XXIII

»Zieht die Vorhänge zu!« rief eine Stimme vom Wakefield Tower. »Noch einen letzten Humpen! Dann nehmen wir Abschied!« In dem kalten, von Schatten gestreiften Mondlicht blickte Fenton Meg an.

»Ich bin jetzt nicht zu Scherzen aufgelegt«, flüsterte er. »Aber, liebstes Herz, ich scherze nicht!«

»Es ist eine Lüge!« sagte Fenton.

Doch plötzlich ging ihm ein Licht auf. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.

»Ja, du verstehst!« Es war, als könnte Meg seine Gedanken lesen. »Du warst es natürlich nicht selbst. Es war nicht dein eigenes Ich, sondern Sir Nick.

Schon früher einmal hattest du ein ähnliches Erlebnis, nämlich beim Apotheker in der Totenmannsgasse. Um meinetwillen erfüllte dich Furcht - beim Gedanken, ich könnte eine Giftmörderin sein. Entsinnst du dich? Du gerietest darüber in Wut und verlorst für zehn Minuten dein Gedächtnis. Sir Nicks Seele triumphierte. Du verwandeltest dich in Sir Nick und tobtest dich aus. Mein lieber, lieber Nick, genauso war es bei deiner Rückkehr aus dem Whitehall-Palast. Deiner eigenen Uhr zufolge kehrtest du um halb neun heim. Du warst benommen und sehr erregt über Lydias vermeintliche Falschheit - eine leichte Beute für Sir Nick, falls der Zorn in dir mächtig werden sollte. Zu Hause bist du dann gleich in dein Schlafzimmer geeilt, wo du dich in einen Sessel ans offene Fenster setztest. Habe ich recht?«

Fenton nickte. Es fiel ihm schwer, die Lippen zu bewegen. »Aber Lydia«, stieß er endlich heiser hervor, »wurde doch schon langsam vergiftet, noch ehe ich Sir Nicks Gestalt annahm. Ich habe sie sogar geheilt! Vorher war ich ja überhaupt nicht hier! Wer hat denn da.?«

»Oh, kannst du es nicht erraten?«

»Sir Nick etwa?«

»Ja!« erwiderte Meg. »Wenn er auch Kitty zum Apotheker schickte, um das Gift zu kaufen, und ihre Hand das Gift in die Sektmolke mischte, wie du mit scharfem Verstand bewiesen hast, so war Sir Nick doch der Schuldige! Bist du nun überzeugt?«

»Ich . ich .«

»Hör mich an! Sir Nick, der wahre Sir Nick war begierig auf Kitty und ihre höchst seltsame Art von Liebe. Und hatte Kitty ihn nicht gedrängt, sich seiner Frau und auch der wahren Meg York zu entledigen? Und hatte sie nicht mit ihrer schmutzigen Zunge dem Apotheker Meg York als die Frau beschrieben, die sie geschickt hatte, um das Gift zu kaufen?«

»Aber ich ... nachdem ich von Whitehall zurückkehrte. saß doch immer an dem Fenster meines Zimmers .«

»Nun besinne dich einmal! Du warst kurz nach halb neun in deinem Schlafzimmer. Seit einiger Zeit standen immer eine Karaffe mit Rotwein und ein Becher auf deinem Ankleidetisch. Nun sprich! War die Karaffe bis zum Stöpsel gefüllt oder nicht?«

Fenton wich Megs tränennassen Augen aus. Er dachte scharf nach. »Sie war bis zum Stöpsel gefüllt«, sagte er.

»Ich nahm Karaffe und Becher, um zu trinken, stellte aber beides wieder hin und verzichtete auf den Trunk.«

Die Szene entrollte sich in grauenhafter Klarheit vor seinen Augen.

