Joe R. Lansdale Dichte kleine Stiche im Rücken eines Toten



Für Ardath Mayhar


Aus dem Tagebuch von Paul Marder


Bumm! Das ist ein kleiner Wissenschaftler-Witz und die richtige Art, diese Geschichte zu beginnen. Ich weiß übrigens nicht, was für einen Sinn dieses Tagebuch haben soll. Vielleicht kann ich mit seiner Hilfe meine Gedanken ordnen und verhindern, daß ich verrückt werde.

Nein. Wahrscheinlich habe ich mich dazu entschlossen, damit ich es lesen kann und das Gefühl habe, daß jemand mit mir spricht. Vielleicht trifft keiner der beiden Gründe zu. Es spielt keine Rolle. Ich will es einfach tun, das genügt.

Was gibt es Neues?

Ja, also, mein Tagebuch, nach all diesen Jahren beschäftige ich mich wieder mit asiatischen Kampfsportarten – oder zumindest mit dem System und der Gymnastik des Taekwon Do. Hier im Leuchtturm habe ich natürlich keinen Sparringpartner, deshalb muß das System genügen.

Natürlich ist Mary da, aber bei ihr beschränkt sich das Sparring auf Wortgefechte. Und in letzter Zeit kommt es nicht einmal mehr dazu. Ich sehne mich danach, daß sie mich einen Schweinehund nennt. Irgend etwas sagt. Ihr Haß gegen mich ist jetzt zur Vollkommenheit gereift, und sie hält es nicht mehr für notwendig zu sprechen. Die scharfen Linien um ihre Augen und ihren Mund, die emotionelle Hitze, die ihr Körper wie eine entsetzliche Fieberblase ausstrahlt, die ein Opfer sucht, genügt ihr. Sie lebt nur für den Augenblick, wenn sie (die Fieberblase) sich mit ihren Nadeln, der Tinte und den Fäden an mich heften kann. Sie lebt nur für die Zeichnung auf meinem Rücken.

Mary fügt jede Nacht ein neues Detail hinzu, und ich genieße den Schmerz. Die Tätowierung stellt eine große, blaue, pilzförmige Wolke dar, und in die Wolke hat sie wie einen Geist das Gesicht unserer Tochter Rae hineingezeichnet. Ihre Lippen sind fest zusammengepreßt, ihre Augen geschlossen, und tiefe Stiche täuschen ihre Wimpern vor. Wenn ich mich rasch und heftig bewege, platzen die Stiche manchmal auf, und Rae weint blutige Tränen.

Das ist einer der Gründe für die asiatischen Kampfsportarten. Wenn ich hart trainiere, reißen die Stiche leichter auf, so daß meine Tochter weinen kann. Tränen sind das einzige, was ich ihr zu bieten habe.

Jede Nacht entblöße ich ungeduldig meinen Rücken für Mary und ihre Nadeln. Sie sticht tief, und ich stöhne vor Schmerz, während sie vor Entzücken und Haß stöhnt. Sie fügt dem Bild weitere Farben hinzu; arbeitet mit brutaler Präzision, um Raes Gesicht deutlicher hervorzuheben. Nach zehn Minuten ist sie müde und will nicht mehr weiterarbeiten. Sie legt die Werkzeuge beiseite, und ich gehe zum großen Spiegel an der Wand. Die Laterne auf dem Regal flackert wie eine Kürbislaterne bei starkem Wind, aber das Licht reicht aus, damit ich über meine Schulter blicken und die Tätowierung begutachten kann. Sie ist schön. Sie wird jede Nacht besser, weil Raes Gesicht immer deutlicher hervortritt.


Rae

Rae. Mein Gott, kannst du mir vergeben, mein Liebling?

Doch obwohl der Schmerz der Nadeln wunderbar und reinigend wirkt, genügt er nicht. Deshalb wirble, trete und schlage ich auf dem Laufsteg am Leuchtturm um mich und spüre, wie Raes rote Tränen mir über den Rücken fließen und sich im Gürtelband meiner fleckigen Leinenhose sammeln.

Wenn mir die Luft ausgeht und ich nicht mehr schlagen und treten kann, gehe ich ans Geländer und rufe in die Dunkelheit hinaus: »Hungrig?«

Als Antwort auf meine Stimme steigt ein Chor von Seufzern empor und begrüßt mich.

Später liege ich auf meiner Pritsche, habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starre zur Decke und versuche, mir etwas einfallen zu lassen, das würdig ist, in dir festgehalten zu werden, mein Tagebuch. Es gibt so selten etwas. Nichts ist wirklich die Mühe wert.

Wenn ich genug habe, lege ich mich auf die Seite und betrachte das große Licht, das einst den Schiffen leuchtete, aber jetzt für immer erloschen ist. Dann drehe ich mich auf die andere Seite und blicke zu meiner Frau hinüber, die in ihrer Koje liegt und mir ihren nackten Arsch zuwendet. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es war, wenn wir miteinander geschlafen haben, aber das ist schwierig. Ich erinnere mich nur daran, daß es mir fehlt. Ich starre lange den Hintern meiner Frau an, als wäre er ein gemeiner Mund, der sich jeden Augenblick öffnen und mir die Zähne zeigen wird. Dann drehe ich mich wieder auf den Rücken, starre zur Decke hinauf und mache so bis Tagesanbruch weiter.

Am Morgen begrüße ich die Blumen, deren leuchtend rote und gelbe Blüten aus den Köpfen vor langem gestorbener Körper hervorbrechen, die nicht verfaulen wollen. Die Blumen öffnen sich weit und enthüllen ihre kleinen, schwarzen Gehirne und ihre gefiederten Fühler; sie strecken ihre Blüten in die Höhe und stöhnen. Das bereitet mir wildes Vergnügen. Einen verrückten Augenblick lang fühle ich mich wie ein Rocksänger vor seinem Publikum, das ihn mit leuchtenden Augen anstarrt.

Wenn ich von dem Spiel genug habe, hole ich den Feldstecher, Tagebuch, und suche mit ihm die Ebene im Osten ab, als erwarte ich, daß dort eine Stadt materialisiert. Das Interessanteste, das ich auf dieser Ebene erblickt habe, war eine Herde von großen Eidechsen, die nach Norden donnerte. Einen Augenblick lang dachte ich daran, Mary zu rufen und sie ihr zu zeigen, doch ich ließ es dann wieder bleiben. Der Klang meiner Stimme, der Anblick meines Gesichts regen sie auf. Sie liebt nur die Tätowierung und interessiert sich für nichts anderes.

