XLI

NOCH BEVOR die Unterredung zwischen Alured de Ashby und Hugh de Monthermer stattgefunden hatte, lehnte Lucy, in ein weites Nonnengewand von grauem Tuch gehüllt, nachdenklich an dem Türpfosten des großen Zimmers, das ihr im Schloß von Nottingham angewiesen war. Ihr volles Haar hatte sie unter einem Schleier versteckt, über der Schulter trug sie eine Pilgertasche, gefüllt mit Schmucksachen und einigen andern Dingen, die sie mitnehmen zu müssen glaubte. Neben ihr stand eines ihrer Mädchen und betrachtete sie mit Teilnahme und Bangigkeit.

Endlich, mit einer plötzlichen Bewegung, als hätte es lange an sich gehalten, sagte das Mädchen: »Laßt mich mit Euch gehen, Lady.«

»Du weißt nicht, wohin ich gehe, Claudia«, versetzte Lucy. »Du weißt nicht einmal, ob ich überhaupt fortgehe.«

»Doch!« sagte das Mädchen. »Warum hättet Ihr sonst diese Vermummung angelegt?«

»Nur - nur, um zu sehen, ob sie gut wäre für einen Notfall«, antwortete Lucy. »Da, hilf mir, sie auszuziehen, Mädchen! Ich würde mich selbst nicht, viel weniger würden mich andere erkennen!«

»Ja, Lady, aber doch geht Ihr fort«, sagte das Mädchen beharrlich, während Lucy Schleier und Rock ablegte. »Ich weiß nicht, wohin, aber ich will mit Euch gehen, und ich bin gewiß, ich kann Euch helfen.«

»Nun gut, wie du willst!« versetzte Lucy nach einigem Nachdenken. »Aber es kann sein, daß wir Höfe und weiche Betten für immer hinter uns lassen, Claudia!«

»Das ist mir gleich!« rief das Mädchen impulsiv. »Ich wollte lieber bei den Waidmännern im Walde leben als in Nottingham oder auch in Lindwell.«

»Gut, dann beeil dich und mach dich bereit«, sagte Lucy lächelnd. »Es sind hier viele, die dich kennen, Claudia, und wir müssen unerkannt fortkommen.«

»Ich will mich in einer Minute so verwandeln, daß mich mein Liebhaber, wenn ich einen hätte, am Altar ausschlagen sollte. -Horch! Es pocht jemand!«

»Lauf und sieh, wer es ist!« rief Lucy.

»Die Prinzessin wünscht Euer augenblickliches Erscheinen«, sagte das Mädchen, nachdem sie kurz mit jemand an der Tür gesprochen hatte. Rasch eilte Lucy hinter einer von Eleonores Frauen, die die Botschaft gebracht hatte, den Korridor entlang. Sie fand bei Eleonore Prinz Edward. Er war noch so bewaffnet, wie er von Leicester her kam, sein Anzug bestaubt und beschmutzt von der Reise, aber sein Kopf war unbedeckt, und das starke, lockige Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Er ging mit langsamen Schritten im Zimmer auf und ab, einen Ausdruck von Unmut, ja von Zorn im Gesicht. Eleonore dagegen saß und schaute ihn schweigend an, mit einer ernsten und zärtlichen Miene, als warte sie ab, bis die erste Aufwallung der Gefühle vorüber und der Augenblick zum Begütigen oder Trösten gekommen sei.

»Da ist sie, Edward«, sagte sie, sobald Lucy eingetreten war.