»Ich setzte mich hin«, murmelte Fenton, dessen Stimme allmählich lauter wurde. »Für eine Weile dachte ich über alle Verdachtsgründe nach, die sich gegen Lydia erheben ließen. Doch ich konnte es einfach nicht für möglich halten. In einem Wutanfall sprang ich vom Stuhl auf.«

»Da haben wir's ja«, flüsterte Meg. »Doch ich nahm wieder Platz. Ich .«

»Eine Zeitlang war es dir dunkel vor Augen«, flüsterte Meg kaum hörbar und legte die Arme um ihn. »Aber in deiner Wut hatte Sir Nicks Seele wieder triumphiert wie damals im Laden des Apothekers. In den finsteren zehn Minuten, als du nicht wußtest, was du tatst, ist der abscheuliche Giftmord geschehen.«

»Wo aber war das Gift? Da! Damit fällt das Kartenhaus zusammen!«

»Liebes Herz, nein! Hast du den schwarzen Samtanzug mit dem getrockneten Blut auf dem Ärmeln vergessen, den du an jenem ersten Tag nach dem Pakt mit dem Teufel trugst? Er hing immer noch im Kleiderschrank deines Schlafzimmers. Keiner hatte ihn angerührt, wie Giles dir sagte, als du ihn später anziehen wolltest. Du selbst hattest vergessen - Sir Nick jedoch nicht -, daß sich in einer Rocktasche ein Apothekerpäckchen mit hundertdreißig Gran Arsenik befand.«

Zum erstenmal begann Fenton heftig zu zittern. Mit gesenktem Kopf zwang sich Meg, Worte zu äußern, die ihr weh taten. »Als dein Ich dich verlassen hatte, goß Sir Nick einen Becher Wein aus der Karaffe und schüttete etwa neunzig Gran Arsenik aus dem Päckchen hinein. Dann ging er mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das seine bösen Absichten verdeckte, in Lydias Zimmer. Wer würde ihn schon sehen, da die Dienstboten alle beim Abendessen waren?

Doch Kitty Softcover lauerte ganz in der Nähe, nämlich an der Tür des gegenüberliegenden Raumes, das einst mein Zimmer war. Kitty, die einen Schlüssel für die Haustür besaß, hatte sich kurz nach dir eingeschlichen. Sie wählte diese frühe Stunde, weil die Dienstboten in der Küche waren. Selbst Sam, den du kurz zuvor weggeschickt hattest, war nicht auf seinem Posten an der Tür. Kitty wollte mit ihren Krallen in Lydias Juwelenschatullen greifen. Wie konnte sie ahnen, daß Lydia schon so ungewöhnlich früh zu Bett gehen würde? So kam es, daß Kitty das Zimmer nicht betreten konnte. Doch sie sah Sir Nick, da er die Tür halb offenließ. Die Zeit war kurz, so sehr kurz! Du hieltest dich nur zwei Minuten in Lydias Schlafzimmer auf, das du zwanzig Minuten vor neun betreten hattest. Nun stelle dir bitte die Fragen vor, die ein schlauer Richter äußern würde!«

Fenton schauerte vor Entsetzen, und sie schloß ihn fester in die Arme. »Ja«, sagte er, »ich glaube allmählich .«

»Dein Einfluß auf Lydia war unbegrenzt. Sie liebte dich und gehorchte dir in jeder Beziehung. Von welcher anderen Hand außer der deinen hätte sie wohl irgendeinen Bissen oder Trunk entgegengenommen?«

»Ja, es wird mir bitter klar!«

»Was für ein anderer Trunk außer dem Rotwein in deinem Zimmer hätte sie vergiften können? Jeder Tropfen Wein war, wie Giles sagte, im Weinkeller eingeschlossen. Wie er ebenfalls erwähnte, war nicht einmal ein Gläschen Gerstensaft im Hause. Und dies ist die Wahrheit, wenn sie auch von den Lippen des Teufels stammt!«

Wenn Meg von Lydia sprach, konnte Fenton manchmal einen Hauch ihrer heißen Eifersucht spüren, obwohl es ihr meistens gelang, sie zu unterdrücken. Auch sah er jetzt, was er in seiner Blindheit nie zuvor bemerkt hatte: Er war nicht die einzige Person, die sich gegen die Herrschaft einer anderen Seele wehren mußte. Mary Grenville mußte ja auch die Seele der hübschen, aber ungebärdigen Meg York in sich haben.