Wenn ich aufhöre, die Ebene zu betrachten, gehe ich auf die andere Seite. Im Westen, wo sich der Ozean befindet, gibt es jetzt meilenweit nur noch von Sprüngen durchzogenen schwarzen Meeresboden. Die einzige Ähnlichkeit mit einer großen Wasserfläche bewirken die gelegentlichen Staubstürme, die aus dem Westen wie große Gezeitenwellen heranjagen und die Fenster am hellichten Tag schwarz färben. Und die Lebewesen. Hauptsächlich mutierte Wale, die ungeheuerlich groß und schwerfällig sind. Heutzutage gibt es sie im Überfluß, während sie einst beinahe ausgestorben waren. (Vielleicht sollten die Wale jetzt eine Art GREENPEACE-Organisation für Menschen gründen. Was meinst du, Tagebuch? Du mußt mir nicht antworten. Es ist nur ein weiterer kleiner Wissenschaftler-Witz.)

Diese Wale kriechen von Zeit zu Zeit in der Nähe des Leuchtturms über den Meeresboden, und wenn sie dazu Lust haben, schieben sie ihre Köpfe in die Nähe des Turms und betrachten ihn. Ich warte immer darauf, daß einer von ihnen herunterklatscht und uns zerquetscht wie Wanzen. Aber soviel Glück haben wir nicht. Aus einem unerfindlichen Grund verlassen die Wale nie den zersprungenen Meeresboden, um sich auf das Gebiet zu wagen, das wir früher Strand nannten. Es ist, als lebten sie in unsichtbarem Wasser und wären daran gefesselt. Vielleicht ist es das genetische Gedächtnis. Oder vielleicht enthält der gesprungene schwarze Boden etwas, das sie brauchen. Ich weiß es nicht.

Ich sollte wahrscheinlich erwähnen, daß ich einmal außer den Walen einen Hai gesichtet habe. Er glitt in großer Entfernung vorbei, und die Spitze seiner Flosse glitzerte im Sonnenlicht. Ich habe auch seltsame Fische mit Beinen und andere Wesen erblickt, die ich nicht benennen konnte. Ich werde sie vielleicht als Walfutter bezeichnen, weil ich einmal gesehen habe, wie ein Wal mit dem Unterkiefer über den Boden fuhr und die Geschöpfe, die hastig versuchten zu fliehen, in sich hineinschaufelte.

Aufregend, was? So verbringe ich jedenfalls meine Tage. Ich schlendere mit dem Feldstecher um den Turm herum, komme herein, um in dir zu schreiben, und warte ungeduldig darauf, daß Mary nach den Geräten greift und mir das Zeichen gibt. Schon der Gedanke daran bringt mir eine Erektion. Man könnte es wahrscheinlich als unseren Geschlechtsakt bezeichnen.

Und was tat ich an dem Tag, an dem sie die Große Bombe abwarfen?

Ich freue mich, daß du danach fragst, Tagebuch, wirklich. Ich tat das Übliche. Ich stand um sechs auf, ging scheißen, duschte und rasierte mich. Ich frühstückte. Ich kleidete mich an. Ich band mir die Krawatte. Ich erinnere mich, daß ich letzteres vor dem Schlafzimmerspiegel tat und dabei bemerkte, daß ich mich schlecht rasiert hatte. Ein Rest meines schwarzen Bartes zierte mein Kinn wie ein blauer Fleck.

Ich rannte ins Bad, um diesen Mißstand zu beheben, öffnete die Tür, und Rae stieg nackt wie am Tag ihrer Geburt aus der Badewanne.

Sie drehte sich überrascht um und sah mich an. Mit einem Arm bedeckte sie ihre Brüste, und die zweite Hand ließ sich wie eine weiße Taube im Busch ihrer Schamhaare nieder. Verlegen murmelte ich: »Entschuldige«, schloß die Tür und ging zur Arbeit – unrasiert. Es war ein unschuldiger Zwischenfall. Ein Zufall. Nichts Sexuelles. Aber wenn ich jetzt an sie denke, dann ist es meist dieses Bild, das mir als erstes einfällt. Vermutlich war es der Augenblick, in dem mir klar wurde, daß mein Kleines zu einer schönen Frau herangewachsen war.

Es war auch der Tag, an dem sie zum erstenmal ins College ging und – wenn auch nur einen Augenblick lang – das Ende der Welt erlebte.

Und es war der Tag, an dem das Dreieck – Mary, Rae und ich – zerbrach.

Wenn meine erste Erinnerung an Rae der Tag ist, an dem sie nackt in der Badewanne stand, dann ist die erste Erinnerung an unsere Familie ein Tag in ihrem sechsten Lebensjahr. Wir gingen oft in den Park; sie fuhr mit dem Karussell, stieg in die Schaukel und in die Achterbahn und landete schließlich auf meinem Rücken. (»Ich will bei Daddy Huckepack reiten.«) Wir galoppierten herum, bis meine Beine aus Gummi waren, und machten dann bei der Bank halt, auf der Mary saß und auf uns wartete. Ich drehte Mary den Rücken zu, so daß sie Rae herunterheben konnte, aber bevor sie es tat, umarmte sie uns jedesmal von hinten, streichelte Rae, drückte sie fest an meinen Rücken, und dann berührten Marys Hände meine Brust.

Wenn ich diese Hände nur beschreiben könnte! Nach all den Jahren sind ihre Hände immer noch wie damals. Wenn sie arbeitet, spüre ich, wie sie auf meinem Rücken flattern. Sie sind lang, schlank und künstlerisch. Sie sind von Natur aus weich wie der Bauch eines jungen Kaninchens, und wenn sie Rae und mich umschlang, dann hatte ich das Gefühl, daß wir drei uns allem, was auf der Welt geschah, stellen und damit fertig werden konnten.

Aber jetzt ist das Dreieck zerbrochen und die Geometrie zerstört.

An diesem Tag ging Rae also ins College und wurde von dem dunklen Druck der Bombe ausgelöscht, und Mary fuhr mich zur Arbeit. Mich, Paul Marder, das große Tier im Team. Einer der besten, hellsten Köpfe in der Industrie. Der unsere atomare Drohung stets propagierte, verbesserte und erweiterte, so daß wir oft scherzten: »Wir bemühen uns, nur das Beste zu senden.«

Als wir beim Wächterhäuschen eintrafen, hielt ich bereits meinen Ausweis in der Hand, aber es war niemand da, der ihn in Empfang nahm. Hinter dem Tor tobte ein wildes Durcheinander von Menschen, die liefen, schrien, zu Boden fielen.

