George Turner Nicht vor den Kindern



Zwei Ängste – man hätte sie ohne weiteres auch als psychopathische Traumata bezeichnen können – hatte Marianne mit allen Mitgliedern ihres begüterten sozialen Regnums, in dem keiner es nötig hatte zu arbeiten, gemein.

Die erste war der Tod. Die unglaublich teuren antigeriatrischen Behandlungen konnten das Ende nicht ewig hinauszögern und konnten auch nicht – o welch furchterregender Gedanke – vor Unfällen schützen. Der Unfalltod eines Mitglieds dieser exklusiven Kreise war ein Ereignis, über das man nicht sprach, die Beisetzung geheimgehalten und hastig. ›Tod‹ war, wie ›Altern‹, ein schmutziges Wort.

Die andere war der Generationsunterschied, ein Ausdruck, der für das zweiundzwanzigste Jahrhundert hätte erfunden worden sein können, in dem, wie in Mariannes Fall, eine Familie acht Generationen umfassen mochte, die sich alle verabscheuten, und zwar nicht von Herzen. Insbesondere haßten die Jungen die Alten, denen die Anzeichen des Alters ins Gesicht geschrieben standen, und weigerten sich, die Verwandtschaft anzuerkennen.

Die achte Generation, die Kinder, nannte sich ›Befreit‹, und sie ertrugen ihre Eltern mit lässiger Zuneigung, Langeweile, Resignation, Schreikrämpfen oder offener Ablehnung, je nach Veranlagung. Nichts Neues unter der Sonne.

Und Marianne war von Gott mit einer zusätzlichen persönlichen Plage gestraft worden, einer Tochter, Ellaline.

Gramerfüllt lief sie zu ihrem Vater, der mit einundsiebzig kaum älter aussah als sie selbst. Er lauschte ihrer Klage mit einer Geduld, die zur Neige zu gehen drohte, als ihre endlosen Umschreibungen sich einfach nicht mit einem unanständigen Wort abfinden wollten. Ihr soziales Regnum hielt sich für neoviktorianisch und war einer schier erstickend vornehmtuerischen Prüderie fähig.

Schließlich erregte ein Satz, der an Unanständigkeit grenzte, seine abschweifende Aufmerksamkeit. »Was meinst du damit, arm? Was für arme Kinder? Wo – wie könnte Ellaline arme Kinder kennenlernen?«

Marianne war den Tränen nahe. »Sie gehen in die Unterstadt – manchmal in ganzen Gruppen – entziehen sich ihren Tutoren – laufen einfach drauflos – sie verkehren mit den … den Armen. Ich glaube sie hört …« – ihre Stimme senkte sich – »… abscheuliche Worte.«

Er hatte keine Zeit für die hochgestochene neoviktorianische Art. »Eine Phase, meine Liebe, eine Phase. Sie wird dem entwachsen.«

»Das mag schon sein, aber die Leute könnten es herausfinden. Diese gesellschaftliche Schande!«

»Machst du dir Sorgen um Ellaline oder um dein gesellschaftliches Ansehen?«

Überrascht dachte sie darüber nach. »Beides. Es muß eine Grenze geben. Arme Menschen sind genauso schlimm wie Befreite Freizügigkeit. Die Kinder sollten nichts von ihnen erfahren.«

Brutal sagte er: »Früher oder später müssen sie es. Dein Leben hat dieses Wissen ja auch nicht zerstört.«

Marianne war beleidigt. »Ich war eine erwachsene Frau, imstande, sozialen Schock zu ertragen.« Sie verbrachte ein oder zwei Sekunden damit, ihre innere Stärke zu bewundern, bevor sie wieder in die Rolle der anhänglichen Tochter verfiel. »Kannst du mir nicht einen Rat geben, Vati?«

Er schenkte dem Befreiten Regnum wenig Beachtung, das schließlich von seinem eigenen etwa sechzig Jahre trennten. Er griff nach einem vertrauten Strohhalm. »Warum sprichst du nicht mit deiner Urgroßmutter, sie ist der kluge Kopf der … äh … Seniorenabteilung.«

Mariannes Ohren wurden feuerrot. Über jemanden zu sprechen, von dem einen drei Regna trennten, war taktlos, selbst vom eigenen Vater. Über eine so tiefe Kluft hinweg konnte es nur wenig Kommunikation geben.

Und die Anzeichen des … des Alterns würden so offensichtlich sein.

Sie konnte es nicht tun. Welch bizarren sozialen Sitten mochte sie in diesem verwelkten Regnum begegnen? Und der lüsternen Gerüchteküche zufolge hatten sie keinen Sinn für Zartgefühl.

Mit ungewohnter Ruppigkeit bemerkte ihr Vater, daß die … äh … Seniorin mehr Lebenserfahrung hätte als alle ihre Nachkommen zusammen, und daß Marianne als besorgte Mutter sich zusammenreißen und um ihrer Tochter willen einer Unannehmlichkeit ins Auge sehen sollte.

Die besorgte Mutter, die über die ganze Palette billiger, dramatischer Instinkte, bezogen aus Hypnobüchern und Holospielen, verfügte, erkannte die herausfordernde Wahrheit dieser Bemerkung und begegnete ihr mit grimmiger Entschlossenheit. Mochte ihr Regnum den Kopf schütteln und flüstern, sie jedoch, die unerschrockene Mutter etc …

Abgesehen davon – wenn sie es richtig anstellte, würden sie es vielleicht niemals herausfinden.


Ellaline war dreizehn, übergewichtig, unerfreulich phantasievoll und ein erstklassiges Beispiel für das gereizt verzogene Gesicht, das unter den jungen Befreiten als unerläßlich galt. Die meisten ihrer Altersgruppe waren der Meinung, Befreiung bestünde daraus, den Eltern gegenüber unverschämt und ungehorsam zu sein, und sie gaben sich größte Mühe, aber sogar die Fortgeschrittenen Befreiten hielten Ellaline für ziemlich daneben. Sie hatte begonnen über Dinge zu sprechen, die weniger befreit als vielmehr ausgesprochen unangenehm waren. Sie ging entschieden zu weit.

Ellaline und ihre Freundin (genaugenommen die Tochter der Konditorin ihrer Mutter – eigentlich gehobene Dienerschaft, privilegiert, solange sie sich keine Gleichheit anmaßte) saßen im Park am Rande der Unterstadt im Gras, wo die verwegeneren der armen Kinder manchmal hinkamen. Es war ihr nicht erlaubt, dorthin zu gehen, aber das gehörte zum befreiten Spaß dazu, so wie auch die mit Mißbilligung betrachteten, aber rasend teuren Jeans und Strandschuhe, die die Händler nach Mustern aus dem Historischen Archiv anfertigten. (Marianne verabscheute sie, aber was konnte man schon machen? Das war eben das Diktat der Mode, und sie konnte nicht zulassen, daß ihr Kind von ihren Altersgenossen ausgelacht wurde.)

Jennie hatte für sie ein armes Kind ausfindig gemacht, mit dem sie in befreiter Manier verkehren konnte, einen entfernten Verwandten, über den in der Gesindestube gewöhnlich nicht gesprochen wurde.

Als Dienstbotin war Freundin Jennie nicht gezwungen, der Mode zu folgen, die sich ihre Eltern ohnehin nicht hätten leisten können, und wenn auch ihr Baumwolloverall besser geschnitten war als der zerrissene Einteiler, der das arme Kind bedeckte, so unterschied er sich ansonsten doch nicht sehr davon.

Das arme Kind Jimmy Johnston, vierzehn Jahre alt, beäugte Ellalines Jeans mit einem vermeintlich lüsternen Grinsen und teilte ihr in seinem entsetzlichen Gossengewinsel mit, daß sein Bandenname ›der flotte Harry‹ sei. »Weil ich’n Prachtexemplar habe«, erklärte er und wartete auf das übliche: »Zeig ihn her!«

Sie war nicht interessiert.

