Aus Gründen der Bequemlichkeit zog Meg ihr Cape aus und legte sich auf die dunkelblaue Innenseite. Ihr dickes, glattes schwarzes Haar war durch das Zurückschieben der Kapuze in Unordnung geraten. Fenton sah - und verwünschte gleichzeitig diese treulosen Gedanken -, daß Megs Schultern und Brüste voller waren als Lydias, obwohl ihre Figur schlanker war. Ihr dunkles Haar hob sich scharf von der weißen Haut ab.
Warum in aller Welt packte ihn jedesmal, wenn er Meg begegnete, eine Art Wahnsinnstaumel?
»Ei der Daus«, flüsterte sie, während sie sich dichter an ihn herankuschelte, »haltet Ihr meine kleine Fopperei für so klug? Na, dann will ich Euch mein Geheimnis verraten. Ich war heute in einem großen Laden, >La Belle Poitrine<, als die reizende Lydia hereinkam. Ich hörte ihr lautes Bühnengeflüster: >Ich muß das Kleid heute noch haben. Es ist für Spring Gardens heute abend.< Nun, so brauchte ich nur Kleid und Umhang nachzuahmen und mein Haar zu bedecken.«
Fenton warf rasch einen Blick um sich. Noch niemals in seinem Leben hatte er eine so starke Versuchung empfunden. Und da er keinen Widerstand, nur Ermutigung bekam, ließ er alle Skrupel zum Teufel fahren.
»Verdammt«, sagte er sich. »Ich will sie besitzen, und wenn sie unter einer Decke von Dornen läge!«
Seine Lippen preßten sich auf Megs feuchten Mund, und seine Arme umschlossen sie fester. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie schob seinen Kopf mit beiden Händen zurück, und ihre grauen Augen blickten ihn fest an.
»Nein«, sagte sie, obgleich er die Glut ihrer Leidenschaft spürte, »diese Lichtung ist zu öffentlich. Ich werde Euch in eine Laube führen, die ich kenne. Aber zuerst möchte ich eine Frage an Euch richten.« Haß stieg in ihr auf. »Bist du zufrieden mit meiner reizenden Base Lydia?«
Das alte Problem tauchte wieder auf.
»Und ich habe eine Frage an dich«, entgegnete er. »Bist du Mary Grenville?«
»Natürlich«, antwortete sie in der Ausdrucksweise des zwanzigsten Jahrhunderts.
Auf einen Ellbogen gestützt, starrte Fenton sie an. »Aber ach, du meine Güte!« fuhr Meg fort. »Ein paarmal hast du mich arg in die Enge getrieben. Und warum warst du so gemein zu mir? Du hast mich sogar aus dem Haus geworfen, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen und dir ein paar Andeutungen zu machen.«
Fenton hatte vorübergehend den Eindruck, als fließe alles zusammen - Hecken, Gras und das aufreizende Lächeln, das um Megs geschweifte Lippen spielte. Es war, als habe sich ein riesiges Auge geöffnet und ihm mit einem gewaltigen Zwinkern eine feuchte, moderne Londoner Straße und ein ernsthaftes Mädchen in einem Glockenhut gezeigt.
»Wenn ich dich schlecht behandelt habe«, erwiderte er, »so geschah es, weil Sir Nick meistens die Oberhand hatte. Mein zweites Ich sozusagen. Warum hast du nicht frei von der Leber weg geredet, als ich dich bei unserer ersten Begegnung >Mary< nannte?«
Er hörte ihren leisen Seufzer.
»Hätte ich's nur getan. Mein Gott, hätte ich's nur getan! Aber ich war meiner nicht sicher. Erinnerst du dich noch, wie ich dir bei deinem Lexikon der Sprache des siebzehnten Jahrhunderts half? Aber ich war unsicher. Ich habe zu lange gezaudert.«
»Ich verstehe dies alles nicht«, rief der verwirrte Fenton. »Hör mal, du hattest ja nicht einmal die Stiche, die mir so sehr geholfen haben. Wie konntest du dich hier nur zurechtfinden?« Meg preßte ihre Wange dicht an die seine.
»Hör zu«, flüsterte sie heftig, »darüber darfst du mich nicht befragen. Noch nicht! Später, vielleicht bald, wirst du es erfahren. Du wirst erfahren, daß mein Charakter - meine Seele, wenn du so willst - sich nicht geändert hat. Aber ich war verschwiegen, und niemand merkte, daß ich nicht Meg war. Doch nun kehren wir am besten zu einem lieblicheren Zeitalter zurück.« Das Riesenauge schloß sich wieder, und das zwanzigste Jahrhundert verschwand in weiter Ferne. Die Wirklichkeit trat in den Vordergrund: die sanfte Luft, der Mond über Spring Gardens, die Hecken, das Gras. Mit Megs Zügen ging eine leise Veränderung vor sich. Ihr Lächeln war nicht mehr verschlagen; es wurde zärtlich.
»Nick, ich habe dir diesen Possen hauptsächlich gespielt, um dir dies zu geben.«
Während sie ein wenig von ihm abrückte, schlug sie ihr Kleid bis über die Knie zurück - durch Unterröcke war sie nicht behindert - und zog aus ihrem Strumpfband ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier.
Von dem Augenblick an, da sie in dieses Zeitalter zurückkehrten, waren Megs Bewegungen rascher und ihre Augen strahlender geworden.
Fenton erging es genauso.
