Wenn Fenton später Rückschau hielt, so schien es ihm, als sei der Monat, den er jetzt durchlebte, die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen.
Im Mittelpunkt stand seine Liebe zu Lydia, die fast an Verehrung grenzte. Er hatte beobachtet, wie sie sich in wenigen Wochen aus einer halbkranken in eine glückliche, lachende, kräftige Frau verwandelte. Und aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde betete sie ihn an.
Sein Glück wurde allerdings durch einen Gedanken getrübt - den Gedanken an den gefürchteten 10. Juni, an dem Lydia nach den Aufzeichnungen sterben mußte. Jedesmal, wenn die Furcht vor diesem Tag an ihm nagte, schwor er, daß er Lydias Tod verhindern würde.
Auch gab es in diesem angenehmen Dasein, von dem wir noch hören werden, einige häßliche Vorfälle, die ihn wie Dolchstiche trafen. Der erste ereignete sich noch an demselben Abend, nachdem er mit George und Mr. Reeve den Green-Ribbon-Klub im Wirtshaus zum »Königshaupt« verlassen hatte. George hatte darauf bestanden, daß sie noch einen Becher Wein trinken müßten, um ihren Triumph zu feiern.
»Außerdem mußt du dich etwas herausputzen«, erklärte er mit einiger Berechtigung. »Mit solchen Händen und solchen Ärmeln kannst du doch nicht nach Hause gehen! Im Wirtshaus zum >Teufel< wirst du sicherlich eine Schale mit Wasser finden!«
»Ein Becher Wein, mit Verstand getrunken«, versicherte ihm Mr. Reeve würdevoll, »ist allemal gut für die Verdauung.« Also tranken sie ein paar Becher im »Teufel«, wo Fenton sich so gut säuberte, wie es eben ging. Dann zogen sie ein Häuschen weiter zu dem berühmten »Schwan« in Charing Cross. Dort nahmen sie Platz auf hölzernen Ruhebänken mit hohen Rückenlehnen, und mitten im Lärm und Gestank des Wirtshauses begannen George und Mr. Reeve eine recht zünftige Zecherei. George schwor - und das mindestens sechsmal-, daß er nach dem nächsten Krug Fenton nach Hause begleiten und Meg bitten würde, ihn zu heiraten. Das Ergebnis des Gelages war nicht schwer zu erraten. Die beiden sanken nach einer Weile unter den Tisch - eine bequeme Sitte zu der Zeit.
Fenton zahlte die Zeche, und mit Hilfe zweier Zapfkellner gelang es ihm, die Betrunkenen in je eine Sänfte zu zwängen. Dann schickte er die zwei Sänften in verschiedene Richtungen davon. Jeder voran lief ein Fackelträger. Es war noch nicht einmal dunkel und somit die von Wegelagerern drohende Gefahr nicht sehr groß. Hinterher legte Fenton die kurze Entfernung zu seinem eigenen Haus zu Fuß zurück. Der stattliche Portier mit seinem Amtsstab stand kerzengerade an der Tür. »Eine Frage noch . hm .«
»Sir«, erwiderte der Portier, »ich heiße Sam.« Dann packte er rasch mit allen Neuigkeiten aus. »Madam York ist vor knapp einer Stunde mit schwerem Gepäck in einer fremden Kutsche fortgefahren. Und es freut mich, berichten zu können, daß Ihre Gnaden, Eure Gemahlin, wohlauf sind und ihre Gesundheit sich ständig bessert. Ein dutzendmal in der Stunde schickt sie Mrs. Pamphlin aus, Euch zu suchen.«
»Gott sei gelobt«, sagte Fenton langsam und spürte, wie sein Herz klopfte.
Sam verneigte sich.
»Mich . hm . verlangte es zu wissen«, stieß Fenton schließlich hervor, »wie viele Briefe heute von hier abgeschickt wurden. Aber das ist nicht mehr wichtig, da ich jetzt weiß .«
»Sir, vier Briefe im ganzen«, erwiderte Sam, nachdem er ausgerechnet hatte, wie viele Male er einen Dienstmann suchen mußte. »Einer von der gnädigen Frau an Mrs. Wheeler, die Damenschneiderin im Hause >La Belle France<. Einer von Madam York an einen Captain Duroc in der Chancery Lane. Einer von Mr. Giles an seinen Bruder in der Nähe von Aldgate Pump. Einer - hm! - von der Köchin Kitty .«
»Kitty! Kann sie überhaupt lesen oder schreiben?«
»Man hätte es nicht erwartet«, erklärte der stattliche Sam stirnrunzelnd. »Es war so schlecht geschrieben, daß ich die Adresse nicht entziffern konnte. Ich gab einem Dienstmann Sixpence und habe ihn damit losgeschickt.«
»Das konnte aber nicht am Nachmittag gewesen sein! Das Mädchen war - das hoffe ich wenigstens - unter Bewachung in meinem Studierzimmer.«
»Nein, Sir, alle Briefe wurden frühmorgens abgeschickt.« Ist ja unwichtig, dachte Fenton, und als Sam ihm würdevoll die Tür öffnete, stürzte er durch die ekelhaft riechende untere Halle, dann die Treppe hinauf und den Flur entlang zu Lydias Zimmer. Die Wachskerzen flackerten, als er die Tür aufstieß. Über der Holztäfelung hingen Gobelins, die fast jeden Zoll der Wände bedeckten. Das schwere Bett hatte vergoldete Liebesgötter an jedem Pfosten. Lydia saß in einem tief dekolletierten Abendkleid auf einem gradlehnigen Stuhl neben einem fünfarmigen goldenen Kerzenleuchter und hatte ein Buch im Schoß. Wenn sie auch bei ihrer Genesungskur ziemlich viel durchgemacht hatte, wie aus der Blässe der Wangen und den dunklen Schatten unter den blauen Augen zu ersehen war, so war sie dennoch Lydia. Sie streckte ihm beide Arme entgegen, und er hielt sie fest umschlungen, Wange an Wange.