»Wülsten nich sehen?« Sie schüttelte den Kopf. Er war beleidigt. »Warum nich?«

Sie zuckte die Achseln; Männlichkeit interessierte sie nicht. Sie wußte nicht, ebensowenig wie Jennie und Jimmy, daß die gerade begonnenen einleitenden Behandlungen das Erwachen ihrer Sexualität um mehrere Jahre hinauszögern würden. Ihre momentane Neugier richtete sich jedenfalls auf eine ganz andere menschliche Eigenschaft.

In autoritärem Tonfall sagte sie: »Ich bin ein Produkt des Befreiten Regnums. Ich will schmutzig reden.«

»So wie Scheiße oder Pisse? Jeder redet schmutzig.«

Ellaline schüttelte heftig ihren blonden Kopf. »Das ist bloß ganz normal schmutzig. Ich meine wie tot und sterben.«

Jennie legte eine Hand an die Lippen und kicherte nervös. Daheim losgelassen hätten diese Worte den Putz von den Wänden gefegt. Ellaline hätte das niemals gewagt, weil ihre Mutter einen Migräneanfall bekommen hätte oder zumindest in Schwermut verfallen wäre; ihr Vater, der selbst zuweilen ganz schöne Kraftausdrücke verwendete, hätte seine Tochter für eine solche Geschmacklosigkeit verprügelt. So etwas tat man einfach nicht! Selbst in der Gesindestube, wo sich niemand die Behandlungen leisten konnte, galt es als schlechter Ton, auch nur das umschreibende ›verscheiden‹, ›von uns gehen‹ oder ›endgültiger Zustand‹ zu gebrauchen.

Jimmy Johnston war verwirrt. »Was is’n schmutzig am Sterben? Jeder stirbt.« (Keine Schulung, keine Erziehung, kein Feingefühl.)

Ellaline verbesserte ihn, sanft – schließlich mußte man Rücksicht nehmen auf jemanden, dem das Schicksal weniger gnädig gesonnen war als einem selbst. »In meiner sozialen Klasse nicht.«

Er betrachtete sie wie eine Mißgeburt. »Dann stimmt das mit den Jektionen, ja?«

»Ich glaube, du meinst die Behandlung. Natürlich stimmt es. Wußtest du das nicht?«

Jennie mischte sich wichtigtuerisch ein. »Den Gossenkindern wird nicht alles erzählt. Es ist nicht gut für sie.«

»Du halt deine verdammte Klappe«, sagte Jimmy zu ihr. »Du bist kein Klassekind wie Ellaline. Wir wissen ’ne Menge.« Er wandte sich wieder Ellaline zu. »Würdest du hundert Jahre lang leben?«

»Für immer.«

»Quatsch!«

»Doch! Für immer!«

»Mein Alter sagt, das tut ihr nicht. Er sagt ihr verlängert es, aber am Ende kratzt ihr ab.«

»Das stimmt einfach nicht! Es gibt kein Ende.«

»Ihr sterbt!«

»Nun, was ist das? Was ist sterben?«

Jimmy starrte sie an und traute seinen Ohren nicht. Jennie murmelte: »Wie verscheiden.«

»Du sei still, Jennie! Ich will, daß er es mir erzählt.«

»Jeder stirbt«, sagte der Junge.

»Das sagst du, aber was ist es?«

»Man wird alt und stirbt.«

Alt? Das war wirklich schmutzig, richtig schmutzige Gossensprache, aber … »Das erklärt es mir nicht. Was geschieht, wenn man stirbt?«

Jimmy war dem Tod noch nie begegnet, aber er hatte seine Vorstellungen davon. »Man wird ganz runzlig überall und das Haar fällt einem aus.« Er erinnerte sich an seine verdammte Nervensäge von einem Großvater. »Man pinkelt sich voll und stinkt und wird bekloppt und fällt tot um. Nicht mehr lebendig.« Das reiche Mädchen war offensichtlich entsetzt, und er frohlockte über sein überlegenes Wissen. Geschah ihr recht, wo sie ihn doch nicht sehen wollte. »Jeder fällt tot um. Dann verfault man und sie verbrennen einen im Leichenhaus.«

Ellaline kreischte ihn an: »Du dreckiger Lügner! Wir bleiben wunderschön und leben für immer. Du bist abscheulich!«

Er haute ihr umgehend eine runter, aber sie war für ihr Alter recht stabil und schlug ihn so fest zurück, daß er sich vor lauter Überraschung auf den Hosenboden setzte.

»Du bist ekelhaft!« Wütend stürmte sie aus dem Park und zog die vor Schreck erstarrte Jennie hinter sich her.

Jimmy, der mit Mut nicht gerade gesegnet war und eine eingefleischte Ehrfurcht vor der besseren Gesellschaft hatte, brüllte ihr nach: »Du warst doch diejenige, die schmutzig reden wollte!«

Während er sich noch fragte, was daran nun eigentlich schmutzig war, zerrte er seine knapp einsachtzig große Gestalt auf die Füße und setzte dabei einen kampflustigen Gesichtsausdruck auf, für den Fall, daß irgendein anderes Gossenkind seiner Altersgruppe den Vorfall beobachtet haben sollte.


Marianne hatte ihre Urgroßmutter noch nie gesehen. Das tat man einfach nicht. Der Name der Frau war Agnes, und sie gehörte dem Regnum der Intellektuellen Frauen an. Marianne stellte es sich unmöglich vor, in diese Periode hineingeboren worden zu sein. Wie kamen normale Frauen, die sich gerne amüsierten, nur mit einer solchen Zeit zurecht? Kein Wunder, daß der Trend sich gegen sie gewandt und in das Hausmütterchen-Regnum umgeschlagen war, obgleich auch das schwer zu ertragen gewesen sein mußte, mit überheblichen Männern, die sich so benahmen, als hätten sie alles in der Hand – nicht so friedlich und großzügig wie das würdevolle Neo-Viktorianische.

Sie hätte den ganzen Plan vielleicht fallen lassen, wäre nicht in den drei Tagen, in denen sie hin und her schwankte, Nachricht von der Szene im Park am Rande der Unterstadt aus der Gesindestube nach oben gesickert (durch ihre selbstgefällig empörte Zofe). Das machte es unmöglich, nicht zu handeln. Ein Wort wie ›Tod‹ im Mund einer Dreizehnjährigen war unerträglich.

Beim Anblick von Agnes’ Haus – viereckig, nüchtern, jede Menge Beton, nur ein kleines, leicht in Ordnung zu haltendes Grundstück – verspürte sie ein seelisches Frösteln. Es stank geradezu nach Intellekt. Würde die Frau einfache, direkte Sprache verstehen?

Der Anblick von Agnes selbst brachte Marianne endgültig aus der Fassung. Ihre Urgroßmutter war – daran gab es keinen Zweifel – mittleren Alters. Marianne war sich nie ganz sicher gewesen, was das Wort bedeutete, erkannte nun jedoch, was es bedeuten mußte: grotesken Verfall. Falten im Gesicht. Graues Haar an den Schläfen. Flecken und beginnende Runzeln auf den Händen. Eine nicht mehr ganz aufrechte Haltung. War dies auch ihre Zukunft? Jedermanns Zukunft? Sie schlug sich diesen Gedanken als morbid aus dem Kopf; Agnes hatte sich lediglich gehenlassen.

