Renato Pestriniero Souvenir



Paulus Seymour gab das Signal, und in der Projektionsfläche des Holovideos erschien das scharf geschnittene Gesicht Yuris.

»Hier Man’s Pride«, sagte Seymour. »Herzlich willkommen, Panglobal.«

»Freut mich, zurück zu sein, Man’s Pride. Hallo, Pau. Mach mir in den Silos Platz, denn wir sind zum Bersten voll. Die Tanks laufen schon fast über, und damit meine ich auch die beiden gravitatorischen. Schick außer den Jungs bitte auch die RE runter.«

»Mach dir keine Sorgen, Yuri: Es stehen dir sowohl die RE als auch die Jungs zur Verfügung. Wir haben hier noch einen Teil der Ladung der Multitank Holsatia, die vorgestern bei uns eintraf, aber Platzprobleme gibt es nicht. Ist bei euch an Bord alles in Ordnung?«

»Nur zwei leichte Vergiftungen.«

»Schön. Deine voraussichtliche Ankunftszeit: drei siebenunddreißig. Wie ist es dort oben gewesen?«

»So schlimm wie immer. Bin froh, daß auch diese Charter erledigt ist. Sie haben dir doch wohl nicht schon die nächste vorgelegt?«

»Du hast einen Monat Zeit, dich auszuruhen und die Panglobal in Ordnung zu bringen, sollte es zu Schäden gekommen sein.«

»Vier Wochen? Wunderbar! Nein, Schäden gibt es keine – abgesehen von einigen Kratzern. Die Einzelheiten kannst du dem Logbuch entnehmen. Wohin geht’s das nächstemal?«

»Nach Miranda.«

»Dort bin ich noch nie gewesen. Was gibt’s an dem Steinbrocken denn Besonderes?«

»Ich habe die Frachtliste noch nicht vorliegen. Aber wie ich hörte, wirst du auf dem Hinflug ein paar Tonnen Ausrüstungsgüter für die schwedische Basis befördern. Offenbar haben sie da oben Probleme mit ihren Anlagen. Übrigens dürfte es Bunyon sein, der dich verabschiedet, denn in fünfzehn Tagen, nach der Ankunft der Interplanetaren Helena, fliege ich ebenfalls runter.«

»Ich gratuliere. Nachforschungen bezüglich deines Buches?«

»Die letzten. Dann habe ich das komplette Material. Diesmal nehme ich mir das alte Europa vor. In Ordnung, Yuri, ich übergebe die Kontrolle jetzt an den Computer. Macht euch an den Papierkram; wir hier kümmern uns darum, euch sicher heimzubringen. Wir sehen uns bei minus dreißig wieder. Du kannst nun die Annäherungslichter einschalten.«

»Schon erledigt, Pau. Man könnte uns fast mit einem Weihnachtsbaum verwechseln. Bis bald. Aus und Ende.«

Drei Stunden und einundzwanzig Minuten später machte die Panglobal Einheit Drei – das Schiff kam von den Trojanischen Asteroiden und transportierte eine aus Erzen und verschiedenen Ausrüstungsgütern bestehende Ladung – am scherzhaft ›Waikiki‹ genannten Dock B der amerikanischen Raumstation Man’s Pride fest, die in einer Höhe von neunhundertsiebzig Kilometern die Erde umkreiste.

Damit begann für Paulus Seymour die Aufgabe, die Entladearbeiten zu überwachen. Daran anschließen würde sich der langweiligste Teil des Dienstes – der verwaltungstechnische. Nach vielen Jahren der Tätigkeit an Bord der Raumstation war die Kontrolle der Annäherung, des Anlegens und der Entladung der aus allen Teilen des Sonnensystems kommenden Frachter und Transporter zur Routine geworden.