»Hier«, sagte sie, »sind die Namen der beiden Häuser, wo du mich finden kannst.«
»Zwei Häuser?«
»Pah! Du wirst mich nicht oft im ersten finden. Es ist die Wohnung eines französischen Hauptmanns namens Duroc-ein widerlicher Kerl. Erst heute haben sie ihn nach Hause gebracht - auf Krücken und mit dick verbundenem Bein. Und trotzdem - oh, pfui - bekam dieses Monstrum amouröse Anwandlungen! Wenn du gesehen hättest, wie ich ihm entwischte, wärst du vor Lachen geplatzt!«
»Und die andere Wohnung?«
»Das«, flüsterte Meg verzückt, »ist mein eigenes kleines Haus. Niemand weiß, daß ich mich dort aufhalte. Niemand kann mich dort finden und stören. Es liegt nicht gerade in einer feinen Gegend - um so besser. Niemand wird mich aufsuchen außer. wirst du bald kommen und mir deine Aufwartung machen? Recht bald?«
»Bei Gott, ich schwör's!«
»Das Haus - oder vielmehr das eine Stockwerk, das ich bewohne; alles andere steht leer - wird von einer alten Frau namens Calpurnia in Ordnung gehalten. Sag ihr deinen Namen, dann wird sie dich einlassen.« Megs Ton änderte sich. »Du wirst doch nicht grob zu mir sein? Oder mich gar mißhandeln?«
»Ganz im Gegenteil.«
In dem Moment hätte Fenton jeder Frau alles versprochen. Dennoch wußte er in seinem Sinnenrausch, daß er die Wahrheit gesprochen hatte.
»Du sprachst«, sagte Fenton, »von einer Laube .?«
»Ja, ja, ja!« Dann besann sich Meg wieder. »Halt, du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Befriedigt dich meine Base Lydia ganz und in jeder Hinsicht? Rasch noch einen Kuß, bevor du antwortest!«
Sie schmiegte sich an ihn. Aber in den nächsten Augenblicken verwandelte sich dieses Schäferidyll in ein kleines Chaos. Fenton, der bemerkte, daß das bläulichgelbe Licht der Fackel plötzlich durch einen Schatten verdunkelt wurde, wandte den Kopf, auf dem die Perücke recht schief saß, und sah im Bogengang zu seiner Linken ein paar Gestalten stehen. Meg hob ebenfalls den Kopf. Groß und hager - der flache Hut und die goldbestäubte Perücke berührten fast die Spitze des Bogens - stand dort im Gange ein leichenblasser Mann in Weiß mit Krücken unter den Armen und einem bandagierten, steif nach hinten gestreckten Bein. Unmittelbar vor ihm, immer noch in Maske und Cape, aber mit giftig zusammengepreßten Lippen unter der kurzen Nase, stand Lydia. Meg sprang auf und ließ den Umhang am Boden liegen. Fenton blieb aus einer gewissen Befangenheit heraus sitzen, was er später bereute. Lydia bewegte sich in dem trüben Licht mit blitzartiger Geschwindigkeit. Ihre Hand glitt unter das Cape zu der dünnen Scheide mit dem doppelschneidigen goldenen Dolch. Sie zog ihn heraus und stürzte sich auf Meg.
»Ich kann ebensogut einen Dolch gebrauchen wie Ihr«, flüsterte sie.
In diesem Augenblick begann das Orchester, ein aus Spinett, Viola und Baßviola zusammengesetztes Trio, eine träumerische Melodie zu spielen. Das Trio mochte vielleicht in gerader Linie keine zehn Meter von ihnen entfernt gewesen sein. Aber wo gab es hier schon eine gerade Linie? »Kanaille!« kreischte Lydia.
Der Dolch glitzerte kurz, als er gezückt wurde. Wenn das Licht besser gewesen wäre, hätte es einen Mord gegeben. So wurden nur Silberstreifen und rosa Röschen aufgeschlitzt. Meg wich schreiend zurück. Lydia, selbst ganz entsetzt, schleuderte den Dolch fort und fuhr mit bloßen Händen auf Meg los.
Lydia war die kleinere, obwohl keine von beiden als groß bezeichnet werden konnte. Meg rannte mit gesenktem Kopf, wie ein angreifender Stier, auf Lydia zu und versetzte ihr einen kräftigen Stoß. Die taumelnde Lydia blieb mit ihrem Schuh im eigenen Kleid hängen und fiel hin. Meg lief mit katzenartiger Geschmeidigkeit durch den Bogen, wo Captain Duroc mit seinen Krücken auf einem Bein stand.
Lydia sprang auf die Füße, griff nach dem goldenen Dolch und stürzte ihr nach. Doch Captain Duroc, allerdings etwas schwankend, versperrte ihr den Weg mit den Krücken. »Madame«, flehte er mit weitaufgerissenen, schwimmenden Augen und unter Aufbietung seiner ganzen Komödiantenhöflichkeit, »Je vous implore! Zwei Damen! Nein, nein!« Lydia maß ihn von Kopf zu Füßen.
»Ich will eine Dirne sein«, sagte sie in fast säuselndem Ton, »wenn Ihr nicht die bemalte Memme seid, mit der mein Mann neulich Schindluder gespielt hat.«
Mit diesen Worten hob Lydia ihr Kleid vorne hoch und versetzte ihm einen so heftigen Tritt in die untere Magengegend, daß Duroc mit einem Schmerzensschrei rückwärts in die äußere Hecke fiel. Die Krücken entglitten ihm.
Fenton, der von dem engen Kontakt mit Meg noch ziemlich erregt war, mußte sich in irgendeiner Form Ablenkung verschaffen. Er verließ daher die Lichtung und schritt auf Captain Duroc zu.