Ich stieg aus dem Wagen und rannte zur Tür. Als ein Mann vorbeilief, den ich kannte, schrie ich ihm nach. Er drehte sich um, sein Blick war gehetzt, und auf seinen Lippen stand Schaum. »Die Raketen fliegen«, rief er, dann stürzte er wie von Sinnen davon.

Ich sprang in den Wagen, schob Mary weg und trat auf das Gaspedal. Der Buick sprang gegen den Zaun und warf ihn um. Der Wagen schleuderte, stieß an die Ecke eines Gebäudes, und der Motor starb ab. Ich ergriff Mary bei der Hand, zog sie aus dem Wagen und lief mit ihr zu den großen Fahrstühlen. Wir erreichten den letzten gerade noch. Es waren noch weitere Menschen zu ihm unterwegs, doch die Tür ging zu, und der Lift fuhr hinunter. Ich höre noch heute ihre Fäuste gegen das Metall trommeln, als wir zu sinken begannen. Es war wie der rasche Herzschlag eines sterbenden Lebewesens.

Der Fahrstuhl brachte uns also in die Unterwelt, und wir machten ihn dicht. Wir befanden uns in einer Stadt, die von einer fünf Meilen dicken Schicht geschützt wurde, und nicht nur als gewaltiges Büro und Laboratorium, sondern auch als absolut sicherer Bunker geplant worden war. Sie war unsere besondere Belohnung dafür, daß wir die Gifte des Krieges geschaffen hatten. Es gab Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente, Filme, Bücher. Alles, was man will. Zweitausend Menschen konnten hundert Jahre lang hier überleben. Von den zweitausend, für die diese Stadt gedacht war, schafften es vielleicht elfhundert. Die anderen liefen nicht rasch genug vom Parkplatz und von den anderen Gebäuden hin, oder sie hatten sich verspätet oder sich krank gemeldet.

Unter Umständen waren sie die Glücklicheren. Sie waren vielleicht im Schlaf gestorben. Oder während sie am Morgen gerade noch schnell mal ihre Frau vögelten. Oder während der letzten, genüßlichen Tasse Kaffee.

Denn, Tagebuch, die Unterwelt war kein Paradies. Es kam sehr bald zu Selbstmordepidemien. Ich dachte selbst von Zeit zu Zeit an diese Möglichkeit. Die Menschen schnitten sich die Kehle durch, tranken Säuren, nahmen Pillen. Wenn wir am Morgen aus unserem Schlafraum kamen, war es nicht ungewöhnlich, daß die Menschen wie reife Früchte an Rohren und Sparren baumelten.

Außerdem gab es auch noch die Morde. Für die meisten war eine verrückte Gruppe verantwortlich, die in den tiefer liegenden Räumen hauste und sich ›Die Scheißgesichter‹ nannte. Von Zeit zu Zeit beschmierten sie sich mit Kot, liefen Amok und erschlugen Männer, Frauen und in der Unterwelt geborene Kinder. Angeblich aßen sie Menschenfleisch.

Wir besaßen eine Art Polizei, aber sie nützte nicht viel. Sie verfügte kaum über Autorität. Schlimmer war, daß wir uns alle für Opfer hielten, die dieses Schicksal verdient hatten. Mit Ausnahme von Mary hatten wir alle dazu beigetragen, daß die Welt in die Luft flog.

Mary begann mich zu hassen. Sie war zu dem Schluß gelangt, daß ich Rae getötet hatte. Es war eine Erkenntnis, die in ihr wuchs wie ein kleines Rinnsal, das stetig anschwillt, bis es zu einer Sturzflut des Hasses wird. Sie sprach selten mit mir. Sie nagelte ein Bild von Rae an die Wand und betrachtete es beinahe unablässig.

Oben war sie eine Künstlerin gewesen und nahm nun diese Beschäftigung wieder auf. Sie bastelte sich einen Satz Werkzeuge, stellte Farben her und wurde Tätowiererin. Jeder kam zu ihr, um eine Zeichnung zu bekommen. Und obwohl alle verschieden waren, schienen sie alle eines zu sagen: Ich habe es vermasselt. Ich habe die Welt in die Luft gejagt. Brandmarke mich!

Tag für Tag arbeitete sie an ihren Tätowierungen, hatte immer weniger mit mir zu tun und vertiefte sich immer mehr in diese Arbeit, bis sie mit Haut und Nadeln genauso geschickt umging wie in der Oberwelt mit Leinwand und Pinseln. Als wir eines Nachts auf unseren getrennten Pritschen lagen und so taten, als schliefen wir, sagte sie plötzlich zu mir: »Ich möchte nur, daß du weißt, wie sehr ich dich hasse.«

»Ich weiß«, antwortete ich.

»Du hast Rae getötet.«

»Ich weiß.«

»Sag, daß du sie getötet hast, du Schwein. Sag es!«

»Ich habe sie getötet«, sagte ich, und es war mir ernst damit.

Am nächsten Tag verlangte ich ebenfalls eine Tätowierung. Ich erzählte ihr von dem Traum, der mich jede Nacht heimsuchte. Es war dunkel, und aus der Dunkelheit kamen wirbelnde, leuchtende Wolken, die zu einem Pilz verschmolzen. Aus ihm trat die torpedoförmige Bombe hervor, deren Nase zum Himmel gerichtet war und die auf lächerlich dünnen Cartoonbeinchen daherstolzierte.

Auf die Bombe war ein Gesicht gemalt – das meine. Dann wechselte plötzlich der Schauplatz des Traums, und ich blickte mit den Augen des gemalten Gesichts in die Welt. Vor mir befand sich meine Tochter. Nackt. Sie lag auf dem Boden. Ihre Beine waren weit gespreizt. Ihr Geschlechtsteil glänzte wie ein nasser Cañon.

Ich/die Bombe stürzte in sie, zog die lächerlichen Beine hinter mir her, und sie schrie. Ich hörte ihren Schrei hallen, während ich durch ihren Bauch tauchte, oben auf ihrem Kopf herauskam und dann einen tödlichen Orgasmus erreichte. Der Traum endete, wo er begonnen hatte. Eine pilzförmige Wolke. Dunkelheit.

Als ich Mary den Traum erzählte und sie bat, ihn mit ihrer Kunst zu deuten, antwortete sie: »Mach deinen Rücken frei«, und so begann die Zeichnung. Jedesmal zwei Zentimeter Arbeit – schmerzhafte Zentimeter. Dafür sorgte sie.