»Mein liebes Herz«, sagte er, als Lydia sich zurücklehnte, um ihn forschend anzublicken, »hoffentlich habe ich dich mit meiner Kur nicht noch kränker gemacht.«
»Pfui!« sagte Lydia. Ihre rosa Lippen bebten, und sie machte den Versuch, ein wenig zu lächeln. »Es war nicht schlimm! Obgleich manchmal etwas unbehaglich, das gebe ich zu, besonders.« Hier hielt sie verlegen inne. Dann fiel ihr Blick auf seinen etwas mitgenommenen rechten Ärmel. »Oh, Nick, hast du .?«
»Und wenn schon, Lydia, so bin ich doch unversehrt wieder zu dir zurückgekehrt.«
»Oh, ich bin nicht ungehalten. Ich - ich bin sogar stolz. Aber ich hatte nicht angenommen .« Ihre Stimme erstarb, als sei sie von Entsetzen gepackt.
Am anderen Ende des Zimmers, den hageren, steifen Rücken ihnen zugekehrt, stand Mrs. Judith Pamphlin und hielt einen Teller in die Höhe, um ihn zu polieren.
Lydias Schultern zitterten ein wenig. Nachdem sie einen verstohlenen Blick auf Judith geworfen hatte, preßte sie ihre Lippen auf Fentons Wange, schob seine Perücke beiseite und flüsterte ihm ins Ohr:
»Ich werde doch heute nacht deine Gesellschaft haben, nicht wahr?«
»Ja, und jede Nacht!« sagte er laut und küßte sie so, daß sie ihm ihre Lippen öffnete.
Er dachte bei sich: Hat sie etwa immer noch Angst vor ihrer puritanischen Kinderfrau? Er setzte sich in Positur. »Mistreß Pamphlin«, sagte er mit kalter Stimme, die sie wie ein Peitschenschlag traf, »dreht Euch um und seht mich an.« Mrs. Pamphlin stellte den Teller auf eine Spiegelkonsole und wandte sich langsam um. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt.
»Ich habe Euch«, sagte Fenton, »vor den üblen Folgen gewarnt, die Eurer harren, wenn Ihr noch ein einziges Wort von Eurem puritanischen Geplärre zu meiner Frau sagt. Habt Ihr das etwa getan?«
»Nein, nein!« rief Lydia. »Ich habe mich schon im stillen darüber gewundert. Im tiefsten Herzen ist sie, glaube ich, ganz freundlich.«
»Dann habt Ihr wohl daran gedacht«, sagte er zu der starren Mrs. Pamphlin. »Denkt daran, daß Ihr sie künftig damit verschont. Nun könnt Ihr gehen.«
Mrs. Pamphlin marschierte aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
»Liebes Kind«, sagte Fenton sanft, »du darfst dich nicht von diesen Leuten mit ihren verderblichen Torheiten in Angst und Schrecken jagen lassen! Ich - ich habe jetzt eine wichtige Affäre zu erledigen. Es handelt sich um die Dienstboten .«
»Ja, ich weiß. Nick, mein teuerster Gemahl, ich .«
»Aber ich werde so bald wie möglich wieder bei dir sein und dich nicht mehr verlassen!«
Immerhin verging eine Weile, bevor er, von Lydias Liebe erwärmt, das Zimmer verließ. Er eilte die Treppe hinunter zum Studierzimmer.
Dort brannten immer noch die drei Kerzen in dem silbernen Kandelaber auf dem dunklen, geschnitzten Schrank mit den Satyrköpfen. Im übrigen war aber eine Veränderung mit dem Raum vorgegangen. Big Tom lag jetzt der Länge nach vor dem leeren Kamin, heftig schnarchend. Nan Curtis, die dralle Küchenmagd, schlummerte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, in einem Sessel. Aber die Atmosphäre in der Nähe des Schrankes, wo Giles und Kitty Softcover standen, schien mit mörderischem Haß geladen zu sein.
