch die Luft: »Tod und Verdammnis, George! Schweig!«

Lord George Harwell blieb wie angewurzelt stehen, die linke Hand in der Luft, die rechte auf seinem Degenknauf. Zum ersten Male an diesem Tag kamen ihm Nicks Ton und Gehaben vertraut vor.

Die zickzackförmigen Adern an Sir Nicks Schläfen traten wie blaue Stricke hervor. Sein Gesicht war düsterer geworden, und er begann zu lächeln. Seine Hände umklammerten den schweren Eichenknüppel fest und immer fester.

Doch George, der abergläubischer oder vielleicht empfindsamer war, als er schien, hatte den Eindruck, irgendein unsichtbares Wesen steige auf Nicks Schultern und zwinge ihn, den Stock fallen zu lassen. Aber Nick wollte anscheinend nicht nachgeben.

»Vorsichtig, Nick!« rief George. »Wenn du in diese Stimmung gerätst.«

Der kleine Apotheker war inzwischen eilig zur Tür getrippelt, um seine Besucher loszuwerden, und blickte aus dem großen Fenster zu seiner Linken. Dieses Fenster war wegen seines buckeligen Glases für die anderen fast undurchsichtig. Meister Wynnel ging dicht heran und blickte erst nach links und dann nach rechts. Und er zitterte mehr als je zuvor.

»Sir Nicholas.«, begann er. Dann wandte er sich um und schreckte zurück vor dem Gesicht, das ihm entgegenstarrte. »Na, na, Mann!« sagte Sir Nick mit leiser, knurrender Stimme, der er mit aller Gewalt einen freundlichen Ton zu verleihen suchte. Mit zitternder Hand griff er in die Tasche. »Hier sind ein paar Guineen für Euch. Nehmt sie!«

Es war weit mehr, als der Apotheker in einem ganzen Monat auch nur im Traum verdienen konnte.

»Da ich weiß, daß sie Euch ein Loch in die Tasche brennen«, sagte Meister Wynnel, »will ich sie nehmen. Aber, Sir, Ihr dürft dieses Haus noch nicht verlassen.«

»Nicht das Haus verlassen? Weshalb denn nicht?«

»Herren, die bei Hofe verkehren, wissen vielleicht nicht, daß in der Nähe der Fleet Street, dicht beim Temple, ein verworfener Bezirk liegt, den man Alsatia nennt.«

»Wirklich?« murmelte Sir Nick zähneknirschend. »Dieses Alsatia ist eine rechtliche Zufluchtsstätte für Verbrecher, ein Asyl selbst für diejenigen, die die schändlichsten Taten begangen haben. Der schlimmste unter ihnen, ein gedungener Räuber und Mörder, wird Bully oder Bullenbeißer genannt, da .« George schoß ans Fenster und preßte seine Nase gegen die Scheiben.

»Der Schurke zur Linken«, plapperte der Apotheker, »hat sich bis zu den Läden am Ende der Gasse zurückgezogen. Ich kann ihn jetzt nicht sehen. Aber der andere Mann rechts vom Torweg, der zum Strand führt.«

»Ich sehe ihn«, rief George.

Der Mann lehnte mit der rechten Schulter gegen die alte dunkle Backstein wand des Torbogens - nachlässig, mit verschränkten Armen. Sein Gesicht war zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Er war mager und sehr groß. Sein zerlumpter Rock lag eng am Körper an und war bis zum Hals mit Zinnknöpfen geschlossen. In einer alten Scheide trug er einen neuen Degen - das stählerne Stichblatt glitzerte in einem Sonnenstrahl -, den irgend jemand für ihn gekauft hatte. Die Krempe seines breiten, niedrigen Hutes war zerfetzt, aber an der Seite des Hutes war eine grüne Rosette befestigt.

Er war ein lauter Prahler, ohne Furcht oder Mitleid, der Schrecken aller ehrbaren Männer - Bully von Alsatia in eigener Person.

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