Ich beschwerte mich kein einziges Mal. Sie setzte die Nadeln so energisch an und stach so tief ins Fleisch, wie sie konnte, und obwohl ich manchmal stöhnte oder aufschrie, bat ich sie nie, aufzuhören. Ich spürte, wie die zarten Hände meinen Rücken berührten und liebte es. Die Nadeln. Die Hände. Die Nadeln. Die Hände.

Wenn das so lustig war, fragst du, warum bin ich dann hinaufgegangen?

Du stellst so bohrende Fragen, Tagebuch. Das tust du tatsächlich, und ich bin froh, daß du diese Frage gestellt hast. Wenn ich es dir erzähle, wird es hoffentlich wie ein Abführmittel wirken. Wenn ich die ganze Scheiße rauslasse, werde ich vielleicht morgen aufwachen und mich wesentlich besser fühlen.

Klar. Und es wird auch der Beginn einer neuen Pepsi-Generation sein. Das Ganze wird ein böser Traum gewesen sein. Der Wecker wird klingeln, ich werde aufstehen, eine Schale Reisflocken essen und meine Krawatte binden.

Okay, Tagebuch. Die Antwort. Etwa zwanzig Jahre, nachdem wir hinuntergegangen waren, fand eine Handvoll von uns, daß es oben nicht schlimmer sein konnte als unten. Wir beschlossen nachzusehen. Ganz einfach. Mary und ich sprachen sogar ein wenig miteinander. Wir klammerten uns beide an die verrückte Vorstellung, daß Rae vielleicht überlebt hatte. Sie mußte jetzt achtunddreißig sein. Wir hatten uns unter Umständen grundlos wie Ungeziefer in der Unterwelt versteckt. Vielleicht gab es oben eine tapfere, neue Welt.

Ich weiß noch, daß ich all das dachte, Tagebuch, und es sogar halb glaubte.

Wir rüsteten zwei Zwanzigmeterfahrzeuge aus, die in der Unterwelt als Transportmittel benutzt wurden, gaben die halb vergessenen Codes ein, die die Fahrstühle öffneten, und fuhren mit den Fahrzeugen hinein. Die Laser der Fahrstühle zerschnitten die Trümmer vor ihnen, und wir befanden uns bald in der Oberwelt. Die Türen gingen auf, und wir erblickten durch graugrüne Wolken gefiltertes Sonnenlicht und eine wüstenartige Landschaft. Ich wußte sofort, daß es jenseits des Horizonts keine tapfere neue Welt gab. Die Welt war brennend zur Hölle gefahren, und von Millionen Jahren menschlicher Entwicklung waren nur ein paar jämmerliche Menschen übrig geblieben, die unten wie Würmer lebten und ein paar weitere, die oben ebenfalls wie Würmer herumkrochen.

Wir kreuzten etwa eine Woche herum und gelangten schließlich dorthin, wo einmal der Pazifische Ozean gewesen war. Nur gab es dort kein Wasser mehr, sondern nur noch die gesprungene Schwärze.

Wir fuhren eine weitere Woche am Ufer entlang und erblickten endlich Leben. Einen Wal. Jakob kam sofort auf die Idee, einen zu schießen und sein Fleisch zu kosten.

Er tötete ihn mit einem Hochleistungsgewehr, und er und sieben weitere Leute schnitten Stücke ab und nahmen das Fleisch mit, um es zu kochen. Sie luden uns zu der Mahlzeit ein, aber das Fleisch sah grünlich aus und enthielt kaum Blut, daher warnten wir sie davor. Jakob und die anderen aßen es dennoch. »So haben wir wenigstens etwas zu tun«, meinte Jakob.

Etwas später erbrach Jakob Blut, seine Gedärme kochten ihm zum Mund heraus, und bald darauf ging es allen so, die von dem Fleisch gegessen hatten. Sie krochen wie ausgeweidete Hunde auf dem Bauch herum und starben. Wir konnten überhaupt nichts für sie tun. Wir konnten sie nicht einmal begraben, dazu war der Boden zu hart. Wir stapelten sie wie Klafterholz am Strand auf, verlegten unser Lager und versuchten, uns daran zu erinnern, was Mitleid ist.

Und während wir in dieser Nacht schliefen, so gut es ging, kamen die Rosen.

Ich muß zugeben, Tagebuch, daß ich nicht wirklich weiß, wovon die Rosen leben, aber ich habe eine Idee. Und da du dich bereit erklärt hast, meine Geschichte anzuhören – auch wenn du es nicht getan hast, bekommst du sie zu hören – werde ich Logik und Phantasie kombinieren und vielleicht damit die Wahrheit erraten.

Die Rosen lebten unterirdisch im Bett des Ozeans und kamen nachts heraus. Bis dahin hatten sie als Parasiten von Reptilien und anderen Tieren gelebt, aber jetzt war aus der Unterwelt ein neues Futter heraufgekommen. Menschen. Eigentlich ihre Schöpfer. Wenn man es so sieht, könnte man sagen, daß wir sie erschufen und daß die Tatsache, daß sie sich an unserem Fleisch und Blut gütlich taten, nur eine neue Version von Brot und Wein war.

Ich kann mir vorstellen, wie die pulsierenden Gehirne auf dicken Stengeln durch den Meeresboden dringen, gefiederte Fühler ausstrecken und im Licht des Mondes – der infolge der merkwürdigen Wolken wie eine mit Eiter gefüllte Beule aussieht – die Luft prüfen. Ich kann mir auch vorstellen, wie sie ihre Wurzeln herausziehen und ihre Ranken über den Boden zum Ufer schleppen, auf dem die Leichname liegen.

Aus den dicken Ranken sprossen kleine, dornige Ranken, und diese schlängelten sich das Ufer hinauf und berührten die Leichen. Dann gruben sich die Dornen mit einer peitschenden Bewegung in das Fleisch, und die Ranken glitten wie Schlangen durch die Wunden in die Körper. Sie sonderten eine zersetzende Flüssigkeit ab, die die inneren Organe in wäßrigen Haferbrei verwandelte, und schlürften dann das Gemisch. Die Ranken wuchsen mit erstaunlicher Geschwindigkeit, bewegten und schlängelten sich durch die Körper, ersetzten Nerven, nahmen die Form der Muskeln an, die sie verschlungen hatten, stießen schließlich durch die Hälse in die Schädel vor, aßen Zungen und Augäpfel und saugten die mausgrauen Gehirne wie Schleimsuppe auf. Die Schädel explodierten wie Schrapnelle, die Rosen erblühten, ihre zahnharten Blütenblätter bildeten schöne rote und gelbe Blumen, und Stücke von menschlichen Köpfen baumelten von ihnen herab wie zerbrochene Melonenschalen.

