Peter Schattschneider Pflegeleicht!



Karl hatte einen Tag freigenommen. Schließlich wollte er dabeisein, wenn Hilde das Kind bekam.

Es dauerte unerträglich lange. Sie waren beide sehr nervös. Am späten Nachmittag war es dann soweit. Es klingelte an der Tür.

»Lieferung von der Firma Pflegeleicht«, sagte der Mann vom Botendienst.

Karl winkte ihn ungeduldig herein. Der Bote stellte die Tragtasche und den Koffer ab.

»Ist es – da?« Hilde war ganz aufgeregt.

»Ja, gnädige Frau.« Der Bote nahm die Mütze ab und deutete lächelnd auf die Tragtasche, er wollte auch Anteil an dem freudigen Ereignis haben. Hilde trippelte vorsichtig näher, und Karl riskierte einen Blick. Aus der Tasche blickte ein zerknittertes Babygesicht.

»Hallo, Bennie«, sagte Karl nicht gerade begeistert.

Als der Bote fort war, trug Hilde die Tasche sofort ins Wohnzimmer. Karl schleppte den Koffer nach, auf dem bloß ›Zubehör‹ stand.

»Verdammt schwer«, schnaufte er. »Das reicht wohl bis zur Volljährigkeit.«

Hilde hatte den Kleinen aus der Tasche gehoben. Sie hielt ihn mit ausgestreckten Armen und gab zwitschernde Laute von sich. Bis zum Boden waren es mindestens eineinhalb Meter.

Karl blieb das Herz stehen. »Bist du verrückt?« preßte er hervor.

Sie blickte ihn erstaunt an. Er hob beschwörend die Arme. »Leg ihn vorsichtig ab. Und dann lesen wir die Gebrauchsanleitung, bevor wir irgendwas anfassen«, sagte er so ruhig wie möglich.

»Ach, sei nicht albern. Glaubst du, eine Mutter braucht eine Anleitung?« Sie drückte das Kind an die Brust.

»Einen Videorecorder würdest du ohne Beschreibung nicht angreifen«, schimpfte Karl. »Selbst bei deinem blöden Mixer haben wir eine Stunde gebraucht, um die Anleitung zu kapieren – aber bei einem Kind ist das natürlich ganz was anderes!« Er öffnete zornig den Koffer, und eine Flut von Creme-Tuben, Wattestäbchen, Tabletten, Disketten und Babyspielzeug quoll ihm entgegen. Dazwischen lag so etwas wie ein Taschenrechner und ein Manual.

Karl schwenkte es triumphierend und trat an den Tisch, auf dem Bennie zappelte. Seine Augen waren strahlend blau. Ein klarer Blick – kein Zweifel, er erkannte ihre Gesichter! Karl mußte lächeln, und der Kleine lächelte zurück. Er öffnete den zahnlosen Mund, als wollte er etwas sagen, und der Körper zappelte ungestüm. Die zentimeterkleinen Armstummelchen flatterten wie Flügel.

»Die Nase hat er von dir«, sagte Karl und legte den Arm um Hildes Schulter.

»Und die Augenpartie ist von dir – sieh nur, wie er die Brauen runzelt!«

Hilde kicherte unterdrückt.

»Was ist?«

»Er hat noch was von dir.«

»Du bist albern«, brummte er.

Der Unterleib des Babies sah aus wie ein Euter mit drei Zitzen, deren äußere ständig in Bewegung waren. Auch die nicht minder zierlichen Ärmchen zappelten ununterbrochen.

»Er will krabbeln!« stellte Karl fest, und Hilde beugte sich über den Tisch, bis ihre Nase Bennies Nase berührte, der begeistert gluckste.

»Nein, nein, nein!« scherzte sie. »Benniemaus ist noch zu klein. Benniemaus muß erst groooß werden, bevor er krabbelt!«

Und zu Karl: »Wann wachsen eigentlich die Arme?«

Karl, dem das Getalker auf die Nerven ging, warf sich in den Fauteuil und blätterte in der Bedienungsanleitung. Halblaut las er die Kapitelüberschriften:

»Allgemeines über Pflegeleicht®-Kinder … die täglichen Handgriffe … Zustandskontrolle … Unsere Pflegeleicht®-Servicestellen … Troubleshooting … ah, hier ist es ja: Extremitäten.« Er räusperte sich und las vor, während Hilde dabei war, Babies Sprache zu lernen.