Als er sich gegen sie wandte, verbannte er sogleich alle Unmutsfalten von seiner Stirn und sagte, ihre Hand ergreifend: »Seid ohne Furcht, teures Fräulein; ich bin vielleicht aufgebrachter, als ich sein sollte, aber nicht über Euch und die Eurigen. Als ich vor etwa zwanzig Minuten hier ankam, gab mir die Prinzessin dies Papier, das den Zweck hat, unseren armen Freund Hugh von der Anklage zu reinigen, und ich brachte es sofort zum König, um ihn zu bitten, den Kampf nur um acht Tage aufzuschieben. Denkt Euch mein Erstaunen, als er mir dies abschlug und schwur, entweder müsse Euer Bruder seine Anklage behaupten und verfechten oder sterben. - Aber es ist nicht meines Vaters Schuld«, fuhr er verlegen fort, als er einen Ausdruck des Abscheus und der Geringschätzung in Lucys Gesicht bemerkte. »Es ist nicht meines Vaters Schuld, das kann ich Euch versichern. Mortimer und Pembroke und einige andere, auf die er hört, haben sein Gemüt so eingenommen, daß für den Augenblick alle Worte vergeblich sind. Und doch darf dieser Kampf nicht vor sich gehen, oder einer von zwei edlen Männern wird ermordet werdenl«

»So laßt mich versuchen, dies zu verhindern«, versuchte Lucy. »Hat die Prinzessin, mein Lord...«

»Ja, sie hat!« rief Edward. »Und Ihr müßt es versuchen, holdes Fräulein! Aber ich bezweifle, daß selbst Eure Überredungskunst, selbst der bestechende Lohn Eurer schönen Hand Hugh de Monthermer bewegen wird, zu fliehen und seinen Namen auch nur einen Tag der Schmach preiszugeben!«

»Er wird es tun!« sagte Eleonore. »Seiner eigenen Unschuld gewiß, mit dem Geständnis ihres Bruders in Lucys Händen, daß er ihn unschuldig glaubt...«

»Es ist nur der Ausdruck des Zweifels«, unterbrach sie Edward. »Seine Antwort könnte deshalb ganz klar sein: Wo er Ehre, Unschuld, Mut auf seiner Seite habe, warum solle er fliehen?«

»Um meinen Bruder zu retten!« sagte Lucy, dem Prinzen fest ins Gesicht blickend.

»Aber sein Ruf als Ritter!« Edward hob beschwörend die Hände. »Doch er muß fliehen! Es muß einfach ein Mittel gefunden werden, um ihn zu bereden.«

»Könntet Ihr es nicht, mein gnädiger Lord?« fragte Lucy.

»Das ist die Frage«, erwiderte der Prinz, wieder im Zimmer auf und ab schreitend. »Was wird man von mir sagen, wenn ich mich einmische? Wenn ich einem Ritter rate, vor seiner Pflicht zu fliehen? Aber es muß etwas geschehen! - Hört mich an, mein Fräulein: Geht zu ihm, wie Ihr Euch vorgenommen, wendet Vorstellungen, Bitten, Beschwörungen an, tut alles, was Ihr beschlossen habt, erbietet Euch, mit ihm zu gehen und seine Gattin zu sein. Er wird das kaum ausschlagen, dünkt mich«, und er wandte sich mit dem Anflug eines Lächelns zu Eleonore. »Aber wenn alles nichts fruchtet, so sagt ihm, ich bitte ihn, ja ich befehle ihm: Wenn er gewiß ist, seine Unschuld binnen kurzem beweisen zu können, daß kein Mensch argwöhnen kann, daß ich dies aus Gunst gegen ihn getan hätte, soll er heute nacht fliehen! Ich werde ihn rechtfertigen und gestehen, daß es auf meinen ausdrücklichen Befehl geschehen sei. Und dann will ich den Mann im ganzen Königreich sehen, meinen Vater eingeschlossen, der einen Tadel wagt!«

»Wollt Ihr es mir schriftlich geben?« sagte Lucy. »Wenn ich nur Worte habe, so könnte Hugh denken, es sei nur die List eines Weibes, um ihn für ihre Wünsche zu gewinnen.«

»Ist ein Tintenfaß hier?« fragte Edward, sich umsehend.

