XLII

RICHARD DE ASHBY trat aus einer Schenke, wo er einige Erkundigungen eingezogen hatte, und ging zu einem Haus auf der entgegengesetzten Seite der Straße. Es war ein großes, steinernes Gebäude, dicht neben einer alten Kirche gelegen, und da es mehrere Wohnungen enthielt, stand der Eingang zu der gemeinsamen Treppe offen.

Vorsichtig hinaufsteigend, wobei er sich an einem Seil hielt, das, durch eiserne Ringe laufend, den Windungen der Treppe folgte, erreichte Richard de Ashby das erste Stockwerk und pochte an einer kleinen Tür zu seiner Rechten. Niemand erschien jedoch, und nachdem er einige Minuten gewartet hatte, pochte er erneut.

Diesmal wurde die Tür von einem kleinen, wunderlich aussehenden Geschöpf geöffnet, das die Tracht eines alten Weibes anhatte. Aus dem braunen, runzligen Gesicht blickten fragend kleine hellgraue Augen. Sie hatte eine Lampe in der Hand, und mit scharfem, nicht sehr freundlichem Blick dem Besucher ins Gesicht starrend, fragte sie: »Was sucht und begehrt Ihr?«

»Ich suche den Vater Markus«, antwortete Richard de Ashby.

»Er ist ausgegangen, Kranke zu besuchen«, sagte die Alte. »Nein«, fuhr sie verdrießlich fort, »ich will Euch jetzt gleich alle Eure Fragen beantworten, ehe Ihr sie vorbringt. Sie drehen sich alle im Kreise. Vater Markus ist ausgegangen - ich weiß nicht, wohin - ich weiß nicht, wann er heimkommen wird. Wenn Ihr ihn hier sprechen wollt, so müßt Ihr wiederkommen. Wenn Ihr wollt, daß er einen Kranken besucht, so müßt Ihr zurücklassen, wo. Jetzt wißt Ihr alles!«

Richard de Ashby kannte die Welt so ziemlich und bildete sich ein, er durchschaue völlig die Person, die vor ihm stand. So zog er denn ein kleines Geldstück heraus und ließ es in die Hand der Alten gleiten, die es augenblicklich an die Lampe hielt und rief: »Was ist das? Gold, so wahr ich lebe! Mutter Gottes, heilige Maria! Ihr seid ein artiger Gentleman, mein Sohn. - Was ist Euer Begehren?«

»Nur eine Antwort auf die Frage«, sagte Richard de Ashby. »Ist hier ein junges Frauenzimmer - ein hübsches junges Frauenzimmer -, Kate Greenly genannt? Ihr kennt sie, dünkt mich, oder nicht?«

»Sie kennen? Gewiß!« versetzte die Alte. »Segen über ihr liebes Herzchen! Sie ist manchmal hier gewesen, und ich habe ihr auch schon eine Botschaft bestellt, wofür sie mir einige Silberstücke gab.«

»Also ist sie jetzt nicht hier?« fragte Richard de Ashby ungeduldig.

»Sie war hier, eine Stunde vor Sonnenuntergang, aber sie ging wieder fort. - Ich weiß, wie es ist!« rief sie, als ob ihr plötzlich ein Gedanke käme: »Ihr seid der Gentleman, von dem der gute Vater Markus ihr gepredigt hat, daß sie von ihm weglaufen solle, weil Ihr in einem sündigen Stande lebt. Diese Mönche sind so hart gegen junge Leute, und Ihr würdet noch ein Goldstück geben wie dieses, darauf wollt' ich schwören, zu erfahren, wo sie ist, um zu erreichen, daß sie zurückkomme.«

»Ja, das wollte ich«, versetzte Richard de Ashby. »Auch zwei!«

»Sehr gut!« fuhr die Alte fort. »Ich weiß etwas, wenn ich es nur sagen wollte. Sie ist nicht in Nottingham, aber nicht weit davon.«

»Könnt Ihr mich hinweisen, wo sie ist?«

»Heute nacht nicht - heute nacht nicht!« rief die Alte. »Sancta Maria! Ich ginge heute nacht diesen Weg nicht um einen ganzen Beutel voll Gold! Ja, der Platz ist droben, nachdem Ihr zum Tor hinaus seid, durch Backlane und dann den Thorny-Wall hinab, bis Ihr zum Saume des Thomy-Wood gekommen seid, und dann wendet Ihr Euch rechts bei des alten Gaffer Browns Hütte und unten um die Kapelle herum und am Damm hin, wo der Brunnen ist, und dann hinauf bei der neuen Anpflanzimg, gerade zwischen ihr und dem Farnberg, und dann, wenn Ihr geradeaus geht und die erste Biegung links und dann die vierte rechts einschlagt, kommt Ihr an des alten Sweeting Hütte, wohin sie gegangen, bei ihm und seiner alten Ehefrau zu leben.«