»Ihr Kind ist ein ganz normales Kind, auch wenn es nicht so aussieht. Wenn Sie es richtig behandeln, wird es sich zu einem gesunden, kräftigen, lebensfrohen und erfolgreichen Menschen entwickeln.

Über die fehlenden Arme und Beine Ihres Kindes machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind ein Ergebnis der Pflegeleicht®-Forschung, die einen Weg gefunden hat, die rasche körperliche Entwicklung an die viel langsamere Ausbildung der Gehirnfunktionen anzupassen. Generationen von Eltern wurden durch das unkoordinierte und gefährliche Krabbeln, Greifen und Stolpern von Kleinkindern in ihrer Aufsichtspflicht überfordert. Wußten Sie, daß das häufigste Wort, das Kinder vor dem Einsatz des Pflegeleicht®-Prinzips hörten, NEIN war? Im Mittel 55,4mal am Tag, und das regelmäßig bis zum vierten Lebensjahr. Wundern Sie sich also nicht, daß aus anfangs frohen Kindern eine neurotische, mieselsüchtige Generation wie die Ihre geworden ist.

Durch die Weiterentwicklung des Medikaments Contergan ist es gelungen, in die Prozeßsteuerung während der extrauterinen Schwangerschaft gezielt einzugreifen und das Wachstum der Gliedmaßen zu hemmen. Die in der Regel drei Zentimeter langen Arm- und Beinansätze Ihres Babys werden von selbst zu wachsen beginnen, wenn das Kind in der Lage ist, seine Bewegungen rational zu steuern. Dies geschieht im Alter von vier Jahren und ist nach zwei Monaten abgeschlossen.

Nach einer vergleichenden Fünf-Jahres-Studie können wir stolz behaupten, daß dank der fehlenden Gliedmaßen Pflegeleicht®-Kinder praktisch unfallfrei sind. Sie ersparen sich also dank Pflegeleicht® nicht nur viel Ärger, Mühe und Sorge, sondern Sie schützen Ihr Kind optimal. Und Sie schenken Ihrem Kind durch den Verzicht auf Verbote eine bisher ungekannte lebensbejahende Einstellung.«

Karl klappte die Broschüre zu. »Na, da haben wir noch Zeit, bis er uns zu schaffen machen wird.«

Hilde unterhielt sich unterdessen gurrend mit dem Baby. Sie knuffte es in den wabbeligen Bauch und erntete ein begeistertes Jauchzen.

»Wann, sagtest du, wachsen sie nach?« fragte sie, ohne ihre Beschäftigung zu unterbrechen.

»Wenn er vier Jahre alt ist«, wiederholte Karl mißgelaunt.

Sie hatte gar nicht zugehört.


Seit wenigen Tagen sagte Bennie »Ma-Ma«, wenn er Hilde sah.

»Hat Bennie schon seine Vitamine bekommen, damit Bennie groß und stark wird?« fragte sie.

Bennie verzog das Gesicht.

»Karl?«

»Was ist?« rief Karl aus dem Nebenzimmer, wo er am PC einen Tagesplan für Bennie erstellte.

»Hast du ihm Megaschmatz und Gigafax gegeben?«

»Ooch, kannst du das nicht machen? Ich bin sehr beschäftigt.«

»Karl!« Sie sprach den Namen mit einer Hebung am Ende aus; das war gefährlich. Karl folgte brummend ihrem Ruf.

»Wir haben ausgemacht, daß du ihm die Vitamine gibst«, beharrte sie. »Ich kümmere mich sowieso um alles andere.«

Er warf die drei Tabletten in das Fläschchen, füllte mit lauwarmem Wasser auf und schraubte den Schnuller an.

Bennie verweigerte. Er verzog das Gesicht, warf den Kopf hin und her und tat, als wollte er schreien und hätte keinen Mund.

Ratlos standen sie um das Kinderbett.

»Er hat etwas«, befand Hilde mit mütterlichem Instinkt. Karl warf einen prüfenden Blick auf Bennies rechtes Ohrläppchen. Die Kreisch-Diode gab kein Signal.

»War irgendwas am Monitor?« fragte er und eilte ins elterliche Schlafzimmer. Hilde zuckte die Schultern.