»Ja«, sagte die Prinzessin, ihm die Schreibmaterialien weisend, und mit rascher Hand warf er einige Worte auf das Papier, las sie dann, behielt aber immer noch den Befehl in der Hand. »Vergeßt es nicht«, sagte er, sich ernst an Lucy wendend, »dies soll das letzte Mittel sein, zu dem Ihr greift! Es ist ein übereilter Schritt, fürchte ich, und ein ziemlich unkluger, den ich tue, obwohl aus guter Absicht, und ich wünschte, daß womöglich nie die Rede davon wäre.«

Lucy nahm aufatmend das Papier an sich. »Dies rettet alles«, sagte sie. »Jetzt wird er gehen, mein Lord, da er seine Ehre gesichert sieht. Aber ich gelobe Euch, ich will keine Bitten sparen, um ihn auch ohne dies zur Flucht zu bewegen. Ich will vergessen, daß ich diesen kostbaren Schatz habe, wenn er sich nicht taub und hartnäckig gegen alle meine Bitten zeigt. Falls es aber dieses Schreibens bedarf, um ihn zur Flucht zu bewegen, darf ich ihm wohl einigen Unwillen darüber zeigen, daß er auf Eure Worte geht, nachdem er alle meine Vorstellungen verachtet hat. - Aber wahrhaftig, ich werde zu dankbar sein, wenn ich ihn überhaupt gehen sehe, als daß ich irgendeinem Zorn Raum gebe.«

»Gut - gut, holdes Fräulein«, sagte der Prinz. »Mögen wir sicher und glücklich aus dieser dunklen und traurigen Geschichte herauskommen. Ich handle gegen meines Vaters Willen, es ist wahr; aber dadurch hindere ich das Vergießen von unschuldigem Blut und erspare dem König eine Tat, die er nachmals bitter bereuen würde. Gott führe es zu einem guten Ende; wir handeln nach unserem besten Wissen.«

»Seid ohne Sorge, mein Edward«, sagte Eleonore. »Es wird alles gut werden!« Dann küßte sie ihre junge Freundin zärtlich auf die Stirn. »Jetzt sagt mir, ob alles bereit ist zu Eurem Unternehmen?«

»Alles!« antwortete Lucy. »Mein Mädchen Claudia hat mir das graue Gewand einer Nonne verschafft, das mich unkenntlich machen wird.«

»Das ist alles?« rief der Prinz. »Wo sind die Pferde? - Aber überlaßt das mir. Wenn Monthermer einwilligt, sich zu entfernen, so bittet ihn, nicht zu zögern und sich nicht mit Vorbereitungen aufzuhalten. Er wird Pferde finden am Stadttor - am nördlichen Tor, meine ich. In einer halben Stunde sollen sie dort sein. Wißt Ihr den Weg in seine Wohnung?«

»Nicht genau«, sagte Lucy. »Es ist, glaube ich, die dritte Tür gegen den Hof hinab. Aber Claudia wird sich zurechtfinden, ich zweifle nicht.«

»Es gibt einen kürzeren Weg«, sagte der Prinz. »Verfolgt den Gang, der an Eurem Zimmer hinläuft, bis an die Treppe. Ihr werdet dort eine Tür sehen, die in sein Vorzimmer führt. - Es wäre besser«, fuhr er nachderklich fort, »wenn Ihr eine Dienerin die Verkleidung nachtragen ließet und sie nicht eher anlegtet, als bis Ihr gewiß seid, daß er gehen will. Wenn Ihr ihn verkleidet besuchtet, schönes Fräulein, und nachher unvermählt zurückkämt, so könnten die Leute leichtfertig von Eurem Ruf sprechen. Was Ihr in aller Unschuld getan, um einen höchst überflüssigen Kampf abzuwenden, könnte Euch zum Nachteil gedeutet werden.«

Das Blut stieg warm in Lucys Wangen, aber sie schaute dem Prinzen offen ins Gesicht und erwiderte voll edler unbefangener Offenheit: »Ihr haltet mich ohne Zweifel für etwas keck, mein Lord, und viele Menschen mögen mich tadeln. Aber ich fühle etwas hier«, und sie legte die Hand aufs Herz, »was mich nicht tadelt, sondern mich hingehn heißt, mein Vorhaben auszuführen.«

»Nun gut«, versetzte Edward. »Lebt jetzt wohl, ich wünsche Euch ein gutes Gelingen bei Eurem edlen Unternehmen!«