»Ich muß um Entschuldigung bitten«, sagte Fenton, »weil ich länger fortgeblieben bin, als ich dachte. Giles, ist alles glatt gegangen?«
Giles ließ mit einem harten Ausdruck in seinem blassen Gesicht die Neunschwänzige Katze rasseln.
»Sir«, entgegnete er, »sie verlangten zu essen und zu trinken, und da habe ich es mir obgelegen sein lassen, kaltes Fleisch und Bier zu bestellen.«
»Gut! Habt ihr irgendwelche Beschwerden vorzubringen?« Er blickte sie der Reihe nach an. Nan Curtis, die bei seinen ersten Worten bereits aus dem Schlummer aufgeschreckt war, versetzte Big Tom einen ermunternden Tritt mit ihrer Filzpantine, und beide sprangen auf.
Kitty lehnte mit zusammengekniffenen Augen und verschränkten Armen an dem schwarzen Schrank. Ihr von Groll erfüllter Busen hob und senkte sich langsam. Das Kerzenlicht ließ ihr rotes Haar aufleuchten und warf die Schatten der langen Wimpern auf ihre Wangen.
»Ich hab' eine Beschwerde«, sagte sie schnippisch. Wiederum maß Fenton sie von Kopf bis Fuß und wunderte sich im stillen, warum er eine so tiefe Abneigung gegen sie empfand.
»Dieses versoffene Luder«, sagte sie und nickte scharf zu Giles hinüber, »hat sich mir genähert. Er nahm seine Hand, so .« Sie griff nach dem Saum ihres Rockes, aber Giles schnitt ihr scharf das Wort ab.
»Was das Mädchen sagt«, warf er dazwischen, »stimmt. Sie hat jedoch eine Bemerkung über Euch gemacht, Sir, die ich Euch mit Verlaub unter vier Augen wiederholen will.«
»Giles«, sagte Fenton, »sollte dies noch einmal vorkommen, wäre ich gezwungen, dich zu bestrafen.«
Kitty kreischte halb ungläubig, halb zornig: »Du willst ihn also nicht bestrafen?«
Trotz ihrer verworrenen Aussprache hatte Fenton jetzt deutlich gehört, daß sie ihn vor allen Anwesenden mit »du« angeredet hatte.
»Über die Bestrafungen werden wir noch reden, Frauenzimmer.« Fenton zog die Geldkatze aus seiner Tasche und warf sie Giles zu, der sie geschickt auffing. Dann zog er aus derselben Tasche das Päckchen Arsenik. »Du warst es, die dies Gift gekauft hat - hundertundvierunddreißig Gran! Nein«, fügte er abgespannt hinzu, »du brauchst deinen Kopf nicht anzustrengen, um es abzuleugnen. Ich war nämlich im >Blauen Mörser<. Nun sag mir eins: wer hat dich hingeschickt, um es zu kaufen?«
Es folgte ein langes Schweigen, während Kitty ihn immer noch eingehend mit zusammengekniffenen Augen betrachtete. »Du hast's nicht entdeckt«, sagte sie schließlich achselzuckend. »Wer kann's dann sagen?«
»Ich kann es sagen«, entgegnete Fenton mit vernichtender Ruhe. »Giles! Wir führen jetzt aus, was ich bestimmt habe. Geleite diese Leute nach unten in die Küche, wo uns Kitty eine Schale Sektmolke bereiten wird. Das Gift steckt bereits in einer der Zutaten. Und dann soll die Sektmolke von allen getrunken werden.« Dieses Mal protestierte Kitty nicht. Ihr kleiner Mund mit der geraden Unterlippe und der herzförmig geschwungenen Oberlippe verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. Fenton wußte, daß er am Vormittag, als ihn die Angst um Lydia zur Raserei trieb, allen denen gegenüber zu streng gewesen war, die er für treue Dienstboten hielt.
»Fürchtet euch nicht«, sagte er zu ihnen, indem er sie der Reihe nach anblickte. »Euch wird kein Leid geschehen.« Giles stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm den Kandelaber mit den brennenden Kerzen vom Schrank. Nan Curtis ging zuerst hinaus, dann folgte Big Tom, der zum Gruß die Hand an die Stirn legte, und zum Schluß Kitty mit ausdruckslosem Gesicht. Giles' Leuchter übergroß sie alle mit einem goldenen Schimmer. »Halt!« rief Fenton, als Giles ihm die Küchentreppe hinableuchten wollte.
Er hatte eilige Schritte auf der oberen Treppe gehört, und dann sah er Lydia in ihrem Abendkleid, umrahmt von dem goldenen Glanz der Kerzen.
»Nick, ich möchte mit Euch gehen«, bat sie. »Ich habe einen Grund dafür, wahrhaftig!«
Fentons Nase hatte bereits den üblen Geruch, der von unten heraufzog, wahrgenommen. Er fragte sich im stillen, ob er es selbst wohl aushalten könne.
»Ihr könnt nicht nach unten gehen! Außerdem bedürft Ihr der Ruhe. Laßt Giles Euch wieder in Euer Zimmer leuchten!«
»Wie Ihr wollt«, sagte Lydia und wandte sich ab.