»Du bist Mary Ann? Ich habe deine Nachricht erhalten.«

»Marianne.«

»Schon gut – Marianne, wenn das eine Rolle spielt. Steh nicht herum, Frau, komm rein! Ich bin keine gottverdammte Gorgone.«

Mit dem Gedanken. O doch, das bist du, folgte Marianne ihr in das funktionell viereckige Wohnzimmer mit seinen stabilen, funktionellen Möbeln und den mattgetönten Wänden. Kein Multiphasenfurnier für stimmungsabhängiges Dekor, keine Beleuchtungskonsole, kein Flex-Moment-Fluß im Design des Teppichs. Alles für immer gleich. Intellektuelle Frauen! Erkannten sie nicht ihre eigene Schäbigkeit?

Und die Bilder! Zweifellos Originale des zwanzigsten Jahrhunderts und ungeheuer wertvoll, aber – der eckige Mann mit beiden Augen auf der einen Seite seiner Nase! Und das riesige Ding in drei verschiedenen Schattierungen von Weiß mit einem vereinzelten, haßerfüllten roten Auge, das aus der oberen linken Ecke anklagend unter Lidern hervorstarrte, die die Farbe von Grünspan aufwiesen!

Wie konnte jemand so leben? Sie weigerte sich, das Zimmer wahrzunehmen, verdrängte es aus ihrem Bewußtsein.

Agnes anzusehen war nur wenig besser. Die völlig altersschwache Frau saß mit gespreizten Knien auf ihrem Stuhl mit viereckiger Lehne und starrte sie unverblümt forschend an. »Wie ich sehe, werden die Familienmerkmale gut vererbt.«

»Tatsächlich?« murmelte Marianne.

»Ja.«

Das eine Wort, dann Schweigen. Gab es in Agnes’ Regnum keine Floskeln, mit denen man ein Gespräch einleitete?

»Nun Mary Ann, was ist los? Du bist nicht gerade jemand, der nur so zum Vergnügen das Kastensystem durchbricht.«

Kastensystem! Was für eine entsetzliche Art, den GU auszudrücken! Der Fauxpas brachte sie ganz durcheinander. »Mein Vater sagte … er sagte …«

»Er hat mir erzählt, was er sagte, nämlich daß er dir geraten hat, mich aufzusuchen, da ich lange genug gelebt habe, um etwas Vernunft anzunehmen. Dein Teenager verkehrt also mit Gossenkindern, was? Wird ihr guttun.«

»Gut!«

»Kreisch mich nicht an! Wird ihr nicht schaden, richtigen Menschen zu begegnen und die häßliche Seite einiger Tatsachen kennenzulernen.«

»Aber ich habe versucht, sie zu beschützen«, brabbelte Marianne. »Ich habe versucht, sie anständig zu erziehen. Ich habe versucht …«

»… sie genauso unwissend und dumm zu halten wie dich selbst. Und sie verübelt es dir. Gut.«

Marianne stand auf. »Du schändliche, entsetzliche Frau!«

Die schändliche, entsetzliche Frau lehnte sich nach vorn, streckte einen muskulösen Arm aus und schubste. Marianne setzte sich und brach in Tränen aus. »Du verstehst das nicht. Es ist nicht bloß das ›befreite‹ Gehabe eines Teenagers. Es sind die entsetzlichen Dinge, die sie sagt.«

»Wie zum Beispiel?«

»Sie würde nicht wagen, es in meiner Gegenwart zu tun, aber man hat mir erzählt, daß sie über …« Das Wort wollte ihr nicht über die Lippen kommen. »… das Große T spricht!«

»Tod?«

Marianne zuckte zusammen. Sich so etwas direkt ins Gesicht sagen lassen zu müssen! Sie nickte elend.

»Nun, darüber zu reden, wird sie nicht umbringen«, sagte Agnes. »Hast du ihr erklärt, was das Wort bedeutet? Nein, natürlich nicht; du wüßtest nicht einmal, wie. Und ihr wollt Neo-Viktorianer sein! Die Viktorianer waren hinter ihrer Zimperlichkeit ein ziemlich nüchterner Haufen, aber ihr seid bloß jede Menge hochtrabendes Getue mit nichts dahinter. Schick mir das Kind vorbei! Am Donnerstag. Morgens. Nicht später als zehn Uhr. Ich werde ihr den Kopf zurechtrücken. In Ordnung?«

Es klang überhaupt nicht in Ordnung, aber wie konnte man einem Drachen widersprechen, der Muskeln aus Stahl hatte und einen durch die Gegend schubste?

Marianne stimmte zu und floh.

In letzter Zeit hatte sie das Gefühl, ständig vor irgend jemandem oder irgend etwas auf der Flucht zu sein. Sie sollte wirklich ihren Psykomforter aufsuchen.


Ellaline davon zu überzeugen, einen schönen Sommermorgen an irgendeine Tante zu verschwenden (irgendeine erwachsene, salbadernde, lästige alte Schachtel) war nicht leicht.

»Ich habe keine Tante Agnes.«

»Doch, hast du, Liebes.« Es war erlaubt, für eine gute Sache zu lügen; man durfte das Kind nicht mit einem GU von vier Regna erschrecken.

»Ich habe noch nie von ihr gehört.«

»Möglich«, sagte Marianne vage, »unsere Familie ist so groß. Wir bleiben nicht immer in Verbindung miteinander.«

»Warum soll ich sie überhaupt besuchen?«

»Weil sie darum gebeten hat, daß du sie besuchst.«

»Warum?«

»Sie hat dir etwas zu sagen.«

»Was will sie mir sagen?«

Marianne vernahm den bockigen Tonfall und erkannte die Kampfansage. Sie hätte dies sorgfältiger planen sollen. »Das ist Tante Agnes’ Sache.«

Ellaline hatte ein geübtes Ohr für die Ausflüchte ihrer Mutter. »Ich will es ohnehin nicht wissen. Ich kenne sie nicht. Ich werde nicht hingehen.«

Marianne dachte über die entschlossene Kampflust und die undamenhaften Muskeln nach, die sich unter dem Babyspeck entwickelten, und fragte sich, ob Schläge nicht langsam unklug wurden. In letzter Zeit hatten die massiven viktorianischen Prügel, die man in Fällen von Widerspenstigkeit für angebracht hielt, nach den obligatorischen Tränen ein mürrisches und undurchdringliches Schweigen hervorgerufen und eine nur sehr kurzlebige Besserung. Vielleicht war es das Beste, den Rat ihres Psykomforters zu befolgen und das Interesse des Kindes zu wecken; dies wiederum verlangte nach ihren Fähigkeiten auf dem Gebiet ›hingebungsvolle Mutter‹.

»Ich finde, du solltest hingehen, Liebes.«

»Aber warum?«

»Weil deine Tante Agnes Pädagogin ist …« (das stimmte) »… und sie dir etwas erklären möchte. Ich bin sicher, es wird dich interessieren.«

Da ihre Mutter sich ganz offensichtlich auf dem Rückzug befand, kam es jetzt nur noch darauf an, den Druck aufrecht zu erhalten. »Woher soll ich das wissen? Was ist es?«

»Etwas sehr Wichtiges«, sagte Marianne nervös.

»Aber was?«

»Es steht mir nicht zu …«

»Ich gehe nicht hin.«

Marianne gab nach, da sie es versäumt hatte, die Positionen für Versuchung und/oder Erpressung vorzubereiten. »Tante Agnes will dir etwas über …« Beim besten Willen konnte sie nicht die Konditionierung eines ganzen Lebens durchbrechen, die den letzten Fluch umgab.

»Worüber?«

»… über …«, sagte Marianne verzweifelt, »das Große T erzählen.« Mehr konnte eine Mutter nicht tun.