Lucy küßte seine Hand und kehrte ohne weitere Umstände in ihr Zimmer zurück. »Schnell, Claudia!« rief sie beim Eintreten. »Bist du bereit?«

»Ja, Lady«, antwortete die Dienerin. »Wollt Ihr nicht den Rock anlegen?«

»Nein«, sagte Lucy, in der Tür stehenbleibend. »Bring du alles mit und folge schnell!«

Das Mädchen packte eilig für sich und ihre Gebieterin die Vermummung zusammen, und Lucy eilte voran den Gang entlang, den der Prinz ihr bezeichnet hatte. An der Tür zu Hugh de Mon-thermers Zimmer wollte sie sofort pochen, hielt aber ihre schon erhobene Hand zurück, weil sie jemand sprechen hörte.

Sie wurde fast ohnmächtig, und ihr Herz pochte heftig, denn sie erkannte ihres Bruders Stimme. Deutlich vernahm sie die Worte: »Ich halte Euch für unschuldig von Grund meiner Seele, Monthermer, und ich wollte meine rechte Hand darum geben, daß einer von uns beiden heute nacht hundert Meilen weit von hier weg wäre!«

Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Er bahnt mix den Weg! dachte sie. Nun blieb alles still, bis sie weggehende Schritte und das Schließen einer Tür hörte.

»Er ist fort«, sagte Lucy zu ihrem Mädchen, das gefolgt war. »Warte ein paar Minuten hier, Claudia.« Ohne zu pochen, öffnete sie leise die Tür und sah hinein.

Ein kleines Zimmer lag vor ihr, mit dem Kamin an der gegenüberliegenden Wand, um den drei Stühle standen. Kein Mensch war da, und mit geräuschlosem Schritt eintretend, schaute Lucy sich um. Zu beiden Seiten erblickte sie eine Tür. Die zur Rechten war geschlossen, aber hinter ihr hörte sie Plaudern und Lachen. Die Tür links war ein wenig geöffnet, aber alles war still. Lucy ging leise darauf zu und zog sie vorsichtig zurück.

In der Mitte des Zimmers stand der Geliebte, die Arme über der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt, einen kummervollen finsteren Ausdruck um den Mund und auf der Stirn. Als sie die Tür weiter öffnete, schreckte er aus seinen Gedanken auf und schaute empor. Ein Ausdruck, gemischt aus Freude, Überraschung und Bangigkeit, flog über sein Gesicht, als er Lucy entdeckte. Rasch trat er ihr entgegen, zog sie sanft in das Zimmer, schloß die Tür und drückte sie dann eine Weile an seine Brust, während beide schwiegen; denn das Klopfen ihres Herzens lähmte Lucys Zunge, und Hugh wagte nicht zu sprechen, um nicht zu stören und zu verjagen, was ihm wie ein glücklicher Traum erschien.

»Liebe Lucy«, sagte er endlich, »obwohl ich Euch danke für Euer Kommen, muß ich doch fragen, was Euch hierherführt? Es war unbesonnen, teures Mädchen! Wenn Ihr nach mir geschickt hättet, wäre ich sofort bei Euch gewesen. Es ist noch keine Minute vergangen, daß Euer Bruder hier war.«

»Ich weiß es«, versetzte Lucy, »ich weiß alles, Hugh. Ich weiß auch, daß es unbesonnen war, zu kommen. Aber ich will heute nacht alles tun, was unbesonnen ist; dies war nur der Anfang. Es ist die Regel, daß Ihr Männer uns Frauen aufsucht und bittet - heute komme ich mit meinen Bitten zu Euch!«


einige Tage ausweichen. Aber wenn die Stunde käme, würden sie mit allen übrigen ihre Stimme gegen mich erheben. Mehr als das könnt Ihr nicht vorbringen, Lucy.«

»Ich kann!« antwortete sie. »Da, lest dies, und wenn Ihr Euch noch einen Augenblick besinnt, so ist es, weil Hugh de Monthermer seine Braut nicht hebt, ihre ihm angebotene Hand verschmäht und das unbesonnene, törichte Mädchen verachtet, das um eines undankbaren Mannes willen alle Rücksicht aufgab, beseelt nur von dem Gedanken, die zu retten, die sie hebt!«


Hugh de Monthermer hielt das Papier einen Augenblick in der Hand, ohne es zu lesen, das schöne Mädchen an seiner Seite betrachtend, das ihn mit Augen voller Glanz und Feuer und mit glühenden Wangen zu überzeugen suchte.