Er und Meg waren sich sehr ähnlich, und das war auch stets in ihrem Verhalten zum Ausdruck gekommen. »Was für Worte«, fragte er, »sind in jenen zwei Minuten, die ich in Lydias Zimmer verbrachte, zwischen Lydia und mir. oder vielmehr Sir Nick gewechselt worden?«

»Das sage ich dir nicht! Nie und nimmer!«

Von der Menagerie her erschallte wieder das Gebrüll des Löwen. Sie beobachteten, wie die Wächter mit ihren Laternen hin und her gingen, um die Tiere zu beruhigen. Aber Meg war wieder von Furcht ergriffen.

»Mein Gott, die Wärter und Soldaten werden bald hier sein! Sie haben vom letzten Humpen gesprochen.«

»Noch ein Wort«, sagte Fenton. »Ich weiß nicht, warum es so ist, aber du gehörst mir, und ich halte dich. Wenn ich zum Schiff gehe, kommst du mit mir!«

Meg warf den Kopf in den Nacken und betrachtete ihn mit einem wilden Blick; abermals traten ihr Tränen in die Augen.

»Vieles von dem, was vorgefallen ist«, fuhr Fenton überstürzt fort, »kann ich mir jetzt selbst ausmalen. Sir Nick ging mit dem vergifteten Becher aus Lydias Zimmer in sein eigenes, wo er ihn mit Wasser ausspülte und dieses aus dem Fenster schüttete. Nicke mit dem Kopf, wenn es stimmt. Gut!

Doch halt! Das Gift wurde zwanzig Minuten vor neun geschluckt. Konnte Lydia da schon um Mitternacht sterben? Nein, das ist eine Unmögl.

Ha, ich habe eins vergessen! Neunzig Gran Arsenik! Wenn das Opfer schon ein paar Stunden durch Schmerzen geschwächt ist, kann einer der plötzlich und heftig auftretenden Magenkrämpfe den Tod durch Schock herbeiführen.

Dann noch eins! Eine solche Riesenmenge von Arsenik würde die ersten Schmerzen schon innerhalb von acht Minuten hervorrufen, und bei Lydia wirkte das Gift noch schneller als bei den meisten Menschen. Als Judith Pamphlin die Treppe heraufkam, hörte sie Lydia tatsächlich stöhnen, noch ehe ich aus meinem Trancezustand erwachte. Und das war wohl gegen zehn Minuten vor neun. Stimmt's?«

»So sagt der Teufel.«

»Und Lydia .« Fenton zögerte. »Lydia muß gewiß gemerkt haben, wer ihr das Gift verabreicht hat. Und doch sagte sie zu Judith Pamphlin nur, daß sie mich zu sprechen wünsche, und kein Wort davon, daß ich mit dem Weinbecher zu ihr gekommen war. Sie machte kein Aufheben, Meg. Nicht einmal, als sie starb.«

»Das gebe ich zu«, sagte Meg und senkte schluchzend den Kopf. »Zum Teil lag es daran, daß sie. aber nein, ich will nicht mehr von ihrer Liebe sprechen, ein für allemal nicht! Zum anderen hielt sie es für eine gerechte Strafe des Himmels, da sie ja wirklich einmal einen Brief abgesandt hatte, um dich zu verraten.«

»Ich habe sie getötet, Meg.«

»Nein, das hast du nicht getan!« stieß sie zähneknirschend hervor. »Ich kann es beweisen . ich kann es an Hand eines Geheimnisses beweisen. Als Sir Nick schließlich diese letzte verruchte Tat beging« - ihre Stimme sank zu einem Geflüster herab, »wurde ihm die Seele aus dem Leib gerissen, noch ehe du die Augen öffnetest. Seine Seele wurde entführt.«

»Vom Teufel?«

»Nein, dann wärest du tot. Von einem« - ihr Blick schweifte angstvoll hin und her-, »von dem ich nicht zu sprechen wage. Aber seit jenem Augenblick hat Sir Nicks Seele dich verlassen. Die Seele, die du nun besitzt, gehört Nicholas Fenton aus Cambridge. Dennoch wirst du von der Menschheit verfolgt. Kitty, die Köchin .«