»Giles, gib mir die Peitsche und begleite Mylady auf ihr Zimmer. Wenn du zurückkommst, bring irgendeine Uhr mit.« Als das Klappern der Absätze verhallte, tastete sich Fenton die Küchentreppe hinunter. Der Gestank war überwältigend. In der Tiefe entdeckte er den Schimmer von Unschlittlampen mit schwimmenden Dochten - Wachskerzen waren für die Dienstboten viel zu teuer - und die rote Glut eines noch nicht erloschenen Kohlenfeuers. Die Wand zu seiner Rechten bestand aus rohen Ziegelsteinen, während die zu seiner Linken mit schmutziger Tünche bedeckt war.
Plötzlich schrak er zusammen, und sein Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf. Irgend jemand, der an der rechten Wand gelauert hatte, jemand, der noch unsichtbar war, drängte sich an ihn heran. Arme umschlangen ihn, und kleine, kalte Lippen preßten sich an seinen Hals.
»Ich weiß, du hast nur Theater gespielt«, flüsterte Kittys Stimme sehr leise, mit heimlichem Frohlocken.
Fenton warf sie von sich und schleuderte sie gegen die getünchte Wand zu seiner Linken. Der Aufprall verursachte kein Geräusch; es rieselte nur ein wenig alter Mörtel hinab.
»Ich lasse mich gern schlagen; ich lasse mich gern peitschen, nicht wahr?« flüsterte sie, und ihre sehr großen Augen glitzerten unschuldsvoll. Sie deutete auf die mit Stahlspitzen versehenen Riemen der Peitsche in Fentons Hand. »Aber nicht mit dem Ding!«
Fenton stand im Begriff, sie anzubrüllen und nach unten zu beordern, doch ihr Geflüster hielt ihn davon ab.
»Das war ein ulkiger Trick, nicht wahr, als du die Brander-Meg gegenüber deiner Frau einquartiertest, so daß jede mit Luchsaugen über die andere wachte und sie uns beide darüber vergaßen.«
Hier lag also die Erklärung für Sir Nicks merkwürdiges Verhalten. Aber was in aller Welt konnte Sir Nick bloß zu dieser. dieser Schneppe hingezogen haben?
»Sieh mal her!« unterbrach Kittys Geflüster seine Gedanken. Fenton wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, er könne weitere Informationen verpassen. Sie standen ungefähr auf halber Höhe der Treppe. Die schwachen gelben Talglampen und die rotglühenden Kohlen warfen ihren Lichtschimmer zu ihnen empor. Abermals schlängelte sich Kitty an ihn heran, diesmal aber mit gesenktem Gesicht.
»Sieh her«, fuhr sie fort, »wie dicht ich das Geschenk, das du mir gabst, am Körper trage.«
Sie beugte sich vor und deutete mit dem Finger in den Ausschnitt ihrer groben Bluse. An einem schmutzigen, um ihren Hals geschlungenen Band baumelte zwischen ihren Brüsten ein mit drei Reihen sehr schöner Diamanten besetzter Ring in Form einer Schlange, deren Windungen boshaft glitzerten.
»Ich soll dir den gegeben haben?«
»Natürlich. Wer sonst?«
Sie hatte sich direkt vor ihn hingestellt. Fenton gab ihr keinen Schubs, obwohl seine Armmuskeln sich schon spannten. Kitty selbst rutschte mit ihren Filzpantinen aus, fiel mit lautem Aufschrei hintenüber und rollte dann schwerfällig bis zum Fuß der Treppe, wo sie unversehrt landete und wütend nach oben blickte. Ein schallendes Gelächter, das von Big Toms Baß beherrscht wurde, ertönte in der Küche. Die Treppe hinunterzufallen galt als ausgezeichneter Scherz.
Das Gelächter verstummte sofort, als Fenton erschien. Kitty stand auf und sprang leichtfüßig davon. Sie warf ihm einen seltsamen, aber triumphierenden Blick zu.
Die Küche war kein unterirdischer Raum, wie er erwartet hatte. Zwei staubige, mit schweren Eisenstangen verbarrikadierte Fenster gingen auf einen Hintergarten. Man konnte die Ställe erkennen.
Der ungeheure Kamin glich dem, den er im Speisehaus gesehen hatte. Töpfe und Kessel hingen dicht daneben. Ratten waren auch vorhanden. Fenton hörte sie rascheln. Ein langer, von einem zerfransten, abgelegten Gobelinstück bedeckter Tisch diente dem Personal als Eßtisch. An einer Wand befand sich eine hohe eichene Anrichte, auf der die trüben Unschlittlampen standen. Die Regale enthielten Schüsseln und Tassen, meistens aus Steingut; manche waren auch glasiert oder sogar aus Porzellan. Big Tom sprang plötzlich mit einem schweren Feuerhaken in der Hand an eine Ecke der Anrichte, und ein unbeschreibliches Geräusch ertönte. Triumphierend hielt er eine tote oder sterbende Ratte in die Höhe, mit der er seine Stirn berührte. »Bravo!« würgte Fenton hervor.