»Das ist wieder einmal typisch für dich. Du scharwenzelst um ihn herum, aber um die wirklich wichtigen Sachen kümmerst du dich nicht.« Er aktivierte das Computerprogramm BABYLOG und rief die Aufzeichnung der vergangenen Nacht auf den Monitor. Temperatur, Puls, Atmung, Blutdruck, REMs des Kindes – alles normal. Das Kreischfilter zeigte vor dem Einschlafen einige kurze Schreianfälle, die nicht lang genug gewesen waren, um Alarm auszulösen. Ab 23.21 hatte das Baby nicht mehr geschrien – besser gesagt, hatte die in den Kehlkopf eingesetzte Frequenzweiche, die verhinderte, daß Baby störende schrille Töne von sich gab – ein Triumph der HiFi-Technik –, kein Signal mehr an den Computer gegeben, was sehr ungewöhnlich war.

»Ich schalte mal das Kreisch-Filter aus!« schrie Karl und tippte die Anweisung ein.

Augenblicklich konnte Bennie wieder brüllen, und er tat es – markerschütternd. Karl stürzte erschrocken ins Kinderzimmer. Dort stand Hilde völlig verstört vor dem Baby, das eine Kakophonie der schrillsten, wahnwitzigsten, gräßlichsten Töne ausspie, die je ihre Ohren gemartert hatten.

»Was sollen wir nur tun?« schrie Hilde, um das Sirenengeheul zu übertönen.

»Da gibt’s nur eins«, schrie Karl zurück. »Er muß zum Service.«


Hilde fütterte den Kleinen. Die frankfurtergroßen Armstummelchen wedelten herum, aber zum Glück waren sie zu kurz, um den zum Mund geführten Löffel wegzufetzen.

Bennie mochte keinen Spinat. Bennie mochte überhaupt kein Gemüse. Das einzige, was Bennie mochte, waren Gummibärli und süßer Tee (Marke Schlafmützchen). Alles andere endete regelmäßig mit einer Katastrophe.

Ein Löffel Spinat erreichte das Ziel. Die Frankfurter ruderten verzweifelt, Bennie verzog das Gesicht, die nunmehr reparierte Kreisch-Diode an seinem rechten Ohr blinkte wie rasend, und ehe Hilde in Deckung gehen konnte, kam der Spinat wie ein grüner Wirbelwind wieder heraus.

Gut, daß ich das grüne Kleid anhabe, dachte sie beiläufig. Dann wurde ihr bewußt, daß sie im Begriff war, hysterisch zu werden. Sie stellte den Spinat außerhalb der Reichweite der flatternden Würstchen und atmete einige Male tief.

›Beide Arme und Beine sind ganz schwer und warm‹, dachte sie zur Beruhigung, aber die stellte sich angesichts des Geruders ihres Sprößlings nicht ein.

»Es ist alles in Ordnung«, murmelte sie, die Fäuste ballend. »Er kann ja nichts dafür. Sein Mund ist das einzige, womit er sich ausdrücken kann.« Und daher war es nicht überraschend, daß dieser Mund so kräftig war. Bennie konnte Hühnerragout in die Niagara-Fälle verwandeln (die kanadischen, versteht sich). Die einst geblümte Tapete der Eßecke hatte sich im Lauf der Monate in einen Dschungel aus Erbsen, Karotten und Kohlrabi verwandelt, in dem Schweine, Hühner und Rinder lebten. Freilich bedurfte es eines geschulten Blicks, um die angetrockneten Klümpchen zu identifizieren. Lediglich die Karotten waren leicht zu erkennen.

Und nun wuchs auch Spinat in diesem Urwald. Sie brauchte dringend ein Brain-Jetting, sonst schnappte sie noch über.


Hilde kam nach einwöchiger Erholung gut gelaunt und energiegeladen zurück. Ihre gute Laune währte jedoch nicht lange.

Karl saß wieder einmal am Computer, und Bennie steckte an der Steckdose – wahrscheinlich schon den ganzen Tag. Auf dem Boden und auf dem Eßtisch lag eine Schicht feinen braunen Staubes.

»Karl!« sagte sie mit einer bedrohlichen Hebung am Ende. »Karl, was ist das für Staub?«

Er riß sich vom PC los und kam rüber.

»Was meinst du?« Er stierte wie ein Ochse auf das schokoladebraun melierte Tischtuch.