»Hätte Kitty, die Dirne von Alsatia, die, wie ich annehme, vielen Richtern bekannt ist, es gewagt, mich des Mordes zu bezichtigen? Und schenkte man ihr Glauben, wenn es so wäre?«

»Was! Unter dem Schutz von Mylord Shaftesbury und seinem Green-Ribbon-Klub? Man hat ihr bereits geglaubt. Sie geht, mit Juwelen geschmückt, einher und wird von beherzten Degenfechtern, beschirmt. Der Plan, dich dem Schutze des Königs zu entreißen, ist fertig.«

»Und der König?«

»Oh, der König wird nachgeben. Wie immer, wenn das Verlangen der Öffentlichkeit zu groß wird. Hast du in einem anderen Zusammenhang ihm das nicht selbst ins Gesicht gesagt?« Meg hob die Arme in stummer, leidenschaftlicher Qual. »List und Betrug!« rief sie. »Stets bist du betrogen worden seit deinem falschen Pakt mit dem Teufel. Sehr wohl konnte er auf alle deine >Bedingungen< im wörtlichen Sinne eingehen. Denn nicht er selbst würde ja das tun, was dir angetan werden sollte. Es war eben von der Geschichte bestimmt. Seine Wutanfälle rührten nicht von deinen >Bedingungen< her; er war zornig, weil du ihn verhöhntest. Du hast seinen Zorn nicht richtig gedeutet. Und dennoch hast du ihn geschlagen. - Nanu, was ist dir?«

»Giles' Bericht«, sagte Fenton. »Auch ein Betrug. Und noch nicht einmal geschrieben! Und warum wird er geschrieben? Nun, damit die Nachwelt - wenn Giles durch Bestechung alle Plakate oder Broschüren und sogar die Newgate-Aufzeichnungen vernichtet hat -, nicht einen alten Namen geschändet sehen soll. Die Nachwelt soll wohl von einem Mord lesen, wobei ganze Seiten absichtlich ausgelassen sind, aber auch von einem guten Sir Nick, der viele Jahre später stirbt. Es sieht so aus, als ob ich letzten Endes doch noch gehängt würde.«

»Sprich nicht so!« sagte Meg. »Das soll nicht geschehen, wenn du wie einst die Kühnheit besitzt, auszuziehen und den Lauf der Geschichte zu ändern. Hast du noch diese Verwegenheit?« Die Brise, die noch in den Bäumen auf dem Tower-Anger rauschte, blies Fenton kühl und erfrischend ins Gesicht; es war wie ein Sprung in kaltes Wasser.

»Ja!« rief er mit einem glücklichen Lächeln und schlug auf seine Degenscheide. »Bist du bereit?«

»Bereit?«

»Mich zu begleiten; was sonst? Verdammt! Noch habe ich es nicht erlebt, daß du ängstlich vor einer kühnen Tat zurückschrecktest. Jetzt bin ich es, der zur Eile drängt!« Meg schlug ihr Cape zurück.

»Ich war es«, stieß sie hervor, »die den König überredete, daß ich mit dir gehen müsse. Unter meinem Hemd trage ich einen Gürtel mit wasserdichten Taschen, die kostbare Edelsteine als Zahlungsmittel und einen Brief von Seiner Majestät an König Ludwig von Frankreich enthalten. Doch als ich dich sah, war ich entschlossen, hierzubleiben, wenn du mich nicht bitten würdest.«

»Dann bitte ich dich jetzt!«

»Aus Liebe?«

»Ja! Aber davon sprechen wir, wenn wir in Sicherheit sind. Horch! Man hört nichts mehr von dem Trinkgelage im Wakefield Tower. Sie brechen wohl auf.«

»Ich bin immer noch ein Geschöpf des Teufels«, sagte Meg, die ihren Tränen nicht mehr Einhalt gebieten konnte. »Ob Meg York oder Mary Grenville, ich bin immer noch.«

Fenton, der entschlossen auf die Tür zugegangen war, drehte sich um.