Zufrieden ging Big Tom zu einem halbhohen Brett, unter dem sich ein Abfallhaufen türmte. Darüber befand sich eine trichterförmige Vertiefung mit einem Abflußrohr, das einen Umfang wie ein Schornsteinaufsatz hatte. Big Tom war im Begriff, die tote Ratte auf den Abfallhaufen zu werfen, besann sich aber und ließ sie statt dessen in den Abfluß gleiten. Aus einem großen Eimer goß er etwas Wasser nach. Nan Curtis nickte ihm beifällig zu. »Nun«, rief Fenton, »laßt Kitty die Sektmolke zubereiten, wie es immer geschehen ist. Nan!«
»Gnädiger Herr?«
»Du sollst sie dabei beobachten. Stell dich neben sie und paß auf, daß alles genauso gemacht wird wie vorher.« Kitty, die ihren Kopf mit dem prachtvollen Haar hoch trug, benahm sich mit einer verächtlichen Unbefangenheit. Sie trat an die Anrichte und holte sich eine Schale mit Eiern, die sie auf den Eßtisch stellte. Dann nahm sie eine kleinere irdene Schüssel, ein Messer und eine Gabel aus der Schublade.
Während Nan Curtis aufmerksam dabeistand, öffnete Kitty vier Eier und begann sie mit der Gabel zu schlagen. Schritte wurden auf der Treppe hörbar, und Giles erschien im Türrahmen mit neuen Sorgenfalten im Gesicht und einer großen Uhr im Arm. Hinter ihm tauchte Lydia auf, die ihm über die Schulter blickte, ohne jedoch die Treppe ganz hinabzusteigen.
»Sir, Sir«, stöhnte Giles, »Eure Gemahlin hat mir eingeredet, daß Euer Wunsch, sie nicht in der Küche zu haben, sich nicht auf die Treppe beziehe.«
Lydia, die den dreiarmigen Leuchter in die Höhe hielt, blickte Fenton so treuherzig an, daß er nachgab. »Gut«, sagte er, obwohl er ihre Anwesenheit ganz und gar nicht schätzte.
»Ach, ja!« rief Lydia.
Während sich Lydia geruhsam auf der zweituntersten Stufe niederließ, ging Giles in die Küche und stellte seine Uhr auf die Anrichte, wo jeder sie sehen konnte.
»Mr. Giles?« murmelte Kitty, die inzwischen die Eier zu einer gelben Flüssigkeit geschlagen hatte.
Giles nahm sein Schlüsselbund und schloß einen Schrank auf, in dem das von der Herrschaft benutzte Porzellan auf Regalen stand. Er holte eine Porzellantrinkschale heraus, die mehr als ein halbes Liter faßte, und stellte sie auf den Tisch. Dann eilte er auf eine Tür zu, die wahrscheinlich zum Weinkeller führte.
»Milch!« rief Nan Curtis und holte mit zitternden Händen einen irdenen Krug von der Anrichte, dessen Inhalt durch eine umgestülpte Schüssel vor Fliegen und Insekten geschützt war. »Sie ist heute morgen frisch aus der Milchkammer geholt«, versicherte Nan. »Doch wenn sie sauer geworden sein sollte . « Ehe sie sich ihrer Handlung bewußt wurde, hatte sie den Krug an den Mund gesetzt und den Inhalt probiert.
»Gut! Sie ist noch süß«, sagte sie mit zitternder Stimme. Blitzartig wurde sie sich darüber klar, was sie getan hatte. Sie blickte entsetzt auf den Krug und dann auf ihre Hand, als ob sie, wie George, befürchte, daß sie vor ihren Augen schwarz anlaufe. »Es kann dir nicht schaden«, versicherte ihr Fenton. »Du hast nur einen kleinen Schluck getrunken.«
Bestürzung lief durch den heißen Raum. Die Luft dieser Küche war wohl mit ekelhaften Gerüchen geschwängert, aber noch ausgeprägter war die Gegenwart des Bösen. Und all das Böse war verkörpert in der kleinen Person von Kitty Softcover. Unbekümmert goß Kitty die flüssigen Eier in die hellbemalte Porzellanschale. Dann fügte sie die Milch hinzu und verrührte die Mischung. Giles, der inzwischen mit einer Literflasche Sekt zurückgekehrt war, öffnete diese mit einem Korkzieher und stellte sie auf den Tisch.