»Sir«, begann er mit noch zitternder Stimme, »wollen Sie mir gütigst gestatten, Ihnen beim Aufstehen behilflich zu sein, wenn wir auch Feinde sind und miteinander kämpfen müssen, sobald Ihr Bein geheilt ist?«
Duroc spie ihn an - Duroc, der so berühmt war für seine guten Manieren. Dann ließ er sich ganz verkrümmt wieder in die dichte Hecke fallen. Sein Gesicht erschien im Licht der bläulichen Fackel kalkweiß. »Monsieur«, erwiderte er kalt, »Sie existieren nicht für mich. Sie haben mich, ausgerechnet mich, zum Narren gemacht. So etwas bleibt nicht ungestraft. Ich kenne Sie nicht. Gehen Sie, Sie Tor, bis ich Sie töte.«
»Dann möchte ich Ihnen noch einen guten Rat geben«, sagte Fenton schroff, der danach lechzte, dem anderen an die Kehle zu springen. »Ich bitte Sie, eine edle Nation nicht zu entehren, indem Sie als Franzose posieren. Ihr Akzent, Sir, ist geradezu furchtbar.« Mit einem ironischen Lächeln wandte sich Fenton wieder der Lichtung zu. Er war nicht allein.
In den anderen drei in die Hecke geschnittenen Bogen -ihm gegenüber, rechts und links - standen jetzt völlig regungslos drei Männer. Alle trugen Mäntel, aber jeder hatte die Degenscheide frei - die Klinge etwa fünfzehn Zentimeter gezogen. Sie standen gerade innerhalb der Bogen und beobachteten ihn. Breitkrempige Hüte verdeckten ihre Gesichter. Aber an jedem Hut steckte eine große grüne Rosette. Fenton fühlte sich glücklich und stark.
»Willkommen, meine Herren!« sagte er und bemühte sich, seine Stimme dem Flüsterton von Spring Gardens anzupassen. Sofort löste er seinen Mantel von der linken Schulter und warf ihn beiseite. »Aber findet Ihr nicht auch, daß es Mylord Shaftesbury an originellen Einfällen gebricht? Er wiederholt sich zu oft.«
Der Mann ihm gegenüber sprach überhaupt nicht. Er stieß nur ein helles, kicherndes Lachen aus, das sehr unangenehm klang.
»Sir«, erwiderte der Mann zu seiner Linken, der, wie es Fenton schien, einen sehr kurzen Bart und einen Schnurrbart hatte, »Mylord Shaftesbury ist nicht in London. Er weiß nichts hiervon.«
»Nein, nein!« spottete Fenton. »Natürlich nicht!«
»Schlagt Euch die Idee aus dem Kopf«, rief der dritte Mann zu seiner Rechten, »daß wir von jemandem gedungen sind. Wir sind rechtschaffene Patrioten und Ehrenmänner, die der Ansicht sind, daß Ihr ein Verräter und daher besser tot seid!« Alle drei hatten inzwischen den Umhang über die linke Schulter zurückgeschlagen. Jeder kam langsam aus seinem Bogen heraus und schritt über den Abhang zu dem flachen mittleren Platz der Mulde: eine gute Kampfarena, ungefähr fünf Meter im Durchmesser.
»Rechtschaffene Männer?« sagte Fenton leise. »Das freut mich. Dann werdet Ihr ehrlich mit mir kämpfen, daß heißt: einzeln und nicht drei zu gleicher Zeit, wie?«
Der Mann zu seiner Rechten hatte eine junge, zittrige, nervöse Stimme.
»Wir möchten nur unser Ziel erreichen, weiter nichts«, sagte er. »Nur ein Einfaltspinsel läßt sich auf einen Einzelkampf mit dem Teufel in Samt ein!«
»Was sagt Ihr da?«
»Nun, so nennt man Euch. Habt Ihr je etwas anderes getragen als Samt?« fragte der bärtige Mann zur Linken mit heiserer Stimme. »Aber Ihr seid ein Papist, ein Verschwörer und ein Spion. Wollt Ihr das abstreiten?«
»Ja!«
»Dennoch werdet Ihr sterben. Selbst wenn Ihr der Teufel in eigener Gestalt wäret.«
Fenton riß seinen Degen heraus und sprang auf den ebenen Kampfplatz.
»Nun«, sagte er in freundlichem Ton, »dann sollt ihr alle drei heute abend in der Hölle speisen. Zieht!« In diesem Augenblick dachte er oder sein zweites Ich: Hier habe ich eine gute Chance. Wenn ich flink genug bin, trägt mich ein Sprung auf die linke Seite des Mannes zu meiner Rechten.
Bevor er meinen Hieb parieren kann, ist meine Degenspitze in seinem Körper. Ich packe ihn mit der linken Hand und benutze ihn, um den Arm des zweiten Mannes abzuhalten, während ich rasch nach dessen Herzen ziele. Das ist im Nu geschehen. Den dritten Mann erledige ich dann in Ruhe .
Drei feindliche Degen wurden gezückt, ohne jedoch in dem grünlichen Licht zu glänzen. Fenton machte einen kurzen Sprung nach rechts. Zur selben Zeit.
Drei gezückte Degen verharrten regungslos. Drei breite Hüte mit der Grünbandrosette drehten sich um, als blickten sie auf etwas hinter Fentons Rücken.
Die Handlung war zu spontan, zu rasch, um den Verdacht zu erregen, daß es ein geplanter Trick sei. Fenton warf einen Blick über die Schulter: unter dem vierten Bogen war Big Tom. Mit seinen mächtigen Schultern stand er wie angewurzelt da und hielt an zwei Doppelleinen die vier Doggen zurück: Vielfraß und Nacktarsch mit der Linken und Donner und Löwe mit der Rechten. Ihre sehnigen Muskeln schienen sich zu straffen; ihre Köpfe saßen auf schweren Schultern; ein leises, gurgelndes Knurren drang aus ihren Kehlen, während ein Zittern über ihr Fell lief. Der Mann, der Fenton gegenüberstand, ließ wieder sein dünnes Kichern hören und kehrte langsam über den kleinen Hang zu seinem Bogen zurück. Mit unsteten Fingern versuchte er, den Degen wieder in die Scheide zu stecken. Fenton ließ seine Klinge ebenfalls unauffällig in die Scheide gleiten. Der Kicherer war ihm nicht sehr sympathisch.