»Glaubst du etwa, daß ich, der ich mich selbst mit dem Teufel abgegeben habe, einen Pfifferling danach frage, ob du seine Dienerin bist oder nicht? Du kannst jedoch nicht in Cape und Kleid schwimmen. Zieh die Sachen aus!«

Nun war es Fenton, der die Uhr ticken hörte und spürte, wie die Minuten entflohen.

Wenn man Meg hier fand, dachte er, würde sie gleich ihm Mylord Shaftesbury in die Hände fallen.

Doch Meg zögerte immer noch. Sie schüttelte ihre Locken und warf einen hastigen, ängstlichen Blick auf die Tür. Fenton bot seine ganze Willenskraft auf.

»Fürchtest du etwa den Teufel?« Er sprach mit leiser Stimme. »Nun, verlaß dich drauf. Wir werden zusammen aus dem Tower fliehen, und wenn der Teufel selber draußen vor der Tür stände. Komm!«

Meg warf ihr Cape ab. Dann zerrte sie so lange an ihrem Gewand, bis sie sich daraus befreit hatte und nur mit einem seidenen Hemd bekleidet war.

Fenton öffnete behutsam die Tür, schloß sie wieder und eilte mit Meg davon.

Unten in der Tiefe klatschte das Wasser schäumend gegen die Mauer.

Fenton warf rasch einen Blick nach links. Im Wakefield Tower begannen Männer mit gelben Laternen die Treppe hinabzusteigen. »Eine Hand auf die Mauer«, flüsterte er und faßte Meg um die Mitte, um sie in eine der Schießscharten zu heben. »Dann spring! Vorsicht in der Strömung bei den Pfeilern, wenn du unter dem Kai durchschwimmst. Nun los!«

Meg, die im Begriff stand, seinen Worten Folge zu leisten, wandte zufällig den Kopf nach links und blieb wie gelähmt stehen. Fenton folgte ihrem Blick.

Etwa sieben Meter von ihm entfernt stand auf dem Postengang eine weißgkleidete Gestalt mit gezogenem Degen. Captain Duroc.

Der Mond, der fast senkrecht über ihnen stand, warf kurze Schatten. Er spielte den Augen einen Trick. Duroc wirkte in seiner hageren Länge wie ein Riese. Sein harter Unterkiefer war vorgeschoben, und die Zähne glänzten in einem höhnischen Grinsen. Er hob den rechten Arm mit dem Degen, so daß die Spitze direkt auf Fenton gerichtet war.

Es war, als stehe der Tod auf dem Postengang. »Nein, ich bin nicht der Teufel«, flüsterte seine harsche Stimme. »Auch bin ich nicht von Mylord Shaftesbury geschickt. Ich war ein Gast bei diesem Trinkgelage. Kleiner Edelmann! Süße Meg, meine Bettgef.«

»Hinauf! Ich helfe dir!« murmelte Fenton. »Dann spring hinunter!«

»Wirst du mir folgen?«

»Nach einer Weile.«

»Dann bleibe ich«, erwiderte Meg keuchend, »bis du bereit bist.« Captain Durocs leises, höhnisches Lachen drang über dem Zischen des Wassers zu ihnen.

»Sie werden nicht hinunterspringen. Nein, nein, nein!« sagte er. »Ich stehe so, daß ich im Nu über Sie herfallen kann, voila, falls Sie es versuchen!«

Fenton sprang von Megs Seite fort, und stand Duroc gegenüber. »Der kleine Edelmann«, seufzte Duroc, »will nicht fechten. Nein! Er will davonlaufen. Ich bin Duroc! Ich verstehe mich zu gut auf Ausfälle!«

Fenton zog seinen Degen. »Sei vorsichtig!« rief Meg.

Sie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien.

Denn sie stürmten aufeinander los, als wollte einer den anderen schnurstracks mit dem Degen durchstechen. Aber instinktiv machten beide innerhalb Stoßweite halt, so daß ihre Schuhe auf den Steinen knirschten.