Aus einer zerknitterten, aber prallen Papiertüte nahm Kitty vier Stückchen Hutzucker und warf sie in die Schale. Dann goß sie nach Augenmaß ein Viertelliter Sekt hinzu. »Hier ist die Sektmolke«, sagte sie schnippisch. »Nun trinkt davon!«
Mit diesen Worten trat sie zurück. Das Pendel der großen Uhr tickte laut, aber so langsam, daß die Zeit stillzustehen schien. Fentons nächster Schritt war so unerwartet, daß alle zurückscheuten und Lydia die Hand auf den Mund preßte. Er warf Giles die schwere Neunschwänzige Katze zu. Dann hob er mit beiden Händen die bunte Trinkschale auf, setzte sie an den Mund und nahm einen tüchtigen Schluck. Aus seiner Hosentasche zog er das blutbefleckte Taschentuch, mit dem er sich im Wirtshaus zum »Teufel« gesäubert hatte, und wischte sich den Mund ab.
»Ich verlange von keinem meiner Dienstboten etwas, was ich nicht selber tun würde«, erklärte er.
Sie starrten sich gegenseitig an. Ein solcher Gebieter verwirrte sie nur. Seltsamerweise war es wieder einmal Big Tom, der zuerst verstand.
»Gut!« brummte er und zog seine Hosen in die Höhe. Dann griff er nach der Schale.
»Nein!« gebot Fenton scharf. »Zurücktreten!« Big Tom gehorchte verdutzt. »Keine andere Person soll davon trinken außer einer.« Er machte eine so gebieterische Geste, daß Kitty zum Tisch rannte.
»Los, du Schlampe, trink, wie ich es getan habe!« befahl er. Kitty zögerte. Ihre weitaufgerissen Augen blickten forschend in sein Gesicht. Plötzlich hob sie die Schale, nahm ebenfalls einen tüchtigen Schluck und setzte sie wieder hin. Dann trat sie mit verschränkten Armen an die Vorrichtung, die man im Notfall als Küchenausguß bezeichnen konnte.
Dann ist der Trank also nicht vergiftet, dachte Fenton, oder etwa doch?
Tick! machte das langsame, schwere Pendel, und nach einer unendlich langen Zeit tack!
Fenton war durch den Tisch von Kitty getrennt. Giles stand nicht weit von ihr. Sein Gesicht unter dem hochstehenden roten Haar war fast grün. Fenton wagte es nicht, Lydia anzusehen. »Ich fürchte«, sagte er, »wir müssen etwa fünfzehn Minuten warten, bis sich etwaige Schmerzen zeigen.« Lachend fügte er hinzu: »Nanu, sind euch allen die Kinnbacken gelähmt? So schlimm ist die Sache nicht! Irgend jemand kann doch sicher eine lustige Geschichte erzählen und uns dadurch ablenken, wie?« Big Tom, der sein Schüreisen stets bereithielt, machte wieder einen kolossalen Sprung und tötete eine Ratte. Alle fuhren erschreckt zusammen, und Big Tom schien überrascht und verletzt, als sie ihn wütend anblickten. Nur Lydia lächelte ihm anerkennend zu. Er warf die Ratte in das Abflußrohr hinter Kitty, die sich nicht einmal umblickte. Tick. Eine Pause, die sich dehnte wie ein Gummiband. Tack. Fenton prüfte in Gedanken noch einmal das Beweismaterial. In dieser Schale - davon war er felsenfest überzeugt - , befand sich Arsenik. Judith Pamphlin, die er nicht schätzte, der er aber Vertrauen schenkte, hatte geschworen, daß sie jeden Tag die Zubereitung der Molke überwacht und sie dann zu Lydia hinaufgetragen habe, ohne angehalten oder abgelenkt worden zu sein. Also gut. Dann mußte das Gift unbedingt in einer der Ingredienzen sein, da sich keiner heute daran zu schaffen gemacht hatte. Es sei denn, der Giftmischer habe ein paar Tage ausgesetzt, wie es auch schon vorgekommen war .
Fenton ließ seine Augen durch den Raum schweifen. Er blickte zur Uhr auf der Anrichte, auf das Geschirr und die langen Holzlöffel. Ein unbestimmtes Gefühl nagte an ihm, ein Gefühl, daß bei der Zubereitung der Sektmolke etwas unterlassen oder unbemerkt geblieben war.
Tick. Und wieder dehnte sich das Gummiband bis zum Tack. Wohl ein dutzendmal wurde er von rein imaginären Schmerzen gefoltert. Noch einmal wanderte sein Blick zur Uhr. Vierzehn Minuten. Dann plötzlich kam ihm ein Geistesblitz; es war, als habe der talggetränkte Zapfen einer Zunderbüchse über seinen Verstand gekratzt.
»Ha, ich hab's!« rief er laut. »Daran hat's gelegen!« Er eilte zur Anrichte und holte sich einen der langen Löffel, mit dem er die gelblichweiße Mischung in der Schale gründlich umrührte. Dann blickte er zu Kitty hinüber. »Komm hierher!«
Kitty näherte sich dem Tisch wie hypnotisiert. »Nun trink davon!« gebot Fenton. »Nein, du erst!«
»Trink, potz Geck und kein Ende! Bis zur Neige!«
»Ich will aber nicht!« Fentons rechte Hand fegte zum Degengriff. Zum erstenmal erbleichte Kitty.
»Ich werde trinken«, murmelte sie.