»Ich meine diesen eigenartigen schokoladenbraunen Staub.«

»Ach, den Staub meinst du. Nun, das ist ganz gewöhnlicher Rückstand von Bennies Verdauung.«

»Rückstand??!« Sie glaubte, ›Rückstand‹ verstanden zu haben.

»Aber ja. Du weißt doch: Katalysator ein, und die ganze Babyscheiße wird pulverisiert. Ich habe ihn täglich ausgeklopft.«

»Ausgeklopft??« Er war auch noch stolz darauf.

»Ja doch, ich habe ihn gehalten und auf den Rücken geklopft, damit der Staub rausfällt. Das schadet ihm doch nicht?«

»Ihm nicht, aber dem Tischtuch!!«

»Ach wo, das ist bloß Kohlenstoff mit ein bißchen Mineralien und Spurenelementen. Ich hab es dir doch erklärt: Der Enddarm ist katalytisch ausgekleidet, und wenn man ihn an die Steckdose ansteckt, zerbröselt das ganze Zeugs zu Kohle.«

»Ach, hör doch auf mit deinen Erklärungen! Das schöne Tischtuch.« Sie versuchte, den ›Rückstand‹ mit der Hand wegzuwischen, wodurch die getrockneten Exkremente nur noch tiefer in den Stoff eindrangen.

»Da – sieh dir das an! Sieht das vielleicht aus wie ein Tischtuch? Das ist eine Windel!«

»Beruhige dich. Windeln gibt es zum Glück schon lange nicht mehr.

Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst. Bei deinem selbstreinigenden Backrohr machst du ja auch nicht so ein Theater. Du klopfst den Staub einfach vom Blech ab, und fertig. Nichts anderes hab ich mit Bennie getan. Es ist das gleiche Prinzip: Katalytische Verkohlung. Sauber, zuverlässig, steril.«

»Ja, ja, ich kenne das alles, ich hab den Prospekt auch gelesen.«

»Warum regst du dich dann auf?«

Hilde fühlte einen Nervenzusammenbruch nahen. Dieser Mann hatte überhaupt keinen praktischen Verstand.

»Warum, glaubst du, haben wir Bennie mit einem Staubsauger-Anschluß bestellt?«


Aus 100m Entfernung spendete das Feuer angenehme Wärme. Die Flammen loderten in den Nachthimmel.

Hilde weinte hemmungslos. Karl legte ihr den Arm um die Schulter, versuchte sie zu trösten.

Das Haus war fast niedergebrannt. Der Dachstuhl gloste noch. Ein Sparren brach krachend und funkenstiebend auseinander.

»Wir – hätten doch nicht – fortgehen sollen«, schluchzte Hilde. »Ich hatte – ein – ungutes Gefühl.«

Karl war wie gelähmt. Er konnte bloß denken, daß die Party sowieso langweilig gewesen war. Er dachte es immerzu, als wäre der Brand nebensächlich. Hilflos tätschelte er ihren Arm.

Ein Feuerwehrmann näherte sich. »Sind Sie die Besitzer?«

Karl bejahte.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber wir haben ein Baby im Haus gefunden.« Er zögerte. »Es ist tot.«

Hilde schrie hysterisch auf.

»Es war an die Steckdose angesteckt. Vermutlich wurde der Brand dadurch ausgelöst.«

Hilde starrte Karl entsetzt an. »Aber – hast du ihn nicht abgesteckt?«

»Ich dachte, du hättest …«

Hilde erlitt einen neuerlichen Weinkrampf. Der Feuerwehrmann stand verlegen da.

»Wahrscheinlich war die Abschaltautomatik defekt«, sagte er, nur um etwas zu sagen.

»Sicher! Die Automatik hätte ihn abschalten müssen. Sie muß fehlerhaft gewesen sein! Ein Produktfehler!«

»Wir hatten sowas zweimal im letzten Jahr«, sagte der Mann, wohl hoffend, sie dadurch zu beruhigen.

»Hörst du, Hilde« – Karl versuchte sie aufzurichten –, »es war ein Produktfehler!«

Hilde beruhigte sich ein wenig. »Und was machen wir jetzt?« schniefte sie.

Er legte den Arm um ihre Schulter. »Das wird sich finden. Zum Glück sind wir versichert.«


Copyright © 1991 by Peter Schattschneider

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