Auf den Bildschirmen vor Seymour waren nun die Roboteinheiten und Bioniker zu sehen, und er beobachtete, wie sie mit extrem rationalem – und auch rationellem – Eifer durch die gewaltigen Luken hasteten. Über die Monitore daneben wanderten die Daten, die nicht nur Aufschluß gaben über die einzelnen Entladeoperationen, sondern auch, was noch wichtiger war, die Ausführungszeit angaben und das voraussichtliche Ende der Arbeiten kalkulierten – wobei letzterem eine besondere Bedeutung bei der Berechnung eines Überliegegeldes oder einer Gebührenrückerstattung infolge einer vorzeitigen Löschung der Ladung zukam.[3]

Die RE und die bionischen Psyborgs arbeiteten zusammen. Erstere nutzten die Möglichkeiten der Morfokinetik; letztere verfügten über ein menschliches Gehirn in einem beliebig austauschbaren Kunstkörper. Das kostenträchtige Unterfangen, die Umwelt dem Menschen anzupassen, wurde aufgegeben, nachdem die ersten Psyborgs der Klasse ›Proteus‹ aus den clongenetischen Laboratorien kamen. Von jenem Augenblick an hatte die menschliche Morphologie den von der Umwelt und der jeweiligen Arbeit geforderten Bedingungen zu entsprechen.

Obgleich inzwischen die Entwicklung der Proteus-Klasse die fünfte Generation erreicht hatte, empfand Seymour nach wie vor ein gewisses Unbehagen, wenn er mit jenen Geschöpfen zu tun hatte, die weder von der Gestalt noch vom inneren Wesen her vollkommen menschlich waren. Und diese diffuse Beunruhigung bezog sich nicht nur auf die Bioniker, sondern auch auf viele andere Aspekte seiner Berufswelt. Natürlich ließ er sich das nicht anmerken, aber er konnte das Gefühl, irgendwie anders zu sein als die anderen Arbeiter an Bord der Raumstation, nicht ganz verdrängen.

Siebenundzwanzig Stunden und einundfünfzig Minuten nach dem Anlegen wurde der letzte Erzcontainer aus den Frachträumen des Transporters entladen, und auf dem einen Monitor blieb die eingeblendete Chronometeranzeige der verstrichenen Zeit stehen. Jetzt begann die anteilige Aufrechnung der entstandenen Kosten, was sicher zu den üblichen Kontroversen bezüglich der jeweiligen Interpretation des Chartervertrages führte – das Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeit für die unvermeidlichen Schäden …

Die RE kehrten in ihre Nischen zurück. Und die Bioniker suchten ihre Unterkünfte auf.


Das Schloß erkannte Paulus und öffnete die Tür der Zimmerflucht, deren Wände aus von der Küste stammendem gemeißeltem Felsgestein bestanden. Er trat ein und bewegte sich sehr behutsam und möglichst geräuschlos, um der Aufmerksamkeit der allgegenwärtigen elektronischen Spione zu entgehen: Er kannte sich in diesen Räumen gut aus.

Als er das Lärmen der üblichen Musik vernahm, vergaß er alle Vorsicht und trat entschlossen auf die Schiebfläche zu. Als er sich ihr näherte, registrierten die Flüssigkristalle seine Körpertemperatur, und die Fläche begann in einer chromatischen Aberration zu erzittern. Pau ließ sie zur Seite gleiten und betrat das Zimmer.

Er wußte, was ihn erwartete, und so war er angesichts der vielen Menschen, die sich in dem Raum zusammendrängten, nicht überrascht. Er sah sich suchend um, bis er Dream entdeckte. Sie lag inmitten eines Gewirrs aus Kissen, und mit langsamen und mechanischen Bewegungen verlagerte sie dann und wann das Gewicht von der einen auf die andere Seite. Pau näherte sich der jungen Frau, ohne dabei auf die Leute zu achten, die sich zwischen ihm und Dream befanden. In dem von den Wänden her dröhnenden Lärm waren nur einzelne Wortfetzen und gelegentliches Lachen zu hören.

Er sprach sie an, aber Dream drehte sich auch weiterhin wortlos von der einen Seite auf die andere. Sie lächelte. Pau berührte sie an der Schulter und nannte erneut ihren Namen, und sie schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihr Lächeln war unerschütterlich.

»Dream, ich bin’s, Pau.«

Sie drehte sich auf die andere Seite und schloß die Augen.