Fenton trat zurück. Kitty umfaßte die Schale mit beiden Händen und hob sie langsam an die Lippen. Im Handumdrehen machte sie eine halbe Wendung, rannte ein paar Schritte und goß den Inhalt in den Ausguß, wobei die Porzellanschale zerbrach. Kitty stand mit dem Rücken zu den anderen und beugte sich noch weiter vor. »Giles, gib ihr einen Hieb mit der Peitsche!« Die Riemen mit den Stahlspitzen zischten. Fenton empfand keine Skrupel, als sie Kittys Körper trafen. Kleine rote Flecke und Rinnsale zeigten sich auf der Rückseite von Kittys Bluse, bis ihr dickes Haar herabfiel und sie verdeckte. Sie sank mit dem Gesicht nach unten gegen den Abfallhaufen unter dem Ausguß. »Es genügt!« sagte Fenton gelassen. »Bis wir entscheiden, was geschehen soll.«
Er trat an die Anrichte und zog die zerknitterte Papiertüte hervor, aus der Kitty den Zucker genommen hatte. Er öffnete sie, und etwa fünfzehn Stückchen Hutzucker fielen auf den Tisch. »Hier steckt das einfache Geheimnis«, sagte er. »Und ich Trottel habe es nicht gemerkt! Ich habe euch gesagt, daß Arsenik ein weißes Pulver ist, ohne jeglichen Geschmack und Geruch. Verstehst du, worauf ich hinauswill, Giles?«
»Fürwahr, Sir! Aber.«
»Man braucht nur mit wenig Wasser eine dicke Arseniklösung zu bereiten«, fuhr Fenton voller Abscheu fort, »und den Zucker hineinzutauchen, ganz kurz, damit er nicht schmilzt. Das Arsenik wird dann absorbiert, und wenn ein weißer Überzug bleibt, nun, so läßt er sich nicht von der Farbe des Zuckers unterscheiden.« Er konnte die abergläubische Furcht vor Gift in den Augen der Umstehenden lesen, als sie langsam zurückwichen. »Ihr alle habt Kitty bei ihren Verrichtungen beobachtet«, fügte er hinzu. »Als sie die Mischung umrührte - entsinnt ihr euch noch? -, waren nur Milch und Eier in der Schale. Sie hatte noch nicht die vergifteten Zuckerklümpchen hineingeworfen. Später hat sie die Sektmolke nicht mehr umgerührt. Daher...«
»Halt, ich hab's!« rief Giles. »Die Zuckerstücke sinken auf den Grund und lassen das Gift noch nicht sofort ausströmen. Ich erinnere mich jetzt: Ihr und das Mädchen habt sofort getrunken, und zwar von der oberen Schicht. Deshalb wurde kein Schaden angerichtet. Das wußte das Mädchen ganz gut.« Fenton nickte.
»Giles«, sagte er während er den Zucker wieder in das Papier wickelte, »ich lasse dies in deiner Obhut. Bewahre es gut auf. Ein Dutzend Stücke, auf einmal genommen, könnten sehr wohl den Tod herbeiführen. Hier, nimm es.«
»Sir, ich ...«, begann Giles, als er zögernd das Päckchen mit dem Zucker in Empfang nahm.
Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Nun, Sir«, platzte er heraus, »dies ist eine Sache für den Friedensrichter, dies bedeutet den Galgen in Tyburn!« Kitty, die trotz ihrer Schmerzen immer noch nicht geduckt war, richtete sich mühsam wieder auf und drehte sich um. »So, einem Amtskehr wollt ihr mich übergeben, wie?« schrie sie, einen Ausdruck für Friedensrichter aus der Gaunersprache wählend. »Was ich nicht alles einem Amtskehr erzählen könnte ...!« Giles wollte wieder die Peitsche heben. Doch Fentons Hand hielt ihn zurück. Kitty hatte keinen Blick für Fenton oder Giles. Sie blickte unverwandt auf Lydia, und nackter Haß sprach aus ihren Augen.
Lydia, eine Frau ihrer Zeit und ihrer Generation, hatte sich nicht weiter aufgeregt über das, was sie sah, hörte oder sogar roch. Jetzt hob sie den Kopf, die Wangen ein wenig gerötet und die Augenlider gesenkt. Sie war durchaus keine herrische Natur und wünschte es auch nicht zu sein. Gegen Kitty hegte sie keinen besonderen Groll wegen des Vergiftungsversuchs. So etwas kam vor; das war nun mal der Lauf der Dinge. Nein, in den Augen unter den gesenkten Lidern lag etwas anderes: eine schaudernde Abneigung gegen die Rivalin.
»Wenn du den Diamantring meinst«, sagte sie mit kalter Stimme zu Kitty, »den du mir gestohlen hast.«
»Gestohlen?« schrie Kitty. »Euer Mann .«
»Du lügst; denn ich habe gesehen, wie du ihn stahlst. Und wahrlich, er gehört mir, da mein Name darin eingraviert ist. Aber, bitte, behalte den Ring. Ich möchte ihn nicht wieder tragen. Selbst ein Ring kann . besudelt werden.«
Bei diesen Worten warf Lydia ihrem Mann einen fast anbetungsvollen Blick zu. Fenton war erstaunt.