»Lucy«, sagte er gerührt, »ich will diesen Vorwurf nicht verdienen. Ihr selbst habt mir gesagt, meine Ehre sei Euch so teuer wie mein Leben. Laßt sie Euch teurer sein als alles andere und sagt mir dann, ob ich mit Ehren gehen kann? Wenn Ihr ja sagt, mit welcher Freude werde ich fliehen, da Lucy meine Begleiterin ist! Mit welcher Hingebung will ich mein Leben lang bestrebt sein, ihre großmütige Aufopferung zu vergelten.«

Während er sprach, umarmte er sie zärtlich, und Lucy verbarg das Gesicht an seiner Brust, um nicht ihre Tränen zu zeigen. Aber dann hob sie den Kopf und sagte: »Lest, Hugh! Das wird Euch zufriedenstellen!«

»Hugh de Monthermer trat der Lampe näher, und wie er auf das Papier sah, rief er erstaunt aus: »Prinz Edwards Handschrift! Was ist das?«

Dann las er halblaut:


Monthermer! Befolgt den Plan Eurer schönen Lady! Flieht mit ihr so eilig wie möglich - sie wird Euch mehr sagen. Fürchtet nichts für Eure Ehre, ich will als Bürge für Euch einstehen und sagen, es sei mein Befehl gewesen. Ihr seid noch mein Gefangener, bedenkt das, und könnt als solcher nicht fechten ohne die Einwilligung von

Edward



»Das ändert alles!« rief Hugh de Monthermer. »Aber warum habt Ihr mir dies nicht früher gegeben?«

»Weil der Prinz verlangte, ich sollte dies nur als letztes Mittel benützen.« Lucy berichtete ihm nun kurz von der Unterredung und fügte hinzu: »Laßt uns eilen! Es werden jetzt schon am nördlichen Stadttor Pferde bereitstehen. Mein Mädchen Claudia wartet an der Treppe mit einer Nonnentracht für mich und einer passenden Vermummung für sie selbst. Habt Ihr nichts, was Ihr über diesen glänzenden Anzug werfen könntet? Denn da Ihr im Begriff steht, mit einer armen grauen Schwester zu reisen, wäre es gut, wenn Ihr nicht so ganz als höfischer Kavalier erschienet.«

Lucys Herz, erleichtert von der bedrückenden Last, schlug hoch auf in erneuter Hoffnung; aber die Tränen in ihren Augen zeigten noch die Aufregung, an der sie gelitten, während sie schon scherzende Worte sprach. Hugh umarmte und tröstete sie, bis ihn Lucy erinnerte, wie schnell die Zeit verging.





»Bedenkt, Hugh«, sagte sie, »die Minuten und mein Mut sind keine beständigen Dinge, und beide schwinden schnell dahin. Ich darf nicht ohnmächtig oder schwach werden, ehe wir die Stadt hinter uns haben.«

»Auch dann nicht!« rief Hugh. »Aber Euer Mut wird steigen, liebe Lucy, wenn die unmittelbare Gefahr vorüber ist. Wir täten jedoch besser, nicht ganz allein zu gehen; denn wir könnten unterwegs Hilfe nötig haben. Ich will Blawket ans Tor hinunterschicken mit seinen eigenen Pferden.«

»Aber eine Vermummung!« rief Lucy. »Eine Vermummung für Euch! Sonst wird, ehe wir das Schloß verlassen haben, Euer Gewand Euch verraten!«

»Ich habe eine bereit«, antwortete Hugh. »Der Priesterrock, in dem ich seinerzeit entfloh, mag noch einmal dienen. Wo ist Euer Mädchen?«