Im Zentrum dieser Blüten pulsierte ein frisches, schwarzes Gehirn, und die gefiederten Fühler tasteten die Luft neuerlich nach Nahrung und Brutgebieten ab. Energiewellen schossen von den Blumengehirnen durch die endlosen Meilen von Ranken innerhalb der Körper, und da sie Nerven, Muskeln und lebenswichtige Organe ersetzt hatten, stellten sie die Körper auf die Beine. Dann wandten die Leichen ihre Köpfe den Zelten zu, in denen wir schliefen, und die blühenden Kadaver machten sich auf den Weg, um diejenigen von uns, die noch übrig waren, ihrem Strauß einzuverleiben.

Ich sah den ersten Rosenkopf, während ich pißte.

Ich hatte das Zelt verlassen und war zum Ufer hinuntergegangen, um mich zu erleichtern, als ich ihn aus dem Augenwinkel erblickte. Die Blüte brachte mich zuerst auf die Idee, daß es sich um Susan Myers handelte. Sie trug eine dichte, wollige Afrofrisur, die ihren Kopf wie eine Löwenmähne umgab, und die Form des Dings erinnerte mich an ihre Gestalt. Doch als ich den Reißverschluß zuzog und mich umdrehte, war es keine Afrofrisur, sondern eine Blume, die aus Jacob wuchs. Ich erkannte ihn an seiner Kleidung und an dem Stück seines Gesichts, das an einem der Blütenblätter hing wie ein abgetragener Hut an einem Haken.

Im Zentrum der blutroten Blume pulsierte ein Sack, und rings um ihn wanden sich wurmartige Organe. Genau unterhalb des Gehirns befand sich ein kleiner Rüssel. Er streckte sich mir entgegen wie ein erigierter Penis. An seiner Spitze, in der Öffnung, erblickte ich große Dornen.

Der Rüssel gab ein stöhnendes Geräusch von sich, und ich stolperte zurück. Jacobs Körper erschauerte kurz, als wäre ihm plötzlich kalt, und dann brach durch sein Fleisch und seine Kleidung vom Hals bis zu den Füßen eine Masse von bis zu anderthalb Meter langen dornigen, schwankenden Ranken.

Mit einer beinahe unsichtbaren Bewegung schlenkerten sie von Westen nach Osten, zerfetzten meine Kleidung, rissen mir die Haut auf, zogen mir die Beine unter dem Körper weg. Es war wie ein Schlag mit der neunschwänzigen Katze. Benommen richtete ich mich auf Hände und Knie auf und kroch davon. Die Ranken peitschten meinen Rücken und meinen Hintern und schnitten tief ein.

Jedesmal, wenn ich auf die Füße kam, brachten sie mich zu Fall. Die Dornen schnitten nicht nur, sie brannten wie heiße Eiszapfen. Ich riß mich endlich von einem Netz von Ranken los, durchschnitt den letzten Schößling und rannte davon.

Ohne es zu merken, lief ich zum Zelt zurück. Mein Körper fühlte sich an, als hätte ich auf einem Bett aus Nägeln und Rasierklingen gelegen. Ich hatte mit dem Unterarm die Dornen abgewehrt, und er schmerzte an dieser Stelle entsetzlich. Während ich lief, warf ich einen Blick auf ihn. Er war mit Blut bedeckt. Eine etwa sechzig Zentimeter lange Ranke wand sich wie eine Viper um ihn. Ein Dorn hatte eine tiefe Wunde in meinen Arm gerissen, und die Ranke schob eines ihrer Enden in die Wunde.

Ich hielt mir schreiend den Unterarm vors Gesicht, als hätte ich ihn eben erst entdeckt. Wo die Ranke eingedrungen war, kräuselte sich das Fleisch und schwoll an wie die bevorzugte Ader eines Rauschgiftsüchtigen. Der Schmerz war überwältigend. Ich zerrte an der Ranke und riß sie los. Die Dornen hatten sich wie Angelhaken in mich gegraben.

Der Schmerz war so fürchterlich, daß ich auf die Knie fiel, aber ich hatte die Ranke aus meinem Körper entfernt. Sie wand sich in meiner Hand, und ein Dorn drang mir in die Handfläche. Ich warf die Ranke in die Dunkelheit. Dann kam ich hoch und lief wieder zum Zelt.

Die Rosen waren offenbar bereits eine Zeitlang, bevor ich Jacob erblickte, am Werk gewesen, denn als ich schreiend in das Lager stürzte, erblickte ich Susan, Ralph, Casey und noch einige, deren Köpfe bereits blühten und deren Schädel zerfielen wie zerbrochenes Kinderspielzeug.

Jane Calloway stand vor einem von den Rosen durchwucherten Körper; die Leiche hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt, die Ranken schossen aus dem Leichnam hervor, webten ein Netz um sie, rissen, glitten in sie und brachen ab. Der Rüssel drang ihr in den Mund, von dort in den Hals und drückte ihren Kopf nach hinten. Aus dem Schrei, zu dem sie angesetzt hatte, wurde ein Gurgeln.

Ich versuchte, ihr zu helfen, aber als ich in ihre Nähe kam, schlugen die Ranken nach mir, und ich mußte zurückspringen. Ich sah mich nach etwas um, womit ich nach dem verdammten Ding schlagen konnte, fand aber nichts. Als ich mich Jane wieder zuwandte, drangen schon Ranken aus ihren Augen, und ihre Zunge, die nur noch lavadickes Blut war, tropfte aus ihrem Mund auf ihre Brüste, die wie ihr gesamter Körper mit stechenden Ranken bedeckt waren.

Ich lief davon. Ich konnte nichts für Jane tun. Ich sah andere Menschen, die von den Händen der Leichen und von den Ranken umklammert wurden, aber jetzt dachte ich nur noch an Mary. Unser Zelt stand im hinteren Teil des Lagers, und ich lief, so schnell ich konnte, dorthin.

In dem Augenblick, in dem ich anlangte, stolperte sie aus dem Zelt heraus. Die Schreie der anderen hatten sie geweckt. Sie sah mich und erstarrte. Als ich sie endlich erreichte, kamen zwei von Ranken besessene Körper von der anderen Seite auf das Zelt zu. Ich faßte Mary an der Hand und zog sie fort. Wir erreichten eines der Fahrzeuge, und ich schob sie hinein.