»Teuerster Gemahl«, sagte sie, »ich habe gesprochen, weil ich dazu gezwungen war. Nun macht mit ihr, was Ihr wollt.«
Die anderen Dienstboten starrten Kitty haßerfüllt an. Giles nahm den Griff der Peitsche fester in die Hand. Big Tom betrachtete den schweren Feuerhaken und klopfte sich damit auf die Handfläche. Kitty sah sie blitzschnell der Reihe nach an.
»Gib ihr.«, begann Fenton und brach angewidert ab. Wie konnte er wissen, was Sir Nick angestellt hatte? »Gib ihr. nein, verdammt noch mal! Ich . ich kann eine Frau nicht peitschen lassen. Laß es gut sein!«
»Sir«, sagte Giles, »nicht weit von hier wohnt ein strenger, redlicher Richter namens .«
Fenton wehrte ab. »Nein, ich will keinen aufsehenerregenden Skandal, auch keine von euren schmutzigen Galgenszenen. Ob die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt oder nicht, schließlich ist niemand gestorben. Gib ihr. gib ihr ein paar Goldstücke, und setze sie innerhalb einer Stunde auf die Straße. Sie hat einen wertvollen Ring, den sie auf den Wunsch meiner Frau behalten mag. Aber sie darf nicht zurückkehren. Wir haben ja wohl Hunde, nicht wahr?«
»Vier Doggen, Sir, die auf den Mann dressiert sind. Whiteboy, der Terrier, hat Räude und kann heute abend keine Ratten jagen.«
»Das genügt. Sollte sie versuchen, wieder ins Haus zu gelangen, hetzt die Hunde auf sie. Das wäre alles. Ich wünsche euch gute Nacht.«
Er hob den silbernen Kerzenleuchter von der Stufe und leuchtete Lydia die Treppe hinauf. Die vier in der Küche waren sprachlos vor Staunen.
Fenton, der in der einen Hand das Licht trug und die andere um Lydia geschlungen hatte, wurde von tausend Qualen heimgesucht.
»Ich hätte alles drum gegeben«, gestand er unglücklich, »wenn ich dir diese Szene da unten hätte ersparen können.« Er spürte, wie sie ihn erstaunt ansah.
»Aber Nick!« Sie senkte die Stimme zu einem Geflüster. »Da unten habe ich dich gerade aufs höchste bewundert. In einer halben Stunde bist du diesem Giftgeheimnis auf die Spur gekommen. Und - und kein Hausherr in London wäre so milde bei der Bestrafung gewesen.«
»Lydia, dieser Ring. ich .«
»Still! Ich denke nicht mehr daran.«
»Aber ich kann es nicht erklären. Es war nicht mein eigentliches Ich.«
»Und bin ich mir dessen nicht bewußt? Ich kenne dich .« Lydia brach ab und grübelte. »Oder kenne ich dich etwa nicht? Seltsam! Doch der eine Nick, den ich bis zum Wahnsinn liebe, ist der, dem ich gestern abend und heute morgen und an diesem Abend begegnet bin. Du bist so . ach, nein, ich kann's nicht sagen.«
»Es bedarf auch keiner Worte.«
Lydia blickte sich verstohlen im Flur um, als sie vor ihrer Tür standen. Es war, als halte sie Ausschau nach einer lauernden Judith Pamphlin.
»Nick«, flüsterte sie, »ich brauche doch heute abend keine Zofe, nicht wahr? Dieses Gewand ist ganz leicht aufzumachen, und das übrige . nun!« Lydia errötete heftig, aber ihre Augen strahlten, als sie hastig fortfuhr: »Nick, Nick, müssen wir unbedingt erst noch zu Abend essen?«
»Nein! Nein! Nein!« Und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Im Hause erloschen bald alle Lichter.
Lydia und Fenton konnten ihre Leidenschaft nicht länger eindämmen. Sie verbrachten eine maßlos wilde, ungestüme Nacht. Einmal kam Fenton flüchtig der Gedanke, daß dieses Puritanergeschöpf mehr Erfahrung besaß als die meisten anderen Frauen. Ganz kurz verwünschte er seine zweite Seele, die an Meg hing, aber bald vom Gefühl für Lydia überschwemmt wurde. Im Morgengrauen, als beide gerade in einen erschöpften Schlaf sinken wollten, umklammerte Lydia ihn leidenschaftlich und brach in heftiges Schluchzen aus. Er schwieg, und bald darauf war sie eingeschlummert.
Nach einer Weile schlief er ebenfalls ein. Draußen in dem Rankenwerk zirpten die Vögel. In das Grau des Himmels mischte sich ein geisterhaftes Weiß. Und so glitten die beiden Menschen aus dieser Nacht in eine von Glück erfüllte Zeit.