»Du meinst To …« Ellaline unterbrach das halb ausgesprochene Wort gerade noch rechtzeitig. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter versprach, daß eine derart herausfordernde Ungehörigkeit einen bislang unerreichten Grad von Gewalt auslösen mochte; mit einem Riemen in der Hand verlor ihre Mutter manchmal jede Selbstbeherrschung, als ob irgend etwas in ihr, einmal losgelassen, sich wie rasend freien Lauf verschaffte. Ellaline ging über zu kritischer Erwägung. »Das dürfte Spaß machen.« Das Schaudern ihrer Mutter merkte sie sich als Erinnerung an ihren Triumph. »Selbstverständlich werde ich gehen.«

Marianne vernahm die nicht zu unterdrückende Schadenfreude. ›Ich habe ein Monster geboren!‹

Mit einem Lächeln ursprünglicher Unschuld fragte das Monster: »Fällt Tante Agnes das Haar aus?«

Die Unterredung endete in verständnislosem Starren.


Seit den Anfängen der Sklaverei in uralter Zeit blieb immer schon nur sehr wenig des vermeintlichen privaten Tuns und Handelns der Gesellschaft vor den scharfen Augen und Ohren der Gesindestube verborgen. Perkins, der Chauffeur, wußte mehr über Agnes und die entfernteren Ausläufer der Familie als Marianne, und er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum er Ellaline zu ihr fuhr.

Was Ellaline betraf, hielt er sie für ein reiches Miststück, das regelmäßig Prügel brauchte. Da er wie die meisten Dienstboten ein ziemlicher Snob war, billigte er ihren Umgang mit Gossenkindern nicht, mußte aber zugeben, daß sie auf ihre Weise recht helle war. Zum Beispiel bemerkte sie rasch die Veränderungen in der umgebenden Architektur und erkannte, daß sie über vertrautes Gebiet hinaus gebracht wurde.

»Wo sind wir, Perky?«

»Auf dem Weg zu Mrs. Ballantyne.«

Ellaline verzog das Gesicht während sie die eher kleinen (nach ihren Maßstäben) viereckigen Häuser eines vergangenen Zeitalters betrachtete; auf alten Bildern gab es Häuser wie diese.

»Sie würde nicht hier leben. Wenn sie meine Tante ist, muß sie in Mamis Regnum sein. Sie würde nicht in einer dieser scheußlichen Schachteln leben.«

So war das also; diese ›behandelten‹ Spinner waren derart geprägt durch ihre Furcht vor der Zeit, daß selbst die schlichtesten Wahrheiten in soziale Tabus verstrickt wurden. »Vielleicht ist sie nicht wirklich deine Tante.« Das Kind würde es früh genug herausfinden. »So eine Art Ehrentante.«

»Ich verstehe.« Sie verstand es nicht, noch nicht. »Welches Regnum ist dies?«

»Nummer vier – Periode der Intellektuellen Frauen.«

»Ich wußte nicht, daß sie Nummern haben. Ist Nummer vier alt?«

Was für ein Wort! Sie sollte eigentlich überhaupt nichts darüber wissen, daß es alte Leute gab. Das hatte sie von ihren Gossenkinderfreunden gelernt. »Ziemlich«, sagte er vorsichtig.

»Wie alt, Perky?«

»Schwer zu sagen.« Ach, zum Teufel damit! »In ihrem zweiten Jahrhundert.«

»Scheiße!« sagte Ellaline.

»Das will ich nicht gehört haben, Miss. Und den Vierern gefällt es so.«

»Wirklich? Kennst du alle Regna, Perky?«

»Fahrer kennen die ganze Stadt, Miss.«

»Wie viele gibt es?«

»Acht. Nummer acht ist Ihre. Das sind alle, bis jetzt.«

»Was meinst du damit, bis jetzt?«

»Seit die Behandlung begonnen hat. Erzählen Sie bloß nicht herum, daß ich Ihnen das gesagt habe.« Sie mochte ein reiches Miststück und ein Satansbraten sein, aber man konnte ihr vertrauen.

Eine Weile lang schwieg Ellaline. Der Flipper bewegte sich ruhig, geschmeidig, langsam knapp über der Erdoberfläche dahin, während Perkins nach der richtigen Adresse Ausschau hielt.

»Perky, was geschieht, wenn man keine Behandlungen bekommt?«

»Man …« Die Versuchung war groß, aber er ging auf Nummer sicher. »Nach einer Weile … äh … verscheidet man.«

»Was ist das?«

»Das fragen Sie lieber Ihre Tante Agnes.«

Sie dachte daran zu fragen, ob es das gleiche wie ›Sterben‹ sei, aber das würde ihr auch nicht weiterhelfen, da sie nicht wußte, was ›Sterben‹ war. Statt dessen fragte sie: »Wie alt bist du, Perky?«

»Achtundzwanzig, Miss.«

»Wirst du für immer bei uns bleiben?«

»Geht nicht, Miss.«

»Och, Perky! Warum nicht?«

»Wir bleiben nie länger als bis dreißig.«

»Aber warum?«

Er warf einen Blick auf ihr verwirrtes Gesicht. Reiches Miststück oder nicht, sie war besser als die meisten. »Man schickt uns weg.«

»Warum?«

»Zu alt mit dreißig«, sagte er heftig. Weil sie dann jeden Tag mitansehen müßten, was am Ende auf sie zukommt.

»Fällt euch dann das Haar aus?«

Zwischen zwei Lachkrämpfen fragte er: »Wo haben Sie denn das her?«

»Ein Gossenkind hat es mir erzählt.« Mit der vorsätzlichen Absicht zu schockieren fuhr sie fort: »Er sagte, daß man sich vollpinkelt und stinkt und dann irgendwie nicht mehr lebendig ist. Was bedeutet das?«

Perkins brachte den Flipper mit einem unnötigen Ruck zum Stehen. »Das ist das Haus. Wurde auch, verdammt noch mal, Zeit.«

»Dienstboten dürfen nicht fluchen«, sagte Ellaline.


Für Ellaline, im Jungbrunnen geboren, gab es nur junge Menschen. Jene, die so alt aussahen wie ihre Mutter, stellten die Grenze des Alterns dar und erschienen ihren jungen Augen eindeutig historisch. Daß diese Menschen drei Generationen umfaßten, in Unveränderlichkeit bewahrt, war eine Information am Rande, von wenig Bedeutung.

Gelegentlich bekam sie dennoch ältere Menschen zu Gesicht. Ab und zu tauchte so ein altersschwacher Unglücklicher überraschend in einer Straße auf, und im Park am Rande der Unterstadt gab es besonders abstoßende Individuen, aber ihre Augen nahmen sie zur Kenntnis, ohne zu begreifen; etwas stimmte mit ihnen nicht, und es war nicht notwendig, darüber nachzudenken. Bei dem Schwall von Umschreibungen, Ausflüchten und affektierten Gepflogenheiten, die den Begriff des Alterns umgaben, hatte sie kaum eine Chance zu verstehen, was sie sah. Man wuchs heran, bis man so aussah wie Mami, und dann blieb man so – was sonst?

Agnes’ Erscheinung, mit Falten im Gesicht und welker Haut und verfärbtem Haar, war daher erschreckend. Am liebsten hätte sie sich gleich wieder verzogen, wollte mit dieser fremdartigen Person nichts zu tun haben – aber sie war auch neugierig auf Ungewöhnliches, und es mangelte ihr nicht an Mut.