Durocs Degenspitze stieß mit im Mondlicht blitzender Klinge vor, um Fentons linkes Auge zu durchbohren. Fenton, der diesen Stoß in ziemlicher Höhe mit einem »Klick« parierte, der bis zum Wakefield Tower hinüberschallte, hörte, wie Durocs Fuß ausglitt und stolperte. Er machte einen direkten Stoß auf Durocs Herz, und Duroc lachte heiser, als beide Männer wieder eine Parade einnahmen.

Der Pseudofranzose hatte ungeheuer lange Arme und Beine. Fentons Degenspitze war trotz des vollen Ausfalls nur bis auf zehn Zentimeter an die Brust des Gegners gekommen. »Sehen Sie, kleiner Edelmann?« keuchte sein Gegner. »Sie können nicht an mich heranreichen!«

»Nein?«

»Nein!«

Das wie ein Becher aus Stahlfiligran wirkende Stichblatt an Durocs Degen hatte an jeder Seite einen vorstehenden, hakenförmig gebogenen Stichblattzapfen. Fenton sah es im Mondlicht, als Duroc seinen Körper wie eine weiße Schlange vorstreckte für einen Stoß in die untere Bauchgegend. Fenton, der mit nach unten gehaltener Klinge parierte, schlug Durocs Degen zur Seite und machte einen Querstoß nach der Wade seines rechten vorgestreckten Beines. Spitze und Klinge rissen ein Stück vom weißen Strumpf und etwas Fleisch vom Rand der Wade, und das Blut quoll grauschwarz hervor. »Captain Duroc« stieß jetzt einen Fluch auf ungarisch aus und stürmte mit seiner ungeheuren Reichweite auf Fenton ein. Viermal stieß er zu, ohne daß ein Gegenstoß von Fenton folgte. Fenton lachte, und der Captain wurde wütend, weil er Fentons Parade nicht durchdringen konnte.

Fenton bereitete sich jetzt für den gefährlichsten Trick im Degenfechten vor.

Als Durocs Degen zum fünften Male vorschoß, fegte Fenton ihn mit seinem degenlosen linken Arm weit nach rechts und stieß gleichzeitig nach dem Herzen des Gegners.

Die Klinge drang ziemlich tief ein - aber nicht tief genug, um das harte Gewebe, von dem das Herz umgeben ist, zu durchbohren. Fenton sprang zurück und parierte den langen Stoß auf seine Stirn oberhalb des rechten Auges.

Dann gingen beide zurück und studierten sich gegenseitig. Das täuschende Mondlicht erschwerte den Kampf. Duroc, stark aus zwei schweren Wunden blutend, stand immer noch hoch über Fenton. Er schwankte zwar einmal, fiel aber nicht hin. Fenton wußte, daß Duroc nun nicht mehr nach den Augen zielen, sondern versuchen würde, eine Augenbraue zu verwunden, um ihn durch das Blut zu blenden und ihm dann in aller Muße den Garaus zu machen. Damit würde er nur einen alten, als fair angesehen Fechtertrick anwenden.

Aber Duroc wagte es noch nicht. Sein Atem wurde schwächer. Er mußte wie Fenton nach dem Herzen zielen. Fenton erinnerte sich in diesem Augenblick an eine Finte, auf die man erst im achtzehnten Jahrhundert kommen würde. In der Regel war es unmöglich, den Gegner zu entwaffnen. Doch .

»Nun sieh einer an!« bellte eine Stimme nicht weit von ihnen entfernt. »Da drüben auf dem Postengang steht Nick Fenton und ficht!«

»Wo?«

»Da drüben!«

»Bei Gott, wer ist die Frau? Spärlich bekleidet, aber eine Schönheit!«

Fenton wurde es beinahe übel. Musketenfeuer in dichter Nähe konnte.

Laternenschein fiel auf den sehr breiten Pfad zwischen der inneren und äußeren Mauer, und schwere Schritte hallten auf den Steinstufen in dem engen Bogen zwischen dem Bloody Tower und dem Wakefield Tower.