»Tom!« rief er. »Ja, Sir?«
»Wenn ich das Signal gebe, Donner und Löwe loszulassen, kannst du dann die beiden anderen festhalten?«
»Ja, Sir!«
Fenton zeigte mit dem Finger direkt auf den Kicherer. »Der da drüben!« rief er.
Dann zog er rasch seinen Degen aus der Scheide.
»Donner! Löwe! Faßt!«
Die zwei Doggen schossen wie ein Blitz über den Rasen: eine geströmte und eine lohfarbene Gestalt. Donners fauchendes Knurren wetteiferte mit der süßen, unermüdlichen Melodie der Kapelle.
»Tom«, sagte Fenton, während er rasch seinen Umhang und Megs Cape vom Boden aufhob, »ich glaube, wir machen uns am besten aus dem Staube. Sonst gibt's womöglich einen öffentlichen Skandal, und wir werden vor den Richter geschleift. Wir .« Er hielt inne. Der Kicherer hatte bereits kehrtgemacht und sich in die Dunkelheit gestürzt, als Fenton auf ihn zeigte. Auch die anderen beiden Männer hatten klugerweise das Weite gesucht. Der Kicherer wurde einzig und allein durch die Dunkelheit vor der Vernichtung bewahrt; denn im Dunkeln konnten die Doggen nicht gut sehen, und ihr Geruchssinn wurde durch den überwältigenden Duft von Blumen und Bäumen gestört.
Einer der Hunde knurrte und stolperte über Steine. Ein künstlicher Baum fiel um. Dann wurden die Laute hörbar, die andeuteten, daß ihr Opfer in Sicht war.
»Tom«, sagte Fenton, »ich befürchte sehr, daß sie sich dem Musiktrio nähern. Diese Musik .«
Die Musik schien nicht einfach aufzuhören, sondern vielmehr zu explodieren. Es gab einen lauten Krach, als das Spinett mit schrillenden Saiten umfiel. Die Viola kreischte wie ein gestochenes Schwein, während ein wildes Geschrei in italienischer Sprache ausbrach. Die Baßviola -ein viel kleineres Instrument als heutzutage, schön bemalt und mit einer Schnecke in Form eines Männergesichts -diese Baßviola flog senkrecht in die Luft. »Donner! Löwe! Hierher!«
Dreimal brüllte Fenton mit der ganzen Kraft seiner Lungen. Es entstand eine Pause. Im ganzen Waldland - als sei Spring Gardens ein empfindendes Wesen geworden -, ertönte leises Gelächter, das über die Pfade schallte und dann erstarb.
Die Doggen trotteten langsam zur Lichtung zurück. Obwohl jeder von ihnen Blut an seiner Wamme hatte, wußte Fenton, daß sie keinen großen Schaden angerichtet hatten. Sie waren niedergeschlagen und schlichen fast schuldbewußt einher. Donner und Löwe hatten offenbar das Gefühl, daß sie etwas falsch gemacht hatten; sie hatten nicht getötet; oder waren sie ungehorsam gewesen? Fenton tröstete sie mit ein paar freundlichen Worten. »Schnell!« sagte er zu Big Tom. »Wir müssen versuchen, meine Frau zu finden!«
Big Tom, dem die beiden anderen Hunde, Vielfraß und Nacktarsch, viel zu schaffen gemacht hatten, fand die vier Tiere jetzt gehorsam.
Er führte sie aus der Lichtung und ließ sie aufs Geratewohl nach rechts laufen.
Fenton, der ihnen nacheilte, stand plötzlich Captain Duroc gegenüber, der sich mit Hilfe der Hecke und seines gesunden Beines wieder aufgerichtet hatte und sich nun auf die Krücken stützte. Die Fackel brannte wie eine Totenkerze neben ihm. »Ich Ihnen wünsche eine gute Nacht«, bemerkte Duroc höhnisch. »Wir haben mehr untereinander ins reine zu bringen als ein gebrochenes Bein. Da ist auch eine Dame, Madam York. Sie .«
»Zieht einen anderen vor?« fragte Fenton aalglatt. »Wie überaus töricht von ihr! Gute Nacht!«
Er rannte Big Tom und den Doggen nach. Der Blick in Durocs Augen hatte ihm verraten, daß es kein leichtes Duell sein würde, das ihm bevorstand.
Plötzlich blieb er stehen, um sich zu orientieren. Die hohe, dichte Hecke zu seiner Linken war der äußere Rand des Labyrinths. »Tom«, meinte er, »die Doggen könnten uns ein Loch in diese Hecke reißen, und wir wären im Handumdrehen draußen. Wenn meine Frau nur .«
In diesem Augenblick sah er Lydia, die sich auch an die äußere Hecke hielt und auf sie zulief. Sie war ganz atemlos und hochrot im Gesicht von der Anstrengung, trug aber eine unbekümmerte, fast lächelnde Miene zur Schau. Er hatte vollständig vergessen, daß Megs Cape über seinem linken Arm hing. Wenn Lydia es gesehen hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Auf Fentons Befehl rissen die Hunde ein großes Loch in die Hecke, so daß die anderen beinahe aufrecht hindurchgehen konnten.
»Potzblitz!« rief Fenton. »Da wären wir ja praktisch am Ausgangspunkt angelangt. Hier beginnt die Pall Mall. Ich dachte, wir wären irgendwo im Park herausgekommen. Du nicht auch, Lydia?«
»Oh, wir sind gleich zu Hause«, murmelte sie.