Richard de Ashby sah keine Möglichkeit, den Weg nach den Beschreibungen der Alten zu finden, und er stand im Begriff, andere Mittel vorzuschlagen, um die Sache einzuleiten, als sie mit einem verschmitzten Blinzeln sagte: »Ich will mit dem Morgengrauen selbst zu ihr hinaus, und wenn Ihr eine Botschaft an sie zu schicken habt, will ich sie mitnehmen und bestellen. Oder: Wenn ein Gentleman am Tor warten will und einer alten Frau nachgehen aufs Land, wer kann das hindern? Ich darf nicht mit Euch durch die Stadt gehen, wißt Ihr; denn das würde Ärgernis geben.«

»Ich verstehe, ich verstehe!« sagte Richard hastig. »Und wenn ich sie durch Eure Hilfe wieder zurückbekomme, sollt Ihr noch zwei Goldstücke haben.«

»Oh, eine offene Hand erreicht alles, was sie wünscht!« versetzte des Priesters Dienerin. »Eine verschlossene Faust dagegen behält, was sie hat. Das ist ein wahres Sprichwort, Herr Ritter, ein wahres Sprichwort! Am nördlichen Tor, wißt Ihr, mit dem Morgengrauen. Wartet, bis Ihr mich mit einem Korb herauskommen seht, und dann sagt kein Wort, sondern kommt mir nach.«

»Ihr geht also zu ihr?« fragte Richard de Ashby.

»Ja, ja!« sagte die alte Frau ungeduldig. »Ich will zu ihr, um ihr Nachrichten zu bringen von dem guten Pater Markus. Aber jetzt geht Eures Weges - geht! Ich fürchte, er kommt zurück und trifft Euch hier. Dann könnte er etwas argwöhnen, wißt Ihr. Am nördlichen Tor, mit dem Morgengrauen!«

»Ich werde nicht fehlen«, versetzte Richard de Ashby, und sich wendend, stieg er langsam die Treppe hinab. Die Alte sah ihm nicht lange nach, sondern schloß rasch die Tür.

Richard de Ashby war bei jenem entsetzlichen Punkt auf der Bahn des Verbrechens angelangt, wo ein Frevel aus dem anderen folgt und jeder Anschlag neue Verbrechen zeugt. Es ist schlimm, dachte er, als er wieder aus dem Haus trat, daß ich sie nicht gefunden habe, aber sie ist wenigstens nicht in der Stadt, und so ist doch eines gewonnen! - Was soll ich aber mit dem Leichnam tun? Ich kann ihn nicht dort liegen und verfaulen lassen. - Wie mag es inzwischen meinem Vetter Alured gehen? Er hat gewiß den Wein getrunken. O ja! Ich kenne ihn; er hat ihn getrunken und noch mehr dazu. - Wenn der Mann, der Ellerby, sich nicht immer in der Nähe herumtriebe, könnte noch alles sicher ablaufen.

Dennoch wußte Richard de Ashby im Grunde wohl, daß er ganz und gar nicht sicher war. Über seinem Kopf schwebte die graue Wolke naher Entdeckung und Bestrafung. Er fühlte, daß das Gewitter nahe daran war, sich zu entladen, und wie man von solchen, die bei einem Gewitter vor dem zuckenden Blitz davongaloppieren, sagt, daß sie ihn desto sicherer auf ihr Haupt herabziehen, so riefen seine verzweifelten Anstrengungen, sich zu retten, nur um so sicherer die herannahende Vergeltung auf sein Haupt herab.

Ich will aufs Schloß hinauf und erspähen, was dort vorgeht, entschloß er sich plötzlich. Wenn ich beweisen könnte, Alured habe im Zimmer Hugh de Monthermers Wein getrunken oder Brot gegessen! Das wäre ein Streich! Jedenfalls ist er bei ihm gewesen. Wer kann sagen, auf welche Arten einer vergiftet wurde? Es ist in jedem Falle verdächtig, daß er gerade vor seinem Tod bei Hugh de Monthermer gewesen ist! Aber ich will nicht in den Hof hineingehen, sondern nur durch das Tor spähen und ein paar Worte mit dem Torwächter sprechen. Unter solchen Gedanken schritt er eilig dem Nordtor des Schlosses zu.