Fenton, dem Blick auf die Stichblattzapfen an Durocs Degen geheftet, machte plötzlich einen gewaltigen Sprung nach hinten, und Duroc stürzte ihm triumphierend nach. Sein Rücken glänzte weiß im Mondlicht, als er mit aller Wucht auf Fentons Herz zielte. Meg schrie auf. Denn Fenton stand völlig ungeschützt da und hatte beide Arme seitwärts ausgestreckt. Im letzten Augenblick sprang er nach rechts, so daß sein Degen an die Festungsmauer stieß.

Durocs Klinge fuhr glatt durch die linke Seite des Hemdes, und Fenton spürte nur die kalte Breitseite des Degens, die auf seiner Haut wie Feuer brannte.

Dann nahm der Kampf eine andere Wendung. Als der Bechergriff von Durocs Degen Fenton zwischen Arm und Seite schoß, sauste Fentons linker Arm herab und klemmte die Klinge fest für die Sekunde, die er brauchte, um seinen eigenen Degen senkrecht in den Haken des Stichblattzapfens zu stoßen, der von Durocs Stichblatt nach links herausragte, und dadurch den Degen des Gegners unbrauchbar zu machen. Denn Duroc konnte ihn nicht zurückziehen.

Zu spät und voller Entsetzen erkannte der Pseudofranzose diesen Trick. Fenton hob plötzlich den linken Arm und drehte die rechte Hand scharf nach rechts. Kein Mann in Durocs Stellung hätte bei dieser Hebelkraft den Degen halten können, Durocs Waffe segelte in silberglänzendem Flug über die Zinnen der Festungsmauer und fiel wirbelnd ins Wasser.

»Da ist der Teufel in Samt, Sir!« brüllte eine Stimme fast unheimlich dicht von unten. »Sapperlot, seht, was er getan hat!«

»Gefangener, steht still und ergebt Euch!« ertönte die barsche Stimme eines Soldaten.

Jetzt war ein lautes Getrappel auf dem ganzen breiten Pfad zu hören, und das helle, böse Licht von flackernden Pechfackeln züngelte herauf.

Fenton, den Degen zum letzten Stoß gehoben, blickte in die bestürzten, entsetzten Augen Durocs, des größten Eisenbeißers von ganz Europa, und er brachte es nicht fertig, ihm den Todesstoß zu versetzen. Sein Schwertarm zitterte. Duroc, der Fentons Blick falsch deutete, drehte sich um und rannte stolpernd davon. Fenton steckte mit unsicheren Fingern die blutbefleckte Waffe wieder in die Scheide und sah sich nach Meg um. Sie stand dicht hinter ihm, regungslos, die Hand auf einer der Zinnen. »Hinauf!« krächzte Fenton atemlos. »Und spring!« Ohne Zögern, ohne Beistand schwang sich Meg in die Lücke und sprang hinab. Er hörte das Aufklatschen in dem schäumenden Wasser.

Auf dem Pfad wurden Stimmen laut. »Musketen, Sir? Sie haben sie vom Middle Tower geholt!«

»Musketen! Eine Rotte hier am Pfad entlang! Schießt nach Herzenslust, wenn er. Gefangener! Wollt Ihr stillstehen und Euch ergeben?«

»Kommt und holt mich!« krächzte Fenton.

Der ganze Pfad wimmelte nun von Fackeln, die ihn blendeten. Das Licht machte ihn zu einer deutlichen Zielscheibe. Fenton kehrte sich um und zog sich zwischen zwei Zinnen hoch. Unten vom Pfad her ertönte ein Geräusch, das eher einer schweren Explosion als einem Musketenschuß glich. Gerade als die schwere Musketenkugel etwa vier Meter von ihm entfernt in die Brustwehr schlug, verschwand er mit einem Hechtsprung in der Tiefe. Hechtsprung.