Paulus Seymour suchte den Körper der jungen Frau ab, bis er zwischen den Falten der Schärpe die kleine Metallplatte fand. Er betätigte den Schalter darauf, und die Gestalten der anderen im Raum befindlichen Personen lösten sich in farbigen Lichtblitzen auf und verschwanden: Der Lärm von den Wänden verstummte.

Dream hielt die Augen noch einige Sekunden lang geschlossen und schaukelte sanft hin und her. Dann verharrte sie und sah ihn an.

»Pau!« rief sie. »Was für eine nette Überraschung! Ich dachte, du wärst oben im Kreisel.« Sie setzte sich auf und schmiegte sich kurz an ihn. »Komm, leg dich neben mich. Ein bißchen Liebe?«

Pau schüttelte den Kopf. »Vielleicht später. Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du mich nach Europa begleiten möchtest, nach Doge City. Na?«

Dream lächelte und ließ sich auf die Kissen zurücksinken. Ihre Hand tastete nach der zwischen den Falten ihres Gewandes verborgenen Platte. Pau griff behutsam nach ihrem Arm. »Kommst du mit mir?« fragte er erneut. »Wir können jetzt gleich aufbrechen. Es heißt, es sei eine eigentümliche Stadt …«

»Dodge City liegt nicht in Europa«, erwiderte Dream mit geschlossenen Augen. »Ich … ich habe die Stadt schon einmal besucht … Ist gar nicht so seltsam … Eine der bedeutendsten Städte der Welt, berühmt für seine Geschichte … Und es gibt dort die besten Hamburger.«

»Doge City, Dream, nicht Dodge City. Eine Stadt im Nordosten Italiens, in Europa. Weißt du, ich muß mit dem Buch fertigwerden, das von der Geschichte der Nautik handelt, und mir fehlt noch Material, das ich nur dort finden kann.« Pau zog die junge Frau sanft in die Höhe, und Dreams Körper erschlaffte. Sie ließ den Kopf nach hinten hängen und lächelte.

»Europa interessiert mich nicht.« Sie gab sich kindisch und schmollte. »Warum fliegst du nicht nach Kapstadt? Von dort aus werden die Schiffe gestartet …«

»Nein, die meine ich nicht, Dream. Vorher gab es Schiffe, die die Meere befuhren, und Doge City war ein großer Flottenstützpunkt, vielleicht der wichtigste überhaupt.«

Dream biß ihm ins Ohrläppchen. »Ach, Pau, von Wasser halte ich nicht viel, das weißt du doch. Komm bald zurück.«

Seymour umfaßte ihren Kopf mit beiden Händen und zwang sie dazu, ihn anzusehen. Dream hatte nach wie vor die Augen geschlossen und stülpte lächelnd die Lippen vor. »Bringst du mir ein Souvenir aus Dodge City mit?«

Pau blickte noch einige Sekunden lang in das hübsche Gesicht der jungen Frau und ließ sie dann auf die Kissen zurücksinken. Als er die Schiebetür hinter sich schloß, dröhnte aus den Wänden bereits wieder laute Musik, und auch das Zimmer war so überfüllt wie zuvor.


Paulus Seymour wünschte sich, jenen angenehmen Gleichmut, den man für gewöhnlich nach einer langen Zeit der Ruhe und Entspannung empfindet, noch einige Augenblicke festhalten zu können.

Es war still im Raum, aber Pau hatte noch immer die sonderbaren Geräusche in den Ohren, die ihn während des Aufenthaltes in der seltsamen Stadt auf Schritt und Tritt begleitet hatten. Laute, die er noch nie zuvor vernommen hatte – nicht nur im Raumhafen, sondern auch während seines Streifzugs über die Erde. Konnte man sie möglicherweise als lautlose Geräusche bezeichnen? Vielleicht. Denn es hatte sich dabei nicht um von der Luft übertragene Vibrationen gehandelt, sondern eine Art dröhnendes Knistern, das seinen Ursprung in ihm selbst gehabt zu haben schien – akustische Zeugnisse eines ihm unbekannten Lebens, das dennoch ein fest verwurzelter Bestandteil seiner Wesensstruktur war. Pau hätte zu gerne darauf reagiert, aber dazu war er nicht in der Lage gewesen.