Blaß und verstört öffnete Giles ihnen die Haustür. In der Halle brannten sämtliche Wandkerzen.
»Gott sei Dank, daß Ihr sicher heimgekehrt seid, Sir«, sagte Giles erleichtert. »Mr. Reeve, der ja versprochen hatte, Euch stets zu warnen, wenn Gefahr im Anzug ist, schickte einen Brief. Ich bitte Euch untertänigst um Verzeihung, aber ich habe ihn geöffnet. Es stand darin, daß drei Gentlemen in Spring Gardens über Euch herfallen würden. Mr. Reeve wußte nicht, wo und wann.« Giles fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich hielt es für ratsam, Big Tom mit den Doggen zu Euch zu schicken.«
Lydia war inzwischen ohne weitere Bemerkung auf ihr Zimmer gegangen. Big Tom brachte die Hunde nach unten, um sie für die Nacht ins Freie zu lassen.
»Waren die Namen dieser >Gentlemen< im Brief erwähnt?« erkundigte sich Fenton in scharfem Ton.
»Nein, Sir. Er enthielt nur eine Andeutung.« Giles ließ den Satz unvollendet. »Sir, ich habe den Brief nicht bei mir. Es hat Zeit bis morgen.«
Fenton gab ihm recht. Betroffen entdeckte er Megs Cape über seinem Arm. Die Situation wurde immer schlimmer. »Du hast deine Sache gut gemacht, Rotkopf«, lobte er und erstattete kurz Bericht über den Vorfall. Danach bat er Giles hastig, das Cape fortzuschaffen, und ging zögernd nach oben. Obgleich er sich bemühte, eine Entschuldigung zu formulieren, gelang es ihm nicht. Lydias Tür war geschlossen. Er klopfte an, was er sehr selten tat, und wurde gebeten, einzutreten.
Eine einzige Kerze brannte im Zimmer, und Lydia, die Kleid und Haare wieder in Ordnung gebracht hatte, stand vor dem Spiegel. Abermals versuchte Fenton, die richtigen Worte zu finden. Er würgte und würgte und brachte schließlich nur die Frage hervor, ob sie etwas zu essen oder zu trinken wünsche.
»Danke für die Nachfrage«, sagte Lydia in kühlem Ton und drehte sich um. »Aber wir müssen sicherlich lange bei Tisch verweilen, ehe unser Gast ankommt.«
»Was für ein Gast?«
»Nun«, meinte Lydia, überrascht die Augenbrauen hochziehend, »wer denn anders als deine süße Meg? Was? Nicht auf Meg warten? Wie zärtlich du ihr Cape an deine Brust preßtest!« Ihre Stimme nahm einen wilderen Klang an. »Was hast du mir doch für einen listigen Streich gespielt! Mich einfach in diese vulgären Anlagen von Spring Gardens zu locken, wo ich gar kein Verlangen danach hatte! Ich darf wohl meinen eigenen Augen nicht mehr trauen, wie? Aber fürwahr! Sie lag auf dem Rücken, und du warst im Begriff.«
»Lydia! Du benimmst dich wie ein Kind.«
Aus Lydias Gesicht wich langsam die Farbe, so daß ihre Augen ungeheuer groß wirkten.
Dann begann sie zu reden, und es war wie die Entladung sämtlicher Geschütze einer Breitseite.
Wenn Fenton bisher Anzeichen ihrer heftigen Besitzgier und Eifersucht bemerkt hatte, war er entweder amüsiert gewesen oder hatte sich gar geschmeichelt gefühlt. Er hatte sich eben wie ein neubackener Ehemann in der vierten Woche des Flittermonats benommen, der er gewissermaßen ja auch war. Später werden die Männer schlauer, und so erging es ihm jetzt. Es war eine böse Gardinenpredigt, und sie dauerte eine halbe Stunde. Lydia sezierte Megs Charakter und gleichzeitig seinen eigenen. Jede vornehme Dame hatte ein ausgedehntes Vokabular von derben Ausdrücken und gebrauchte es auch, sogar ganz ungezwungen, in der Öffentlichkeit. Lydias Stimme wurde laut, als sie Kitty und Fenton zerfleischte und deren Beziehungen beschrieb, wie sie sich diese vorstellte. Als er angewidert protestierte, verlangte sie zitternd zu wissen, ob er sich denn nicht bewußt sei, daß er ihren Diamantring gestohlen habe, um ihn der Schlampe zu schenken?
Je mehr sie tobte, desto phantastischer wurden die Anklagen, die sie ihm ins Gesicht schleuderte. Es gab keine Handlungsweise - vom Geiz bis zum Mord -, deren sie ihn nicht bezichtigte. Da sie selbst aufs tiefste verletzt war, trieb sie ein Impuls dazu, ebenfalls zu verletzen und immer wieder zu verletzen. Einmal stürzte sie sich sogar mit dem goldenen Dolch auf ihn und stach blindlings zu. Er mußte ihr fast das Handgelenk brechen, ehe sie von ihm abließ. Und Fenton ...
Er hatte eine schwierigere Aufgabe. Er bemühte sich zwar, das Schweigen zu wahren, aber er geriet allmählich auch in Zorn, und damit nahm Sir Nick von ihm Besitz. Die fleischlose Hand packte ihn; die dürren Gebeine klapperten in dem morschen Sarg. Fenton preßte sich die Hand auf die Augen und wehrte sich mit aller Gewalt dagegen. Wenn Sir Nick jetzt die Oberhand gewinnen sollte, waren die Folgen nicht auszumalen. Doch allmählich verschwand die Dunkelheit, die sich auf ihn herabzusenken drohte, und er wußte, daß er wieder den Sieg davongetragen hatte. Aber er mußte unbedingt den Raum verlassen.