In dem Augenblick, in dem ich die Türen versperrte, erschienen Jacob, Susan, Jane und noch einige vor dem Wagen und beugten sich über den Kühler. Die Fühler und die Gehirnsäcke vibrierten wie Banner bei starkem Wind. Hände glitten schmierig über die Windschutzscheibe. Die Ranken schlugen, kratzten und klirrten wie dünne Fahrradketten auf das Glas.

Ich startete das Fahrzeug, stieg auf das Gaspedal, und die Rosenköpfe flogen davon. Jacob wurde auf den Kühler geschleudert und zerplatzte zu einem Sprühregen aus Fleisch, eitrigem Sekret und Blütenblättern.

Ich hatte das Fahrzeug nie gefahren und hatte deshalb Schwierigkeiten mit der Steuerung. Aber das spielte keine Rolle. Der Verkehr war nicht gerade dicht.

Nach etwa einer Stunde drehte ich mich zu Mary um. Sie starrte mich an, und ihre Augen waren wie die beiden Läufe eines doppelläufigen Gewehrs. Sie schienen zu sagen: ›Auch daran bist du schuld‹, und in gewissem Sinn hatte sie recht. Ich fuhr weiter.

Bei Tagesanbruch erreichten wir den Leuchtturm. Ich weiß nicht, wieso er überlebt hatte. Einer dieser verrückten Zufälle. Sogar das Glas war ganz geblieben. Er sah wie ein riesiger Finger aus, der uns den Vogel zeigte.

Der Tank des Vehikels war beinahe leer, deshalb fand ich, daß wir genauso gut hierbleiben konnten. Wir hatten wenigstens eine Unterkunft, etwas, das wir befestigen konnten. Es wäre unvernünftig gewesen weiterzufahren, bis der Treibstoff verbraucht war. Es gab keine Tankstellen mehr, und es würde vielleicht keine brauchbare zweite Unterkunft mehr geben.

Mary und ich luden (wie immer schweigend) die Vorräte vom Vehikel ab und schafften sie in den Leuchtturm. Wir besaßen Essen, Wasser, Chemikalien für das chemische WC, allerhand Krimskrams und Kleidung für ein Jahr. Wir verfügten auch über einige Waffen. Einen 0,45 Colt-Revolver, zwei Schrotflinten Kaliber 12, eine 0,38 und genügend Munition, um einen kleinen Krieg auszutragen.

Als alles ausgeladen war, fand ich im Erdgeschoß ein paar alte Möbel und verbarrikadierte mit ihnen sowohl die Tür am unteren als auch die am oberen Ende der Treppe. Als ich fertig war, fiel mir ein Satz aus einer Geschichte ein, die ich einmal gelesen hatte, ein Satz, der mich immer beunruhigt hatte. Er lautete ungefähr: »Jetzt sind wir für die Nacht eingeschlossen.«

Tage. Nächte. Einander immer gleich. Miteinander, unseren Erinnerungen und der schönen Tätowierung eingeschlossen.

Einige Tage später entdeckte ich die Rosen. Es war, als hätten sie uns gewittert. Vielleicht stimmte das sogar. Wenn ich sie durch den Feldstecher aus dieser Entfernung sah, erinnerten sie mich an alte Frauen mit hellen Sonnenhüten.

Sie brauchten den ganzen Tag, um den Leuchtturm zu erreichen, und sie kreisten ihn zielstrebig ein. Wenn ich am Geländer erschien, hoben sie die Köpfe und stöhnten.

Und damit sind wir beim heutigen Tag angelangt, Tagebuch.

Ich habe geglaubt, daß ich alles erzählt habe, Tagebuch. Daß ich den einzigen Teil meiner Lebensgeschichte erzählt habe, den ich jemals erzählen wollte, aber jetzt mache ich weiter. Man kann einen guten Weltzerstörer nicht bändigen.

Ich habe vergangene Nacht meine Tochter gesehen, die seit Jahren tot ist. Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie war nackt, lächelte mich an und wollte Huckepack reiten.

Es war so.

Gestern nacht war es kalt. Wahrscheinlich kommt der Winter. Ich war von meiner Pritsche auf den kalten Fußboden gerollt. Vielleicht war ich dadurch aufgewacht. Durch die Kälte. Oder es geschah instinktiv.

Es war in bezug auf die Tätowierung ein besonders wunderbarer Abend gewesen. Das Gesicht war so deutlich herausgearbeitet, daß es aus meinem Rücken hervorzuragen schien. Es war endlich deutlicher als der Atompilz. Die Nadeln bohrten sich hart und tief in meine Haut, aber ich habe sie so oft zu spüren bekommen, daß ich kaum noch Schmerz empfinde. Nachdem ich die Schönheit des Bildes im Spiegel betrachtet hatte, ging ich glücklich zu Bett, oder jedenfalls so glücklich, wie ich sein kann.

Während der Nacht rissen die Augen auf und die Nähte platzten auf, aber ich merkte es erst, als ich versuchte, mich von dem kalten Steinboden zu erheben und mein Rücken an ihm festklebte, weil das Blut getrocknet war.

Ich riß mich los und stand auf. Es war dunkel, aber der Mond schien in dieser Nacht hell, und ich ging zum Spiegel, um mich anzusehen. Es war so hell, daß ich Raes Spiegelung deutlich wahrnahm, die Farbe ihres Gesichtes, die Farbe der Wolke. Die Nähte waren aufgeplatzt, die Wunden waren jetzt weit geöffnet, und in den Wunden sah ich Augen, o Gott, Raes blaue Augen. Ihr Mund lächelte mich an, und ihre Zähne waren sehr weiß.

Ja, natürlich, ich höre dich, Tagebuch. Ich höre, was du sagst. Ich habe auch daran gedacht. Mein erster Eindruck war, daß ich jetzt endgültig den Verstand verloren hatte. Doch das stimmt nicht. Ich habe nämlich eine Kerze angezündet und sie über meine Schulter gehalten, und dank der Kerze und dem Mondlicht konnte ich noch deutlicher sehen. Es war tatsächlich Rae, nicht nur eine Tätowierung.

Ich schaute zu meiner Frau auf der Pritsche hinüber, die mir wie immer den Rücken zudrehte. Sie hatte sich nicht gerührt.

Ich wandte mich wieder dem Spiegelbild zu. Ich konnte meinen Körper kaum erkennen, sondern sah nur Raes Gesicht, das aus der Wolke lächelte.