»Ich möchte zu Tante Agnes.«

»Du bist Ellaline?« ein dachte-ich’s-mir-doch-Nicken. »›Tante‹, wie?« Ein Schnauben. »Nun, ich bin Agnes.«

Mami sagt mir nie das, worauf es ankommt, dachte Ellaline. So höflich wie ihre Zweifel dies zuließen, fragte sie: »Bist du krank?«

»Nein Ellaline, ich bin mittleren Alters.« Der Begriff schien bei ihr nicht anzukommen. »Steh nicht auf der Türschwelle herum, komm herein!«

Ellaline machte drei abenteuerliche Schritte hinein in jenes Wohnzimmer, das ihre Mutter versucht hatte aus ihrer Wahrnehmung zu verbannen, und fragte: »Ist dies dein Unterrichtsraum?«

Agnes lachte, was einen Großteil der Grimmigkeit aus ihrem Gesicht verschwinden ließ, und erklärte ihr: »Es ist mein Wohnzimmer.«

»Aber hier sind ja gar keine Möbel, um richtig darin zu wohnen.«

»Es ist genug da: Stühle, Tisch, Sofa, Bilder. Du bist daran gewöhnt, daß dein Zuhause vollgestopft ist mit nachgemachtem viktorianischem Trödel, nicht wahr? Etageren und Sofaschoner, mein Gott!«

Ellalines Gesicht verhärtete sich zu jenen flachen Zügen, die ihre Mutter als Ärger im Verzug erkannte. »Scheiße!« sagte sie vernehmlich.

Agnes schien nicht überrascht, was die ganze Übung unbefriedigend machte. »Warum sagst du das?«

»Du hast etwas Häßliches über mein Zuhause gesagt, also bin ich häßlich zu dir.«

»Ist schon recht«, sagte Agnes enttäuschenderweise. »Warum setzt du dich nicht?«

Verdrossen, da eins ihrer wirksamsten Geschütze versagt hatte, suchte Ellaline sich den am härtesten aussehenden Stuhl aus, um sich nicht dazu verleiten zu lassen, sich zu entspannen; bei dieser Hexe mußte sie auf der Hut sein. Immer noch auf einen Vorteil aus fragte sie: »Warum siehst du so krank aus?«

»Ich sehe nicht krank aus. Ich sehe nur älter aus als deine Mutter, aber das ist keine Krankheit.«

»Älter?« Das Wort erhielt langsam eine sichtbare Bedeutung. »Heißt das mehr Jahre?«

»Ja.«

»Aber Mami wird nicht – älter.«

»Doch, nur ein winziges bißchen jedes Jahr, aber du merkst es nicht, weil die Veränderung gering ist.«

»Aber die Behandlungen machen, daß man immer gleich bleibt.«

»Nicht ganz. Sie verlangsamen den Alterungsprozeß – das ist das, was einen älter aussehen läßt. Ich bin fast hundert Jahre älter als deine Mutter.«

»Mannomann!« sagte Ellaline, für die ein Jahrhundert eine undefinierbare historische Zeitspanne war. Die Neugier überwand ihre Abwehrhaltung. »Als du wie Mutter warst, war da alles anders?«

»Viel besser, wie ich meine. Aber jeder glaubt, daß das eigene Regnum das beste ist. Findest du nicht, daß ›befreit‹ sein besser ist als das Festhalten an gesellschaftlichen Umgangsformen?«

»Natürlich, du nicht?«

»Ich finde, daß es hauptsächlich aus schlampigen Manieren, unanständigen Ausdrücken und schlechter Laune besteht, aber ich stimme zu, daß es besser ist, als eine zimperliche Möchtegerndame zu sein, die die Augen vor den Tatsachen verschließt und deren Leben bestimmt wird von der Angst vor der Zukunft.«

»Ich glaube nicht, daß ich das alles verstehe«, sagte Ellaline.

»Deswegen bist du ja hier, damit ich mich mit dir über jene Tatsachen des Lebens unterhalte, von denen deine Mutter nicht allzu viel versteht, selbst wenn sie sich dazu überwinden könnte, sie laut auszusprechen.«

»Die Tatsachen des Lebens? Meine Freundin Jennie hat mir ein Buch darüber gezeigt. Es heißt ›Wie man Es macht ohne Es zu werden‹.«

Kinder ändern sich nie, dachte Agnes, Gott sei Dank. »Ich würde dieses Buch nicht empfehlen, und das sind nicht die Tatsachen, über die wir uns unterhalten müssen. Wir werden uns über Altern und Tod unterhalten.«

»Ja!« Ellalines Augen blitzten. »Was ist Tod?«

Sie hatte völlig vergessen, daß Tante Agnes altersschwach und abstoßend und seltsam war.


Ellaline neigte dazu, die nächsten paar Stunden als die wichtigsten in ihrem Leben zu betrachten, aber das waren sie keineswegs. Vielleicht die faszinierendsten und fesselndsten, aber im Laufe von fast dreihundert Jahren wurde sie mit vielen Dingen konfrontiert, mit denen umzugehen das aufgeregte Verschlingen eines oberflächlichen Wissens in den Schatten stellte.

Einmal fragte sie: »Aber warum kann nicht jeder behandelt werden? Ist es reserviert oder so?«

»›Oder so‹ ist der richtige Ausdruck; reserviert für jene, die es sich leisten können.«

»Können die Menschen in der Unterstadt es sich nicht leisten? Oder die Dienstboten?«

»Himmel, nein.«

»Gibt es viele von den armen Menschen?«

Ausnahmsweise war Agnes verblüfft; ihr war nicht klar gewesen, wie eng die Neo-Viktorianer das Wissen ihrer Kinder über die Welt begrenzten – zweifellos im heiligen Namen der Unschuld, die es vor Schmutz zu bewahren galt, jenem Begriff, der alles umfaßte, was beunruhigend war, oder wovor man um der Bequemlichkeit willen die Augen verschloß. Die Tabus hinsichtlich Gesprächen über Alter und Tod waren zwar dumm, aber verständlich; jemandem vorsätzlich das Wissen um die Struktur der Welt vorzuenthalten war aber kriminell.

Wütend sagte sie: »Etwa eine Person von tausend kann sich die Behandlung leisten. Sie bedarf teurer Substanzen und teuren Expertenwissens und muß alle paar Jahre wiederholt werden. Und jeder von uns muß das ganze Leben lang per Telemonitor überwacht werden. Antigeriartrie ist der teuerste Industriezweig der Welt.«

Ellaline versuchte »eine von tausend« zu verstehen, versuchte, die Vorstellung von einer Welt zu schlucken, vollgestopft mit Menschen, von denen sie zwar wußte (so wie sie vage von der Existenz anderer Regna und sogar anderer Länder wußte), über die sie aber niemals hatte nachdenken müssen, Menschen, die nur eine kurze Zeit lang lebten. Außerstande, große Zahlen oder die Bedeutung von ›eine kurze Zeit lang‹ zu erfassen, dachte sie an Jennie und Perkins und brach in Tränen aus.

Zu erklären, warum Perkins bald aus dem Dienstbotenstab entlassen werden mußte, war nicht leicht, aber Agnes war eine außerordentlich fähige Ratgeberin mit einem Talent dafür, abstrakte Schrecken in faßbare Phantasievorstellungen zu verwandeln. Sie betrachtete es als Kompliment, als Ellaline schließlich ihr Urteil abgab: »Ich finde, es ist einfach albern so zu tun, als ob etwas nicht da wäre, wenn man nicht hinsieht. Die Dienstboten können doch nichts dafür.« Sie betrachtete Agnes genau. »Es ist mir egal, ob ich in hundert Jahren oder irgendwann so aussehe wie du. Du hast immer noch Spaß, oder?«

Ohne eine Miene zu verziehen, stimmte Agnes zu, daß sie noch immer Spaß hätte und verkniff es sich hinzuzufügen, auf Weisen, von denen du noch nicht einmal träumst; dies zu erklären hätte bedeutet, mit dem Feuer zu spielen. Sicherlich würde ihre Mutter sie über Sex aufklären können, trotz ›Wie man Es macht ohne Es zu werden‹? Oder etwa nicht? Es begann zweifelhaft zu erscheinen.