Als er dort ankam, fand er die Wachen verdoppelt und den Einlaß versperrt. Aber er konnte durch die Torwölbung einen Blick in den Hof werfen und sah einen Zug Priester und Chorknaben mit Fackeln und Kreuzen feierlich ernst seinen Weg zur Wohnung Alured de Ashbys nehmend. Mit Gefühlen, in denen sich auf unbeschreibliche Weise Gewissensangst und Zufriedenheit, Entsetzen und Triumph mischten, murmelte Richard de Ashby zwischen den Zähnen: »Es ist geschehen!«

Dann eilte er mit dem raschen, aber unsicheren Schritt des geängstigten Verbrechers heim.

Während der folgenden Nachtstunden floh ihn der Schlaf. Voll Zweifel, Furcht und Bangigkeit schritt er in seinem Zimmer auf und ab. Dann wieder saß er da, düster in die blasse, ungeputzte Lampe starrend, während Bilder vom Sterben, von Schande, Todesqual und Verachtung ihn bedrängten.

So verstrichen die Stunden, bis sich das bläuliche Licht der Dämmerung mit dem Schimmer der erlöschenden Lampe zu mischen begann. Da fuhr er auf, legte hastig Mantel und Hut an und schritt, seinen Diener schlafend im Hause zurücklassend, dem nördlichen Stadttor zu.

Es war eine stürmische Nacht gewesen, und der Regen, der die felsigen Straßen von Nottingham herabgeströmt war, hing noch an den grünen Grashalmen und den Zweigen der Bäume. Die Wolken zerteilten sich jetzt jedoch, und man sah blaue Streifen mit dem Grau und Weiß am Himmel abwechseln, während rechts von der Stadt ein gelber Schimmer am Himmel sichtbar wurde, der das rasche Kommen der Sonne verkündete.

Richard de Ashby schaute hinaus durch das Tor von Nottingham, vor dem es von Bauern wimmelte, die zu dieser frühen Stunde schon ihre Waren auf den Markt brachten. Es war ein erfrischender und heiterer Anblick und hätte jedes andere Gemüt als das seinige erquicken müssen. Aber das Feuer, das in seinem Innern brannte, das in seinem Herzen wütete und in seinen Adern tobte, ließ ihn die kühle Luft des Herbstmorgens wie einen Fieberschauer empfinden, wo der Körper von einem kalten Frösteln geschüttelt wird, während im Innern eine heftige Hitze ungelöscht bleibt.

Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er die Gestalt der Alten erkannte, die vor dem Tor stand und zurückschaute. Er eilte ihr nach und war in einer Minute an ihrer Seite.

»Ihr seid ein Langschläfer«, sagte sie mit ihrer zittrigen Stimme. »Ich glaubte schon, Ihr würdet nicht kommen. Nun laßt uns eilen.« Und während sie, freilich nicht mit den allerschnellsten Schritten, dahinlief, legte ihr Richard de Ashby viele Fragen vor über den alten Sweeting und seine Ehefrau, bei denen sich Kate Greenly befand. Wie alt er sei? Ob er Söhne habe? Ob viele Häuser dort herum seien?

Die Alte antwortete mürrisch, aber doch ganz befriedigend, er sei ein alter Mann von dreiundsiebzig Jahren und habe keine Söhne.

»Häuser?« rief sie. »Wenig Häuser, glaub' ich. Das ist gerade der Grund, warum der gute Vater Markus das Mädchen dahin geschickt hat. Wo immer Häuser oder junge Männer sind, da ist auch Versuchung für uns arme Frauen. Aber dieser Ort ist eine wahre Einöde. Wenn Ihr sie nicht zur Rückkehr bewegen könnt, weiß ich nicht, wer es tun sollte.«

So erzählend trabte sie durch verschiedene Gäßchen ihrem Begleiter voran, dem sie bei jedem neuen Haus, an das sie kamen, erklärte, dies sei wieder ein Platz, dessen sie gestern abend bei der Wegbeschreibung erwähnt habe, und dies wieder einer. Sehr bald jedoch waren immer weniger Hütten zu sehen, und endlich erreichten sie die Kapelle, von der die Alte gesprochen. Die Glocke ertönte gerade, als sie sich näherten, und die gute Frau wollte durchaus hinein, um ein paar Gebete zu sprechen. Richard de Ashby drang vergebens in sie, weiterzugehen; denn sie schien zu den Menschen zu gehören, die in ihrem Entschluß nur immer hartnäckiger werden, sobald sie sehen, daß man ihnen im mindesten widerspricht.