»Auf dem Gang«, versetzte Lucy. »Ich will sie rufen.«

»Nein, überlaßt das mir«, sagte Hugh de Monthermer und schritt durch das Vorzimmer. Die Tür, die auf den Gang hinausführte, öffnend, flüsterte er: »Kommt herein, Mädchen; bringt die Lampe mit - ich werde sogleich wieder dasein.« Sobald Claudia in seinem Zimmer war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, begab er sich in das äußere Zimmer, rief Blawket beiseite und gab ihm leise einige Befehle. Dann setzte er sich an den Tisch, schrieb ein paar Worte auf einen Bogen Papier, den er einem seiner Knappen anvertraute, und sagte: »Stört Sir John Hardy diese Nacht nicht, aber gebt ihm dies morgen mit Tagesanbruch.«

»Es wäre eine schwere Aufgabe, ihn zu stören, Sir«, antwortete der Mann; »denn er schläft jetzt schon, und wenn seine Augen einmal geschlossen sind, so bringt sie in den nächsten acht Stunden kein Blitz zum Blinzeln.«

»Es tut nichts«, versetzte Hugh. »Morgen ist es früh genug. Nur, übergebt es ihm ganz gewiß.« Darauf kehrte er in sein Zimmer zurück und verschloß sorgfältig hinter sich die Tür.

Der junge Ritter fuhr zurück, als er Lucy in dem grauen Rock und Schleier sah, so groß war die mit ihr vorgegangene Verwandlung.

»Ihr seht, Hugh«, sagte sie lächelnd, als sie seine Überraschung bemerkte, »aus welchen Stoffen Lucys Schönheit besteht. Sie verschwindet ganz, wenn man den prächtigen Putz wegnimmt und sie in das trübselige Gewand der Nonne hüllt.«

Es mochte ein wenig Koketterie in ihren Worten liegen; denn Hugh de Monthermer konnte darauf nur eine zärtliche Antwort geben, und die gab er. Dann suchte er eilig den schwarzen Priesterrock hervor und warf ihn über seine Rittertracht. Nun entstand die Frage, wie sie fortkommen sollten, ohne durch das Zimmer zu gehen, in dem die Diener und Gefolgsleute Hugh de Monthermers saßen.

»Können wir nicht über den Gang zurück, Madame?« fragte Claudia. »Dicht neben der Tür Eures Zimmers ist die kleine Treppe, die in den großen Schloßhof führt.«

»Das wird der beste Weg sein«, sagte Hugh. »Zieht den Schleier über Euer Gesicht, hebe Lucy. Niemand wird uns in solcher Verkleidung erkennen, und es ist kaum wahrscheinlich, daß wir jemand begegnen.«

Weder im Korridor noch auf der Treppe trafen sie auf eine lebende Seele, obwohl sie, als sie sich den Gemächern des Prinzen und der Prinzessin näherten, hart vor sich Schritte und dann in einer kleinen Entfernung eine Tür öffnen und schließen hörten. Auch den Hof erreichten sie ungefährdet, und Hugh de Monthermer trat ein paar Schritte hinaus, um zu sehen, ob das Feld rein sei. Ein Lichtschimmer vom Hauptgebäude her veranlaßte ihn, sich sogleich wieder unter den Schutz der Tür zurückzuziehen.

»Es kommen Leute mit Fackeln«, sagte er. »Benutzt der König diese Treppe?«

»Nie, soviel ich weiß«, antwortete Lucy.

»Nie!« sagte auch das Mädchen Claudia.

Hugh machte die Tür fast ganz zu, schaute aber durch einen Spalt hinaus, um zu sehen, was vorging.

»Da kommt ein Priester mit dem Kruzifix und der Hostie!« sagte er. »Man bringt einem Sterbenden das Sakrament.«

»Die heilige Maria sei uns gnädig!« rief das Mädchen Claudia, die ebenfalls hinausgespäht hatte. »Wir können nicht mehr fort, man schließt die Tore!«

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