Die Vorstellung vom Tod war unglaublich schwierig zu erklären. Das Kind hatte noch nie auch nur ein totes Tier gesehen, ganz zu schweigen von einem menschlichen Wesen; und das Beispiel eines zerquetschten Käfers wäre wohl nicht gerade der vielversprechendste Auftakt zum Thema gewesen. Schließlich kam sie auf die ausgestopften Tiere im Museum, aber es war trotzdem nicht leicht. Die Vorstellung einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen, aufzuhören, drang nicht wirklich zu dem Mädchen durch. Sie akzeptierte die Feststellung, verstand sie aber nicht; insgeheim vermutete sie, daß Agnes ihr etwas verschwieg und man einfach immer älter wurde.

»Ich dachte schon, Sie hören gar nicht mehr auf«, sagte Perkins. »Drei Stunden!«

Ellaline war zerknirscht. »Du mußt am Verhungern sein.«

»Ich doch nicht, habe in der Küche Mittagessen bekommen.«

»Dann ist es ja gut.«

Während Perkins fuhr, schwieg sie nachdenklich. Schließlich fragte sie: »Weißt du, was Sterben ist?«

»Sie sollen doch nicht so reden!«

»Sei nicht komisch, Perkins. Weißt du es?«

»Natürlich. Jeder weiß das.«

»Ich wußte es nicht.«

»Und jetzt weißt du es?«

»Nicht so richtig. So wie Agnes es erklärt, klingt es, als ob man ausgeschaltet wird, wie der Holoviewer oder wie das Licht.«

»So was Ähnliches ist es auch. Vielleicht eher so, als ob man immer langsamer wird bis man stehenbleibt.«

»Aber was geschieht dann?«

»Nichts geschieht dann. Außer vielleicht Träume. Das weiß niemand.«

Nach einer Weile versuchte sie es wieder. »Agnes ist nicht meine Tante. Sie ist meine Urgroßmutter.«

»Ich weiß.«

»Woher weißt du das?«

»Das Personal weiß alles über Ihre Familie. Es steht im Staatsarchiv.«

»Also, wer ist dann der Älteste?«

»Der alte Jock Higgins.«

»Wer ist das?«

»Dein fünffacher Urgroßvater. Er ist fast dreihundert.«

»Das klingt nach viel.« Eigentlich klang es völlig unverständlich. »Wie ist er?«

»Das weiß ich nicht. Niemand bekommt ihn je zu Gesicht. Vielleicht ist er zu alt, um sich noch dafür zu interessieren.« Perkins gestattete sich eine wenig gemäßigt befreite Umgangssprache: »Er bezeichnete sich immer als den ›Alten Bastard‹.«

»Warum?«

»Keine Ahnung, Miss. Vielleicht um seinen reichen Kindern aus der besseren Gesellschaft eins auszuwischen, weil er selbst niemand Wichtiges war.« Er war Abschaum gewesen, selbst in den Augen eines Dienstboten, aber es gab auch Grenzen der Ausdrucksweise. »Er war der erste Mensch, der jemals behandelt wurde.«

»Der Allererste?«

»Genau. Er lag im Sterben …« – Ihr Interesse wuchs schlagartig – »Krebs – und verkaufte sich an ein Labor, das ein menschliches Versuchsobjekt brauchte für Experimente mit totaler Immunisierung. Das bedeutet, einen so hinzukriegen, daß man nicht mehr krank werden kann. Jedenfalls – es funktionierte, und er lebt immer noch.«

»War er reich?«

»Der doch nicht. Er bekam seine Behandlung umsonst, der einzige Mensch, der sie jemals umsonst bekommen hat. Er hat sein Geld damit gemacht, daß er die Ärzte Tests mit sich als dem Unsterblichen Mann durchführen ließ; dann gewann er einen Lotteriepreis und ließ einen Börsenmakler sein Geld verwalten und saß schließlich mit Millionen da. Und so kommt es, daß die kleine Ellaline im achten Regnum gelandet ist.«

»Und warum, zum Teufel«, sagte Ellaline, nur um Perkys Lippen zucken zu sehen, »hat Mami mir all das nicht erzählt?«

»Vielleicht weiß sie es nicht. Selbst wenn sie es wüßte, würde sie es verschweigen.«

»Warum?«

»Wie oft am Tag fragen Sie eigentlich ›Warum‹? Deine Mutter würde nichts von einem Vorfahren wissen wollen, der Boxer in Schaubuden und ein Betrüger war, der nebenbei gelegentlich Einbrüche verübte.«

Dann mußte er ihr die Begriffe erklären.

»Hört sich großartig an.«

»Er war kein netter Mann.«

»Nicht nett – großartig. Das ist etwas anderes.« Als Perkins in die Auffahrt einbog sagte sie: »Ich werde zu Mami ›tot‹ sagen.«

»Tun Sie das bloß nicht! Sie wird einen Anfall bekommen.«

»Oder Migräne oder in Schwermut verfallen.«

Jetzt war es an Perkins zu fragen. »Was ist Migräne?«

»So ’ne Art Schwermut, aber laut.«


Sie schätzte, daß sie mit ›tot‹ ihr Glück vielleicht etwas zu sehr herausfordern würde, konnte aber nicht widerstehen, die skandalöse Geschichte des Alten Jock Higgins wiederzugeben, wobei sie darauf achtete, daß es so schien, als hätte Agnes ihr dies erzählt.

»O gütiger Gott!« stöhnte Marianne, die die anstößigen Einzelheiten sehr wohl kannte, und deren Freunde (in ihrer Gegenwart) alle so taten, als hätten sie keine Ahnung davon. »Erwähne nie wieder diesen Namen! Er ist der Schandfleck unserer Familie.«

»Aber wenn er nicht gewesen wäre …«

»ICH WERDE NICHT ZUHÖREN. Und du wirst mir gehorchen! Du wirst nie wieder …«

Ellaline erkannte den drohenden Verlust der Beherrschung und legte ein hastiges Versprechen ab.


Der Alte Jock, dessen Name ebenso wie jegliche Anspielung auf ihn für immer aus dem Haus verbannt worden war, nahm in Ellalines Vorstellung einen besonderen Rang ein und verdrängte damit Jiggles die Werkatze und Thorinda die Amazonenkriegerin, ihre ältesten Holovid-Lieblinge. Im Geiste entwarf sie ein Bild des Alten Jock – haarlos, grabentiefe Runzeln, häßlich wie die Nacht, vollgepinkelt und stinkend wie ein vergammelter Fisch – im großen und ganzen wie eine Figur aus einem Horrorvid. Sie wußte, daß sie völlig danebenlag, daß die Wirklichkeit wahrscheinlich alltäglich und langweilig war, aber jemand, dessen bloßer Name Mami zur Weißglut treiben konnte, mußte doch sicher etwas Interessantes an sich haben.

Sie wollte es selbst sehen.

Mit ihrer Ansicht nach beachtlicher List schlug sie einen weiteren Besuch bei Agnes vor (die möglicherweise aufgeschlossen genug wäre, ihr zu helfen). Das Resultat war eine warum-muß-Gott-mich-heimsuchen-Tirade über jene entsetzliche Frau, die unaussprechliches Wissen in den Kopf eines unschuldigen Kindes pflanzte.

Agnes wurde zur Sperrzone erklärt.

Der Park am Rande der Unterstadt wurde zur Sperrzone erklärt.

Zu Hause wurde die junge Jennie zum Schlechten Einfluß und somit zur Sperrzone erklärt.

Das Embargo auf Jennie war der letzte Tropfen. Ellaline war fest entschlossen. Der Alte Jock wurde zum Projekt.