Gemessenen Schrittes ging er zur Tür und schlug sie hinter sich zu, was die Wirkung seines Verhaltens ein wenig beeinträchtigte. Er hörte, wie Lydia sofort hinzusprang und den Riegel vorschob.
Das Haus lag völlig im Dunkeln.
Fenton fiel taumelnd gegen die Wand und tastete sich daran entlang. Sobald er etwas ruhiger geworden war, rief er nach Giles, der bald darauf aus der Dunkelheit auftauchte, in jeder Hand eine Kerze.
»Was gibt's denn, Sir? Wieder ein neuer .?« Giles brach ab.
»Zünde die Kerzen in meinem Studierzimmer an, guter Freund. Dann hole eine Karaffe unseres besten Kanariensekts. Nein, halt: unseres besten Brandys.«
»Sir! Dürfte ich vielleicht.«
Fenton warf ihm einen einzigen Blick zu, und Giles verschwand, ohne ein Wort zu sagen.
Fenton wischte sich den Schweiß von der Stirn, und nach einer Weile fühlte er sich besser. Die Tür zu seinem Studierzimmer war offen. Auf dem großen, polierten Schreibtisch inmitten der mit Büchern bedeckten Wände brannte flackernd eine Kerze in einem silbernen Halter. Fenton setzte sich in den Schreibtischsessel. »Ich liebe sie«, sagte er laut zu der Kerzenflamme. »Es war meine Schuld. Das gebe ich zu. Und auf irgendeine Weise muß ich sie wieder in gute Laune versetzen. Dennoch .« In Gedanken sah er Meg York vor sich. Er konnte ihr nicht widerstehen, daß wußte er jetzt. Aber warum nur? Wegen ihrer verlockenden körperlichen Reize? Ja; aber die besaß Lydia auch. Allerdings hatte er Meg nie in dem Sinne gekannt, wie er Lydia kannte. Sie mußte aber wahnsinnig aufreizend sein, wenn sie die Puritanerin noch übertraf. Oder lag es an ihrer Leidenschaft, ihrem geheimnisvollen Wesen, ihrer äußersten Unbekümmertheit in allen ihren Handlungen - ein Sprühteufel, wie ihn viele Männer gesucht und manche gefunden haben? Aber jetzt gab es noch etwas anderes, das sie zueinandertrieb. Meg war Mary Grenville. Er hatte ihr Gesicht gesehen, ihre Stimme gehört, die durch die Spracheigentümlichkeiten dieses Zeitalters so sehr verändert war wie ihre äußere Erscheinung durch Frisur und Kostüm. In seinem früheren Dasein hatte er Ma - nein, es war besser, sie Meg zu nennen - nie in einer solchen Haartracht gesehen. Auch hatte er nie besonders auf ihre Figur geachtet. Sie war ein Wandergenosse in einem anderen Jahrhundert. Bei all ihrem Schneid mußte sie sich oft recht einsam und verängstigt fühlen. Dann war sie die Tochter seines alten Freundes . Fenton schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich darf sie nicht wiedersehen!« sagte er laut. In seiner Tasche ruhte das Stück Papier, worauf Meg ihre beiden Adressen notiert hatte. Er holte es hervor und streckte die Hand aus, um es an der Kerzenflamme zu verbrennen, hielt aber plötzlich inne.
»Wie ist Mary Grenville Meg York geworden?« fragte er sich plötzlich. »Warum ist sie hier? Allen meinen Fragen ist sie ausgewichen, oder sie hat mich auf später vertröstet. Aber die Antworten auf diese Fragen muß ich haben!« Aus diesem Grunde - das redete er sich jedenfalls ein -, trat er an einen der Bücherschränke, nahm einen Band heraus und legte das Stück Papier zwischen die Blätter. Er stellte das Buch zurück an seinen Platz und saß bereits wieder im Sessel, als Giles eintrat. Giles trug ein Tablett mit einer Kerze, einer Glaskaraffe Brandy, der im Licht wie Bernstein schillerte, und einem gewölbten Glas. Man trank Brandy unverdünnt. Alle - von den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften bis zum gemeinsten Mann auf der Straße - wußten, daß Wasser für den Menschen ungenießbar war. Man ließ es den Tieren.
Giles blieb noch eine Weile unschlüssig stehen und schnitt merkwürdige Grimassen.
»Na«, sagte er schließlich, »wenn Ihr die Absicht habt.«
»Vielen Dank. Aber ich brauche keinen Rat. Ich werde mich nicht die ganze Nacht betrinken, geschweige denn eine ganze Woche.« Sobald Giles fort war, goß sich Fenton fast ein ganzes Glas ein. Nach einigen tiefen Zügen begann der Brandy seinen Kummer abzustumpfen.
Morgen würde er sich irgendwie wieder mit Lydia aussöhnen. Niemals, bei Gott, würde er ihr untreu werden! Und dieses Schreckgespenst der Vergiftung? Das war es, was er fürchtete, schrecklich fürchtete. Aber es konnte nichts passieren. Er ließ Lydia zu scharf bewachen.
In Gedanken sah er wieder die Daten seines Lebens als Sir Nicholas Fenton: Geboren am 25. Dezember 1649; gestorben am 10. August 1714. Er und Lydia würden das Schauspiel dieser Zeit abrollen sehen: in der Hauptsache Verrat und Unruhe, aber hin und wieder auch ein Zeichen von Größe. Und er konnte wenigstens glücklich sterben, ehe der erste Hannoveraner den britischen Thron bestieg.