»Ihr wollt doch nicht«, sagte sie vorwurfsvoll, »daß ich an der Kapelle vorbeigehe, wo gerade die Glocke läutet? Das ist so bei euch Männern, die ihr keine Religion habt. So geht nur, wenn Ihr wollt; ich bleibe nicht lang drin. Ich habe fünf Aves und ein Paternoster und ein Credo herzusagen, und das erfordert nicht eine Minute. Ihr könnt den Weg nicht verfehlen. Geht nur, ich hole Euch bald ein.«

Richard de Ashby glaubte zwar nicht, daß dies bei dem trippelnden Schritt der Alten möglich sei, aber da ihm der Gedanke an Gebet und alles, was damit zusammenhing, zuwider war, mochte er auch nicht stehenbleiben und schritt düster weiter, immer beschäftigt mit denselben peinlichen Bildern, die ihn während der langen Nacht gequält hatten.

Früher jedoch, als er erwartet, kam die Alte aus der Kapelle heraus, und nach einer halben Meile hatte sie ihn eingeholt. Sie verfolgten jetzt einen kleinen Seitenpfad, auf dessen sandigem Boden man die Spuren von Pferdehufen erkennen konnte. Linker Hand wurden die Bäume allmählich dichter, und endlich zeigte sich etwa hundertundfünfzig Schritt vor ihnen ein kleines, niederes Häuschen, oder vielmehr eine Hütte, am Saume des Waldes Hegend. Das Gebäude sah so ärmlich und elend aus, daß Richard dachte: Wenn dies der Aufenthaltsort ist, den ihr der Priester angewiesen, so wird es nicht schwerhalten, sie zu bereden, zu einem angenehmeren Leben zurückzukehren. Ich will ihr sagen, ich sei gesonnen, sie nach London mitzunehmen. - »Ist es diese Hütte, gute Alte?« fragte er, über die Schulter sich umsehend, das Weib, das etwa zehn Schritt hinter ihm ging.

»Gewiß!« versetzte sie. »Hab' ich Euch nicht gesagt, hier sei sie?«

Richard de Ashby machte noch zwei oder drei Schritt vorwärts, die Hütte aufmerksam betrachtend; dann blieb er plötzlich argwöhnisch stehen, denn er glaubte, zuerst eine und dann eine zweite Gestalt aus dem Walde hervorspringen und hinter der Hütte verschwinden zu sehen, mit einer Raschheit der Bewegung, die nicht dem hohen Alter eignet. Eine plötzliche Furcht wandelte ihn an, und er rief aus:

»Was ist das, alte Hexe? Es sind Männer dort!«

In einem Nu ließ das alte Weib den Korb aus ihrer Hand fallen und sprang mit einem wilden Satz, ein lautes Gekreisch, das keiner menschlichen Stimme glich, ausstoßend, Richard de Ashby auf die Schultern, zwängte ihre langen dünnen Arme unter seinen Achseln hindurch und hielt ihn in zäher Umschlingung fest.

»Ha, ha, ha!« brüllte sie. »Kommt hervor, meine lustigen Männer! Kommt hervor! Tangel hat ihn gefangen! Tangel hat ihn gefangen! Wir wollen sein Herz essen! Wir wollen sein Herz essen und ihn selbst langsam am Feuer braten!«

Vergebens wand sich Richard de Ashby, um sich von den Griffen des seltsamen Wesens, das ihn festhielt, loszumachen. Mit beinahe übermenschlicher Geschmeidigkeit und Kraft hielt Tangel ihn umklammert. Seine Finger schienen von Eisen, seine Arme waren wie Stricke, und es nützte Richard de Ashby nichts, daß er sich zu Boden warf und sich über den Knaben wälzte. Er vermochte nicht im mindesten, die ihn fesselnden Arme zu lockern.

Nun hörte er die Schritte herbeieilender Männer, und als Tangel ihn endlich losließ, war Richard de Ashby an Händen und Füßen gebunden.

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