»Wollen Sie, daß ich vorzeitig rausgeworfen werde?« fragte Perkins. »Vergessen Sie’s, Kleine!«

Wutentbrannt griff Ellaline unterhalb der Gürtellinie an. »Dienstboten haben mich als ›Miss‹ anzureden, nicht als ›Kleine‹.«

»Wenn ich Ihrer Mutter erzähle, was Sie vorhaben, werden Sie nicht ›Miss‹, sondern ›Mist‹ heißen.«

»Du haßt mich!«

»Nicht immer«, sagte Perkins. Er sann darüber nach, daß, wenn er mit dreißig entlassen würde, sie gerade reif wäre für eine kleine Indiskretion. Schade.


Es dauerte lange bis Ellaline, die es nicht gewöhnt war, praktische Probleme selbst zu lösen, darauf kam, daß der Alte Jock im Telefonbuch ausfindig gemacht werden konnte – aber es gab keine Eintragung unter ›Alter Jock‹. Nach beträchtlichem Kopfzerbrechen kam ihr die Idee, ihre Abstammung durch die genealogischen Aufzeichnungen zurückzuverfolgen, und obgleich sie die besten Aussichten hatte, in dem Wirrwarr von Vorfahren, Verwandten und unehelichen Kindern unterzugehen, kam sie schließlich doch auf den unglaublichen Ian McIvor McAdam Higgins

– den ersten Behandelten –

– geboren im altehrwürdigen, unglaublichen Jahr 1972 –

– was bedeutete, daß er zweihundertachtundsiebzig Jahre alt war, älter als jeder andere Mensch –

– und der nicht einmal drei Meilen entfernt lebte!

Sie studierte die Straßenkarte und entschied, daß der Versuch durchführbar war; sie würde die Ecken dreier Regna abschneiden und eines ganz durchqueren. Der Treck an sich würde schon ein Abenteuer sein.


Wie sie es sich hätte denken können, meldeten ihre Hauslehrer ihre Abwesenheit. Mariannes erster Gedanke – ihr intelligenter erster Gedanke – war, die Polizei zu benachrichtigen. Ihr weniger intelligenter zweiter Gedanke galt den entsetzlichen Orten, an die eine wild umherstreifende Ellaline gelangen konnte. Den öffentlichen Skandal vor Augen verwarf sie jeden Gedanken an die Polizei und schickte Perkins im Flipper los, um die Straßen abzusuchen, zu durchkämmen und auszukundschaften, und wehe er kehrte ohne sie zurück.

Wie jeder in der klatschsüchtigen Gesindestube wußte Perkins, wo all die Leute wohnten, die etwas darstellten, und nahm Kurs auf das Haus des Alten Jock, dem offensichtlichen ersten Ziel. Er fand Ellaline in zwanzig Minuten, zwei Meilen entfernt; sie hatte sich verlaufen und schwankte zwischen Tränen und einem Wutanfall hin und her.

»Ach Perkins, muß ich wirklich nach Hause?«

Perkins dachte darüber nach. Schließlich versuchte das Kind lediglich mit einem Wissen klarzukommen, das 99,9 Prozent der Rasse als selbstverständlich hinnahmen. Ihr dies auf unbestimmte Zeit zu verweigern, würde, so sagte er sich, ihre Unzufriedenheit in Rebellion verwandeln; in der dummen Regnagesellschaft konnte das Ergebnis unvorhersehbar und seelisch grausam sein.

»Bald«, sagte er, da er es mit seinem Mut nicht übertreiben wollte, »aber erst schauen wir bei Tante Agnes vorbei. Sie ist eine vernünftige Frau.«


»Um Himmels willen, Perkins«, fragte Agnes, »was erwarten Sie von mir? Daß ich sie zum Alten Bastard bringe?«

»Warum nicht, gnädige Frau?«

Agnes erkannte dies als eine gute Frage und stimmte zu, daß eine solch entschlossene Neugier befriedigt werden sollte. Sie hatte jedoch keine Lust, in einen Familienstreit von transregnalen Ausmaßen verwickelt zu werden.

»Es würde nicht lange dauern«, überredete Perkins sie. »Zehn Minuten dort und dann im Flipper zurück. Mehr als ein kurzer Blick wird nicht nötig sein.«

»Vielleicht sind wir nicht willkommen.«

»Ein Besucher aus der achten Generation? Der Alte Bastard würde sich totlachen.«

»Aber ihre Mutter …«

Perkins hielt einen unbotmäßigen Finger hoch. »Warum es ihr erzählen? Beeilen Sie sich und überlassen Sie die Erklärungen mir; sie wird froh sein, Ellaline wiederzuhaben und keine unangenehmen Fragen stellen. Obendrein …« – er wandte sich Ellaline zu –, »Sie werden mich doch nicht verraten, oder?«

Ellaline quietschte: »Du meinst, es Mami erzählen? Sie würde sich nie wieder beruhigen. Der Alte Jock ist für sie ein Horrorvid. Sie würde … würde … zusammenbrechen.« Sie wechselte die Taktik. »Ich werde brav sein, Tante Agnes. Ich schaue bloß hin, das ist alles.«


Die Pflegerin – Dienstbotenschicht, mittleren Alters und besorgt um ihre Stellung – war unentschlossen.

»Verstehen Sie mich recht, um ihn mache ich mir keine Sorgen. Er fällt fast auseinander, aber er liebt Besucher. Es geht mir um sie. Ich meine, die Regna und all das. Man tut das einfach nicht, oder?«

»Ich bin des Mädchens Urgroßmutter, und ich tue es sehr wohl. Wenn Mister Higgins gerne Besuch bekommt, nun, wir sind Besucher.«

»Aber das kleine Mädchen …«

»Sie hat schon öfter alte Leute gesehen.« Ja, dachte Agnes, mich.

»Aber nicht so alt. Es gibt niemanden sonst, der so alt ist.«

Ellaline setzte jenen Gesichtsausdruck auf, der Marianne oft den Tag verdarb. Sie sagte: »Ich werde dem Alten Bastard schreiben und ihm sagen, daß die Hausangestellte mich nicht hereinlassen wollte.«

Damit war der Fall erledigt.


Er saß in einem Stuhl in der Sonne, auf der Rückseite des seltsamen alten Hauses im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts, das hinten nur einen Rasen hatte, statt eines Partygartens und einer Spielebahn.

Er war ganz unglaublich winzig; würde man die Decken wegnehmen, dachte Ellaline, wäre er nicht größer als sie selbst. Sie mochte wetten, daß seine Füße nicht bis zur Fußstütze hinunterreichten.

Seine Handgelenke wiesen auf beiden Seiten große Knochen auf, aber die Arme dahinter waren dünner als ihre und die Haut war schlaff und runzlig und mit braunen Flecken übersät. Die Knöchel seiner Finger waren dicke Knubbel, und die Haut hatte sich fest um die Knochen zusammengezogen; seine Hände lagen auf der Decke wie halb durchsichtige Spinnen, die darauf warteten davonzuhuschen.

Sein Kopf war ein Totenschädel mit Augen. Er hatte überhaupt kein Haar, damit hatte Jimmy Johnston also recht gehabt, aber seine Augenbrauen waren schwarz und die Augen darunter von einer Art verwaschenem Blau, das so aussah, als hätten sie alles gesehen, das es jemals gegeben hatte.

Sie schnüffelte, behutsam, da sie nicht unhöflich sein wollte, aber das einzige, was sie riechen konnte, war eine Art Muffigkeit wie in einem alten, leeren Schrank. Vielleicht pinkelte er sich noch nicht voll. Von Kathetern wußte sie nichts.

Agnes und Perkins blieben stehen, während Ellaline sich ihm langsam näherte.