Ganz in solchen Gedanken verloren, merkte er plötzlich, daß der Brandy seinen Verstand umnebelt hatte.
Aber das durfte nicht sein; sonst konnte er Lydia ja nicht beschützen. Leise schwankend zog er sich an der Tischkante hoch und umklammerte den Kerzenhalter mit festem Griff. Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte er nach oben in sein Schlafzimmer, wo er nur einmal taumelte, als er die Tür schloß. Dann blies er die Kerze aus, sank quer über das Bett und schlief sofort ein. Obwohl er am nächsten Morgen einen starken Kater hatte, vertrieben die hellen, warmen Sonnenstrahlen alle seine Zweifel und ließen den gestrigen Zank töricht erscheinen. Nach einem ausgiebigen Bad war er wieder in allerbester Laune. Er ließ sich von Giles rasieren und gestattete ihm, ihn mit größerer Sorgfalt als üblich zu kleiden, was Giles große Befriedigung verschaffte. Auf dem Ankleidetisch lag seine Zahnbürste mit dem hellroten Griff, die Big Tom mit Sorgfalt geschnitzt und mit so guten Borsten versehen hatte, daß Fenton nicht zu fragen wagte, woher sie stammten. Eine zweite, blau angemalte Zahnbürste lag auf Lydias Ankleidetisch. Da er keine Zahnpasta bekommen konnte, mußte er sich mit parfümierter Seife begnügen, die dem Mund wenigstens eine gewisse Frische verlieh.
Wie immer, eilte er auch an diesem Morgen in die Küche hinunter und probierte Lydias Morgenschokolade, ehe sie zu ihr hinaufgeschickt wurde. Da man noch keine neue Köchin gefunden hatte, füllte Nan Curtis einstweilen diesen Posten aus. Obwohl sie äußerst zuverlässig war, wurde sie von Big Tom so scharf bewacht, daß sie mehr als einmal in Tränen ausbrach. Dann begleitete Fenton Bet, die neue Zofe, als sie das Tablett mit der Schokolade nach oben trug, um sich zu vergewissern, daß niemand sich damit zu schaffen machte. Obgleich Lydias Ausbruch noch an seinem Herzen nagte, hatte er doch eine Entschuldigung bereit, als Bet an die Tür klopfte.
»Ja?« ertönte Lydias Stimme erwartungsvoll. Dann schwieg sie, und es lag ein gewisser Hochmut in diesem Schweigen. »Hier ist Bet, Mylady, mit der Schokolade.«
»Oh.« Eine lange Pause. Dann mit ein wenig zitternder Stimme: »Ist mein Mann auch da?«
»Ja, Mylady.«
»Dann sei so gut, liebste Bet, und sage ihm, daß seine Abwesenheit höher geschätzt wird als seine Gesellschaft.« Fenton ballte die Faust und holte tief Atem.
»Tu, was diese verflixte Frau dir gebietet«, sagte er laut und vernehmlich zu Bet.
Dann ging er den Flur hinunter. In einer dunklen Ecke bemerkte er Judith Pamphlin, die immer noch mit verschränkten Armen Wache hielt. Sosehr er sie auch verabscheute, war er doch froh über ihre Wachsamkeit.
Pünktlich um zwölf Uhr, wie jeden Tag, nahm er einen Schlüssel und öffnete ein Schränkchen in seinem Studierzimmer. Mit einem anderen sehr kleinen Schlüssel schloß er das Tagebuch auf, das er niemandem bisher gezeigt hatte.
Sorgfältig tauchte er die Feder in die Tinte und trug das Datum ein; 6. ]uni, obwohl der Tag erst um Mitternacht endete. Noch vier Tage .
Er konnte das Schicksal abwenden. Das wußte er. Der 10. Juni würde schließlich abgestrichen werden. Er beschloß, alle Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen. Aber er konnte nirgends eine Lücke entdecken.
Nichts geschah an diesem heißen Tage. Lydia weigerte sich zu essen; Fenton nahm ebenfalls keine Nahrung zu sich. Es kam ein höflicher, fast demütiger Brief von den Besitzern von Spring Gardens. Im Brief war von einen leichten Schaden die Rede, und man gestattete sich, eine Rechnung zu präsentieren. Obgleich die Rechnung viel zu hoch war, beglich Fenton sie umgehend durch einen Boten, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Bei Einbruch der Nacht, als die Kerzen angezündet wurden, saß er in seinem Studierzimmer und las zuerst den besänftigenden Montaigne und dann den weniger besänftigenden Ovid. Schließlich klappte er das Buch zu und kam zu einem Entschluß. Gelassen stieg er in die Küche hinab, wo er sich eine kleine Axt mit einem kurzen Griff holte. Ebenso gelassen ging er nach oben vor Lydias Zimmer.
Mit ein paar wohlgezielten Schlägen, die laut krachend durchs Haus hallten, sprengte er die Tür, so daß sie ins Zimmer fiel. »Nun hör mich an, Weib -!« Er brach sofort ab. Es war ihm, als sei ein Kavallerieangriff nur auf Wolken gestoßen.
Denn Lydia saß aufrecht im Bett und streckte ihm die Arme entgegen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihr Mund zitterte. Er stürzte ans Bett, und es folgte eine stürmische Umarmung. »Es war meine Schuld«, riefen beide wie aus einem Mund. In dem Stimmengewirr, das nun ertönte, hätte ein Lauscher kein Wort unterscheiden können; denn beide redeten zu gleicher Zeit, und jeder überschüttete sich selbst mit Vorwürfen und Schimpfnamen. Giles stand unterdessen im Flur und befestigte geduldig einen großen Wandteppich über dem offenen Türeingang, wobei er die Nägel so leise einschlug, daß selbst Judith Pamphlin es nicht hörte. Von der stürmischen Versöhnung gingen Fenton und Lydia zu den Zärtlichkeiten über, die die Krone aller Versöhnungen darstellen, und sprachen in leisem Flüsterton noch lange nachdem die letzte Kerze bis auf einen glimmenden Funken niedergebrannt war und erlosch.