Zu spät dachte er daran, daß der Kai mit seiner Batterie von Geschützen zu nahe an der Mauer errichtet war, um einen Hechtsprung aus beträchtlicher Höhe zu gestatten. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, als das weißgefleckte Wasser plötzlich vor ihm auftauchte. Er glitt so dicht am Kai ins Wasser, daß die scharfe Kante ihm ein Stück vom Schuh abriß und sein Gelenk schrammte. Der Schock des kalten Elements wirkte wie ein Hammerschlag.

Sobald er aus der dunklen Tiefe wieder an die Oberfläche kam, schleuderte ihn die Strömung mit der Schulter gegen einen der Kaipfeiler. Er schwamm um Hindernisse herum und durch allerlei übelriechenden Unrat. Die Flut hatte noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, und die Strömung sah gefährlicher aus, als sie in Wirklichkeit war.

Fenton streifte beide Schuhe ab, als er vom Kai hinweg in das helle Mondlicht hinausschwamm. Seine jugendliche Kraft und das flotte Kraulen brachten ihn mit auffallender Geschwindigkeit voran. Vor sich sah er etwas Weißes aufblitzen: es war Meg, die in aller Hast den beiden grünen Schiffslaternen zustrebte. Und mit welcher Freude erfüllte ihn dieser Anblick!

Der kalte Wind schien umgesprungen zu sein. Fenton versuchte, noch schneller zu schwimmen, und bohrte den Kopf seitwärts ins Wasser, um Luft schöpfen zu können. Dann brach hinter ihm auf der Mauer des Towers plötzlich ein heftiges Musketenfeuer aus. Eine Kugel schlug neben ihm aufs Wasser und hüpfte auf den Wellen hin.

»Schwimm unter Wasser!« rief er Meg zu.

Er selbst tauchte ziemlich tief und schwamm so lange unter Wasser, bis ihm beinahe die Lungen platzten. Er kam vorsichtig an die Oberfläche und riskierte einen Blick nach hinten. Das Gewehrfeuer war eingestellt. Aber zwischen den Geschützen auf dem Kai bewegten sich Gestalten mit langen, glimmenden, um den Arm gewickelten Zündschnüren. Fenton blickte nach vorn.

Zu seinem Erstaunen schimmerte die Prince Rupert nicht weit von ihm entfernt durch das Halbdunkel der Nacht. Das Licht der niedrig in der Takelage angebrachten Schlachtlaternen fiel auf die Reihe der Kanonen, die auf dem oberen Geschützdeck standen. Das hochgebaute Achterschiff war ebenfalls beleuchtet. Von der Spitze des Großmastes flatterte die königliche Standarte. Ein untersetzter Mann, der sich mit einer Hand auf die Reling des Quarterdecks stützte, hielt eine Seetrompete an die Lippen und rief mit rollender Stimme über das klangtragende Wasser: »Auf ein Schiff des Königs wollt Ihr feuern, wie? Oberkanonier! Wenn Ihr seht, daß da drüben eine Zündschnur an ein Geschütz gebracht wird, dann legt mir einen Zwölfpfünder auf diese Batterie!«

Auf dem Mitteldeck des Schiffes herrschte reges Leben und Treiben. Nackte Füße rannten klatschend über die Planken, und schattenhafte Gestalten bewegten sich im Schein der Schlachtlaternen. Eine Strickleiter mit hölzernen Sprossen wurde klappernd über die Seite des Schiffes geworfen und reichte bis dicht ans Wasser. Hinten auf dem Kai blieb ein glimmender Zündfaden gleichsam mitten in der Luft hängen; wahrscheinlich war von der Festungsmauer her ein Befehl erteilt worden. Bald tauchte Meg aus dem Wasser auf und kletterte triefend die heftig schwingende Leiter empor, bis ein Seemann herbeieilte und ihr helfend die Hand reichte.

Dann schwamm auch Fenton unter die gewölbte Seite des Schiffes und sah über sich die Masse der grauen Segel. Als er den Fuß auf die Strickleiter setzte, wußte er, daß Frieden in seine Seele eingezogen war.

»Wir haben den Teufel geschlagen«, sagte er, »und den Lauf der Geschichte geändert!«

Und der Degen wippte immer noch an seiner Seite, als er die Leiter hinaufkletterte.

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