Die uralten Augen blinzelten nicht und wandten sich auch nicht von ihr ab, als sie nahe genug kam, um ihn zu berühren. Der bleiche Mund öffnete sich und ließ Zähne erkennen, die nicht echt aussahen (sie waren es auch nicht), sowie die Spitze einer weißlichen Zunge, die die Lippen in Vorbereitung aufs Sprechen leckte. Splittriges Gelächter wie zerbrechende Streichhölzer drang daraus hervor, und die eingefallenen Wangen zogen sich nach oben und erzeugten Falten um die Augen. Eine Stimme ertönte krächzend aus der Höhle.

»Ich habe seit, weiß der Geier, wann, kein Kind mehr gesehen. Hübsch, nich? Wie heiß’n du, Hübsche?«

»Ich bin Ellaline.«

»Netter Name. Wer bin ich? Häh?«

»Sie sind der Alte Bastard.«

Das Gelächter wäre ein Gebrüll gewesen, wäre er zum Brüllen noch fähig gewesen, was die Pflegerin herbeirennen ließ. »Bleib mir vom Leibe, blöde Kuh! Hab seit hundert Jahren nich’ mehr gelacht. Hier, Ellaline!«

Er streckte eine Spinnenhand aus, und aus Höflichkeit ergriff sie sie, sehr behutsam. Sie hatte damit gerechnet, ihn sich nur anzusehen und dann wieder zu gehen, aber ihr Vorfahr hieß sie willkommen. Sie war sich nicht sicher, was sie davon hielt, ihn anzufassen; er war entsetzlich, wirklich entsetzlich, aber ganz und gar nicht wie ihr Vidpuppenmodell, sondern eher wie etwas, das liegengelassen und von einem Reinigungsroboter aufgestöbert worden war. Aber er war froh, sie zu sehen, und das machte einen Unterschied. Es machte ihre ganze Planung und Gerissenheit nichtig.

»Du bist nich’ eins von meinen, oder?« sagte er.

Aus der Nähe war sein Atem widerlich und sein Akzent war sogar noch mehr Gosse als Jimmy Johnstons. »Ich bin deine sechsfache Urenkelin. Oder vielleicht fünffach, ich komme mit dem Zählen durcheinander.«

»Und du kommst mich besuchen, häh? Warum biste hergekommen?«

»Ich wollte mir einen richtigen alten Menschen ansehen. Sie erzählen uns nichts über alt, weißt du.«

Der Totenschädel schwankte auf seinem eingeschrumpften Stengel von einem Hals. »Da möchte ich drauf wetten. Sie denken nich’ mal darüber nach. Da kriegen sie’n paar Jahre extra und haben alle Angst vor’m Sterben. Als wir siebzig Jahre hatten, haben wir uns keene Sorgen gemacht. Na ja, manche vielleicht, wie die Höllenfeuerbrigade, aber normale Leute machen sich keene Sorgen. Nun, jetzt haste mich gesehen!«

»Werde ich eines Tages wie du?«

Die Pflegerin schnappte entsetzt nach Luft. Agnes schaute interessiert drein. Perkins grinste unsicher.

Der Totenschädel nickte. »Vielleicht, aber hübscher.«

Irgendwie schien das ziemlich komisch, und sie kicherten beide, junges Geklingel und rostiges Tor.

Er fragte sie: »Biste in einem dieser Regnums, über die sie immer reden?«

»Ja. Ich gehöre zur Befreiten Reaktion.«

»Was is’n das für eins?«

Das wußte sie nicht genau, denn niemand hatte sich je die Mühe gemacht zu erklären, worum es bei den Befreiten eigentlich ging. Mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit sagte sie: »Wir sagen Befreite Sachen – so wie ›Mist‹ und ›Scheiße‹.«

Die alten Augen wurden aufgerissen; die Haut legte sich derartig in Falten, daß sie fast nicht mehr zu sehen waren. Der bleiche Mund öffnete sich weit, als die unzulänglichen Lungen sich bemühten, Luft für den größten Lachanfall eines langen Lebens zur Verfügung zu stellen. Ein entsetzliches Gegacker rasselte aus dem krampfartig zuckenden Hals, und die dünnen Schultern bebten unkontrolliert. Die Spinnenhände schlugen vor lästerlichem Vergnügen auf die Decke. Das Gelächter verwandelte sich in eine Salve hilfloser Laute während der Kopf auf seinem dürren Stengel hin und her schwankte.

Schlagartig hörte alles auf.

Der Alte Jock Higgins, der Alte Bastard, war mehr als erfreut gewesen, seine fünffache Urenkelin zu sehen. Genau gesagt, hatte er sich totgelacht.


Auf dem Weg nach Hause fragte Ellaline: »Können die Ärzte ihn nicht wieder hinkriegen?«

Agnes seufzte angesichts eines hoffnungslosen Falles. »Nein, Liebes, Tod kann niemand wieder hinkriegen.«

Ellaline dachte darüber nach. »Er war nett«, sagte sie.

Selbst die hartgesottene Agnes war entsetzt, Perkins hingegen fuhr fast den Flipper in den Graben, so sehr mußte er lachen.


Die Tatsachen ließen sich nicht vertuschen. Der Tod des Ältesten Erdenbewohners aller Zeiten war eine NEUIGKEIT, und die zu Tode erschrockene Pflegerin redete wie ein wildgewordener Computerausdruck: es hagelte Vorwürfe.

Agnes wurde umgehend von allen Neo-Viktorianern offiziell geächtet, aber der Bann schien sie nicht weiter zu beeindrucken. Sie schien die Neo-Viktorianer gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Schlimmer war, daß Perkins im Verlauf einer hysterischen Szene gefeuert wurde, die Marianne völlig erschöpfte. Agnes stellte ihn prompt ein, hauptsächlich um Marianne eins auszuwischen, aber sie behielt ihn für den Rest seines Lebens bei ihrem Personal.

Ellaline kam ohne eine Schramme davon. Ihre Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch (für die Öffentlichkeit bestimmt) aus dem sie mit grimmig zusammengepreßten Lippen und einer mutigen Entschlossenheit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, wieder auftauchte. Zur Strafe schickte sie Ellaline ins Internat, was Ellaline über alle Maßen genoß.

Ein paar Jahre später wurden Perkins beiläufige Gedanken hinsichtlich Ellaline Wirklichkeit (eines Nachmittags in der Garage), und damit begann eine Liebesaffäre, die die Regna schockierte. Da er vierunddreißig war und sie neunzehn, betrachtete man es als Mai und Dezember – aber es dauerte an, bis Perkins, der sich als den glücklichsten Mann bezeichnete, der jemals mit einem alterslosen, reichen Miststück zusammengelebt hatte, der es nichts ausmachte, daß er älter wurde, mit Mitte Sechzig starb. (Er liebte sie sehr, aber das mochte der Klatsch nicht so recht glauben.) Sie lösten eine Modewelle aus; es wurde schick für Regnumsangehörige Liebhaber aus dem Dienstbotenstand zu haben; es stellte eine so unproblematische Vorbereitung auf eine spätere ordentliche Heirat dar.


Ellaline wurde ein Jahr älter als der Alte Jock. Als sie ruhig dalag und darauf wartete zu sterben, sagte sie: »Jetzt werde ich es herausfinden. Sie konnten es mir nie richtig erklären, aber jetzt werde ich es selbst sehen.«

Unsinn. Dunkelheit brach herein, und ihr Gehirn hörte auf zu funktionieren, und sie wußte nicht mehr darüber als irgend jemand sonst.


Originaltitel: ›Not In Front of the Children‹

Copyright © 1987 by George Turner

(erstmals erschienen in ›Aphelion‹ #5, 1987)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Castro

Illustriert von Jobst Teltschik

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