Sie sagten sich immer wieder, wie töricht sie gewesen seien, und Lydia schluchzte zum Steinerweichen. Sie schworen sich unzählige Male ewige Liebe. Sie gelobten sich, niemals wieder und unter keinen Umständen zu zanken; niemals, niemals ... Nun, das kennen wir alle. Seit Ewigkeiten werden solche Schwüre in das Ohr der flüchtigen Zeit geflüstert: und doch sind sie - zumindest für den Augenblick - immer ernst und aufrichtig gemeint.
»Von ganzem Herzen, Nick?«
»Von ganzem Herzen, Lydia.«
Am nächsten Morgen faulenzten sie dann lange im Bett. Am Nachmittag hatte Fenton geschäftlich in der City zu tun. Ehe er fortging, trug er den 7. Juni in seinen Kalender ein. Es war ein drückend schwüler Tag. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt. Mehrere Male drangen beunruhigende Geräusche aus dem Stallhof an sein Ohr, und er schickte jemanden hin, um sich nach der Ursache zu erkundigen. Er selbst hielt sich meistens den Stallungen fern. Da er in seinem früheren Leben nur ein mäßiger Reiter gewesen war, kannte er sich mit Pferden nicht so gut aus wie Sir Nick und fürchtete sich vor einem bösen Schnitzer.
Dick, der Stalljunge, berichtete, daß eins der Kutschpferde erkrankt sei, aber nicht so ernsthaft, daß es der Pferdedoktor nicht bald heilen könnte. Fenton ließ seine schwarze Stute Sweetquean satteln und vor die Haustür bringen.
Da Big Tom die zerschmetterte Schlafzimmertür wie durch ein Wunder noch vor Mittag ausgebessert hatte, eilte er nach oben, um Lydia letzte Instruktionen zu erteilen.
»Schiebe den Riegel vor. Öffne niemandem diese Tür. Sollte jemand klopfen, frage, wer es sei. Wenn du keine Antwort bekommst, rufe aus dem Fenster nach Whip, dem Kutscher, oder Job, dem Stallknecht, und lasse sie eilig mit Keulen und Knütteln ins Haus kommen. Versprichst du mir das?«
»Oh, ja! Oh, ja!« rief sie in leidenschaftlicher Unterwürfigkeit. Sie senkte den Kopf und schmiegte sich dichter an ihn. »Nick! Was sie angeht.« Sie konnte sich immer noch nicht dazu bringen, Megs Namen zu äußern. »Du wolltest doch nicht allen Ernstes .«
»Nein!« versicherte er ihr, und im Augenblick glaubte er es selbst.
Vor der Haustür befand sich eine Auffahrt, und die Reihe der Lindenbäume zeigte eine breite Lücke, durch die die Kutschen ein und aus fahren konnten.
Fenton bestieg Sweetquean und ließ sich von Dick die Zügel reichen. Auf Umwegen ritt er dann in die City, um die Beine seiner Stute in dem dichten Verkehr vor Schaden zu bewahren. Er hätte diesen Ritt überhaupt nicht unternommen, wenn er nicht darauf bedacht gewesen wäre, eine richtige Köchin zu engagieren, am liebsten eine französische. Obgleich Nan Curtis ihr Bestes tat, sehnte er sich nach einer Köchin, die ein Mahl zubereiten konnte, ohne ihm jeglichen Reiz zu rauben. Nun, das würde wohl wieder einen Sturm im Wasserglas verursachen, aber das mußte er auf sich nehmen.
In Wills Kaffeehaus hatte er kürzlich einen Mann getroffen, der offenbar zu Sir Nicks Freunden zählte, einen jungen Wissenschaftler namens Isaac Newton. Mr. Newton hatte ihm den Namen einer älteren Französin genannt und ihm ihre Adresse in der Fleet Street gegeben.
Also galoppierte er die lange, halb ländliche Oxford Road entlang, von wo aus er auf einem offenen Feld in der Ferne den Galgen von Tyburn sehen konnte, ritt durch Holborn, schlug dann eine südliche Richtung ein und kam durch mehrere enge, kleine Gassen, bis er Madame Taupins Wohnung in der Fleet Street fand. Es dauerte eine geraume Weile, bis Fenton Madame Taupin, eine Frau mit geziert vornehmem Gehaben, für seinen Plan gewinnen konnte. Als er sie endlich überredet hatte, die Stelle am 12. Juni anzutreten, und heimwärts ritt, verdüsterte sich der Himmel und wirkte wie ein erstarrtes Meer. Hin und wieder wehte ein Windstoß wie heiße Luft aus einem Ofen. Es lag ein Gewitter in der Luft, das nicht zum Ausbruch kommen konnte. Bei seiner Heimkehr traf er Lydia bei der Abendtoilette an. Nach Eintritt der Dunkelheit wisperte der Wind geheimnisvoll durchs Haus.
Fenton, der in sein Studierzimmer ging, um einige Abrechnungen zu prüfen, die Giles ihm vorgelegt hatte, fand das Licht so unstet, daß er acht Kerzen anzündete. Doch die Flammen huschten hin und her und wollten nicht klar brennen. Ein Gefühl der Beklemmung beschlich ihn.
Plötzlich betrat Giles das Studierzimmer. Sein Gesicht war zunächst ausdruckslos. Er trat langsam an den Schreibtisch und überbrachte seine Nachricht. »Sir«, sagte er barsch, »die Hunde sind vergiftet.«