»Rae«, flüsterte ich, »bist du es?«

»Aber, aber, Daddy«, sagte der Mund im Spiegel, »das ist eine dumme Frage. Natürlich bin ich es.«

»Aber … du bist … du bist …«

»Tot?«

»Ja … hat es … hat es sehr weh getan?«

Sie kicherte so laut, daß der Spiegel zitterte. Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich war davon überzeugt, daß Mary aufwachen würde, aber sie schlief weiter.

»Der Tod trat augenblicklich ein, Daddy, und dennoch war es der schlimmste Schmerz, den man sich vorstellen kann. Ich werde dir zeigen, wie weh es getan hat.«

Die Kerze erlosch, und ich ließ sie fallen. Ich brauchte sie ohnehin nicht. Der Spiegel wurde hell, und Raes Lächeln reichte von einem Ohr zum anderen – buchstäblich –, das Fleisch auf ihren Knochen wirkte wie Kreppapier vor einem starken Ventilator, und dieser Ventilator blies die Haare von ihrem Kopf, die Haut von ihrem Schädel und schmolz die schönen, blauen Augen und die leuchtend weißen Zähne zu einer fauligen Masse, die die Farbe und Konsistenz von frischer Vogelscheiße hatte. Dann war nur noch der Schädel da; er brach auseinander und flog nach hinten in die dunkle Welt des Spiegels, und nun gab es kein Spiegelbild mehr, sondern nur noch die davonfliegenden Fragmente eines Lebens, das einmal gewesen und jetzt nur noch wirbelnder, kosmischer Staub war.

Ich schloß die Augen und sah weg.

»Daddy?«

Ich öffnete die Augen und blickte über die Schulter in den Spiegel. Rae war wieder da und lächelte aus meinem Rücken.

»Es tut mir so leid, mein Liebling«, sagte ich.

»Uns auch«, antwortete sie, und im Spiegel schwebten Gesichter an ihr vorbei. Teenager, Kinder, Männer und Frauen, Babies, kleine Embryos, die um ihren Kopf wirbelten wie Planeten um die Sonne. Ich schloß die Augen wieder, aber ich konnte sie nicht geschlossen lassen. Als ich sie neuerlich öffnete, waren die zahllosen Toten und all jene, die nie die Chance gehabt hatten zu leben, fort. Nur Rae war da.

»Komm nahe an den Spiegel heran, Daddy.«

Ich ging rückwärts zum Spiegel. Ich schob mich an ihn heran, bis die heißen Wunden, die Raes Augen waren, das kalte Glas berührten, und die Wunden heißer und heißer wurden. Und Rae rief: »Laß mich Huckepack reiten, Daddy.« Dann spürte ich ihr Gewicht auf meinem Rücken, nicht das Gewicht eines Teenagers oder das Gewicht eines sechsjährigen Mädchens, sondern eine schwere Last, als liege die Welt auf meinen Schultern und drücke mich zu Boden.

Ich sprang vom Spiegel weg und hüpfte jubelnd im Raum herum, genau wie damals im Park. Ich lief im Kreis und warf dabei immer wieder einen Blick in den Spiegel. Rae saß schlank und nackt rittlings auf mir, und ihr rotes Haar flog um ihren Kopf, wenn ich mich drehte. Als ich wieder am Spiegel vorbeikam, sah ich, daß sie sechs Jahre alt war. Eine weitere Runde, und ich erblickte ein Skelett mit rotem Haar, das eine Hand erhoben hatte, dessen Kiefer offen standen und das schrie: »Treib sie weiter, Cowboy!«

»Wie?« stieß ich hervor, während ich weiter sprang und bockte und Rae den schönsten Ritt ihres Lebens schenkte. Sie beugte sich zu meinem Ohr, und ich spürte ihren warmen Atem. »Du willst wissen, wieso ich hier bin, Daddy? Ich bin hier, weil du mich geschaffen hast. Einmal lagst du zwischen Mutters Beinen, und ihr beide habt mich mit all der Liebe, die in euch war, ins Leben gestoßen. Diesmal hast du mich mit deinem Schuldbewußtsein und mit Mutters Haß ins Leben gestoßen. Ihre bohrenden Nadeln, dein gewölbter Rücken. Und jetzt bin ich zu einem letzten Ritt zurückgekommen, Daddy. Reite, du Schwein, reite!«

Ich hatte mich die ganze Zeit gedreht, und als ich jetzt in den Spiegel blickte, sah ich von einer Wand zur anderen Gesichter, die auftauchten und verschwanden, wie lächelnde Sterne. Und alle diese Lächeln wurden breit, und die Worte kamen im Chor: »Wo warst du, als sie die Große Bombe abwarfen?«

Jedesmal, wenn ich mich drehte und wieder in den Spiegel blickte, war es eine neue Szene. Heftige, brennende Winde versengten die Welt. Babies verwandelten sich in Fleischsülze, Haufen von verkohlten Knochen, Gehirne kochten aus den Köpfen von Männern und Frauen, aus den Ohren, dem Mund und den Augen wie aus verstopften WCs, die übergehen, der Allmächtige, Glory Halleluja, unsere ist größer als eure, die Bomben fallen, der Spiegel wird weiß wie ein Pilz, dann wieder hell. Ich drehe mich. Rae drückt sich in meinen Rücken und schmilzt wie Butter auf einem Rost, löst sich in den Augenwunden auf meinem Rücken auf, und schließlich bin ich allein und breche unter der Last der Welt auf dem Boden zusammen. Mary wachte nie mehr auf.

Die Ranken überlisteten mich.

Eine einzelne Ranke fand irgendwo unten eine Spalte, wand sich die Treppe herauf und glitt unter der Tür hindurch, die in den Turm führt. Marys Pritsche lag in der Nähe der Tür, und während ich nachts schlief, mich später vor dem Spiegel drehte und dann auf dem Boden lag, kroch die Ranke zu Marys Pritsche, zwischen ihre Beine und drang mühelos in sie ein.

Wahrscheinlich sollte ich anerkennen, daß der Ranke etwas gelungen ist, was ich seit Jahren nicht mehr geschafft habe, nämlich in Mary einzudringen, Tagebuch. O Gott, ist das komisch, Tagebuch, wirklich komisch. Ein weiterer kleiner Wissenschaftlerwitz. Wollen wir sagen, daß es ein verrückter Wissenschaftlerwitz ist? Denn nur ein Verrückter würde mit Menschenleben spielen, indem er ständig versucht, eine noch größere und bessere Todesmaschine zu erzeugen.

Du fragst, was aus Rae geworden ist?

Ich werde es dir sagen. Sie befindet sich in mir. Mein Rücken spürt die Last. Sie dreht sich in meinen Eingeweiden wie ein Korkenzieher. Ich habe vor einem Augenblick in den Spiegel geschaut; die Tätowierung sieht nicht mehr aus wie vorher. Die Augen haben sich in verkrustete Wunden verwandelt, und das Gesicht scheint mit Schorf bedeckt zu sein. Es ist, als hätten die Bitterkeit, die meine Seele ausmachte, die Gedankenlosigkeit, die Kurzsichtigkeit, das Schuldbewußtsein innerlich geschwärt und das Bild mit Pusteln, Knoten und Grind verunstaltet.

Um es laienhaft auszudrücken, Tagebuch, mein Rücken ist infiziert. Infiziert mit dem, was ich bin. Ein blinder, vernunftloser Narr.

Die Frau?

Ach, die Frau. Mein Gott, wie habe ich diese Frau geliebt. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr richtig berührt, nur die wunderbaren Hände auf meinem Rücken gespürt, wenn sie die Nadeln in das Fleisch trieb, aber ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Es war keine Liebe mehr, die glühte, aber sie war immer noch vorhanden, obwohl ihre Liebe zu mir längst erloschen war.

Als ich heute morgen vom Fußboden aufstand und Raes Gewicht und die Last der Welt auf meinen Schultern spürte, erblickte ich die Ranke, die unter der Tür hervorkam und sich nach mir streckte. Ich schrie ihren Namen. Sie rührte sich nicht. Ich lief zu ihr und sah, daß es zu spät war. Bevor ich nach ihr greifen konnte, kräuselte sich ihr Fleisch und bildete Höcker als wuselte eine Mäuseschar unter einer Bettdecke. Die Ranken waren am Werk.

Ich konnte nichts für sie tun.

Aus einem Stuhlbein und einer alten Decke fertigte ich eine Fackel an, setzte sie in Brand, verbrannte die Ranke zwischen ihren Beinen, sah zu, wie sie rauchend unter der Tür hinauskroch. Dann holte ich ein Brett, nagelte es unten an die Tür und hoffte, daß es die anderen wenigstens eine Zeitlang fernhalten wird. Ich habe eine der zwölfkalibrigen Flinten geholt und geladen. Sie liegt neben mir auf dem Schreibtisch, aber sogar ich weiß, daß ich sie nie benutzen werde. Ich wollte einfach etwas tun, wie Jacob sagte, als er den Wal tötete und aß. Etwas tun.

Ich kann kaum noch schreiben, weil mein Rücken und meine Schultern so fürchterlich schmerzen. Raes Gewicht und die Last der Welt sind schuld daran.

Ich bin gerade vom Spiegel zurückgekommen; von der Tätowierung ist kaum etwas übrig. Nur noch ein wenig blaue und schwarze Tinte, ein Hauch von Rot, der einmal Raes Haar war. Es sieht jetzt wie ein abstraktes Gemälde aus. Die Zeichnung ist zerstört, die Farben verrinnen. Der Rücken ist stark geschwollen. Ich sehe aus wie der Glöckner von Notre Dame.

Was ich tun werde, Tagebuch?

Wie immer bin ich froh, daß du diese Frage stellst. Ich habe mir nämlich folgendes ausgedacht.

Ich könnte Marys Körper über das Geländer werfen, bevor er erblüht. Das könnte ich tun. Dann könnte ich meinen Rücken behandeln. Vielleicht würde er sogar heilen, obwohl ich es bezweifle. Rae würde es nicht zulassen, das weiß ich jetzt schon. Und ich nehme es ihr nicht übel. Ich stehe auf ihrer Seite. Ich bin nur ein lebender Toter, aber das bin ich seit Jahren gewesen.

Ich könnte mir das Gewehr ans Kinn setzen und den Abzug mit der Zehe betätigen, oder ihn mit der Feder zurückschieben, mit der ich in dich schreibe, Tagebuch. Das wäre doch etwas. Mein Gehirn würde an die Decke fliegen, und ich würde dich mit meinem Blut bespritzen.

Aber, wie gesagt, ich habe das Gewehr nur geladen, um etwas zu tun. Ich würde es nie gegen Mary oder mich verwenden.

Ich brauche nämlich Mary, ich möchte, daß sie Rae und mich zum letzten Mal so umarmt, wie sie es im Park getan hat. Sie kann es. Es gibt einen Weg.

Ich habe alle Vorhänge zugezogen und für die Stellen, wo es keine gibt, Decken als Vorhänge verwendet. Die Sonne wird bald aufgehen, und ich will dieses Licht nicht hier drinnen haben. Ich schreibe bei einer Kerze, die den ganzen Raum in warmes Licht taucht. Ich hätte gern etwas Wein. Ich möchte, daß die Atmosphäre stimmt.

Mary beginnt auf ihrer Pritsche zu zucken. Ihr Hals ist an der Stelle geschwollen, an der sich die Ranken stauen, während sie sich zu ihrem Lieblingsfutter, dem Gehirn, drängen. Bald wird die Rose erblühen (ich hoffe, daß es eine gelbe ist; gelb war ihre Lieblingsfarbe und hat ihr gut gestanden), und Mary wird mich holen.

Wenn sie es tut, werde ich ihr den nackten Rücken zudrehen. Die Ranken werden herausschnellen und sich in meinem Fleisch verhaken, bevor Mary mich erreicht, aber das kann ich ertragen. Ich bin Schmerzen gewöhnt. Ich werde mir einreden, daß die Dornen Marys Nadeln sind. Ich werde stehenbleiben, bis sie ihre Arme um mich schlingt und ihr Körper sich an die Wunde preßt, die sie in meinen Rücken gemacht hat, die Wunde, die ihre Tochter Rae ist. Sie wird mich umschlingen, damit die Ranken und der Rüssel ans Werk gehen können. Und während sie mich hält, werde ich ihre schönen Hände erfassen und sie auf meine Brust drücken, und wir drei werden es wieder mit der Welt aufnehmen. Ich werde die Augen schließen und zum letzten Mal voll Entzücken ihre schönen, weichen Hände spüren.


Originaltitel: ›Tight Little Stitches in a Dead Man’s Back‹

Copyright © 1986 by Joe Lansdale

(erstmals erschienen in der Anthologie ›Nukes‹, hrsg. von J. Maclay & Ass., Baltimore)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hilde Linnert

Illustriert von John Stewart

Загрузка...