Er berührte die leuchtende Sensorfläche und aktivierte damit das automatische Weckprogramm. Die Jalousien glitten langsam nach oben und enthüllten eine helle gekuppelte Fensteröffnung. Pau schwang die Beine aus dem Bett, und seine Füße berührten den Boden, eine weiche Fläche in verschiedenen grünen und ockergelben Farbtönungen. Ein eigentümlicher Geruch breitete sich im Zimmer aus – Pau glaubte ihn als den des Grases ganz früh am Morgen identifizieren zu können –, und erfüllt war der Duft von der Feuchtigkeit der Nacht. Ein immer lauter werdendes Rascheln ging von den Grasbüscheln aus, insbesondere von den Stellen, wo das Grün üppiger wuchs, am Fußende des Bettes und in der Ecke neben der Tür. Frische Luft wehte durch das Zimmer, und Pau fröstelte.

Imaginäre hohe Bäume neigten sich im Wind sanft hin und her, und das sanfte Rascheln der Blätter hörte sich an wie das Plätschern von Wasser, das über glattgeschliffene und mit farbigen Mineralienadern durchzogene Steine hinwegplätscherte.

Es waren eigenartige Bilder, die Paus Bewußtsein entwickelte, ohne daß in seinem Gedächtnis eine entsprechende Bezugsgrundlage gespeichert war. Aber vielleicht, so überlegte er, offenbarte sich in diesen Vorstellungen die genetisch in ihm verankerte Erfahrungswelt seiner Vorfahren …

Ein plötzliches Geräusch, und ein kleiner Vogel ließ sich von einem hohen Zweig fallen und flog zwitschernd umher. Pau hob den Kopf, um das Flattern der Flügel zu beobachten, aber sein Blick fiel nur auf die Zimmerdecke, deren himmelblaue Tönung mit dem durch das Fenster leuchtenden Weiß verschmolz.

Es war eine echte Überraschung gewesen, in der wunderlichen Stadt im Nordosten Italiens ein Hotel zu finden, das eine Ausstattung mit Sensiapartements aufweisen konnte, und Pau hatte sich ohne zu zögern für ›Leben im Wald‹ entschieden und andere Unterkünfte, die intensivere Erlebnisse versprachen – zum Beispiel ›Insel im Pazifik‹, ›Schwarzes Afrika‹ und ›Tausendundeine Nacht‹ –, nicht einmal in die engere Wahl gezogen.

Die Wecksequenz des Programms ging nun allmählich ihrem Ende entgegen. Aber die Automatik stabilisierte eine Empfindungskulisse, die sich zusammensetzte aus einer leichten Brise, die den Geruch von Moosen und Farnen mit sich trug, dem Brummen von Insekten, dem Rascheln von Blättern und dem leisen Gurgeln eines Baches, dessen Wasser irgendwo über Kiesel plätscherten.

Pau öffnete das Fenster und setzte sich auf den Balkon. Sein Blick fiel auf den Prachtbau der Santa Maria della Salute; links sah er das glitzernde Wasser des Canale Grande und rechts das des Canale della Giudecca. Etwas weiter entfernt machte er die Neue Prokuratie sowie die Basilika und den Dogenpalast des Markusplatzes aus. So bot sich Paulus Seymour an jenem Morgen des ersten September die Stadt dar, die man in Doge City (womit die Stadt der Dogen gemeint war) umbenannt hatte – nach der Vereinnahmung Europas durch die Vereinigten Staaten und der Gründung der USAE.

Das einstige Venedig präsentierte sich Pau mit jener Art von Magie, die der Stadt seit Jahrtausenden zu eigen war und Farben und Konturen miteinander verschwimmen ließ. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen, und das Licht hob die von der Zeit und dem Menschen verursachten Verheerungen weniger deutlich hervor. Erste dünne Nebelschwaden umhüllten die großen Palazzi und verbargen das Ausmaß, in dem die Mauern bereits verwittert waren.

Während der Reise hatte sich Seymour über die Stadt informiert, und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als den Beschreibungen Glauben zu schenken, die er zuvor für maßlos übertrieben gehalten hatte.

Einige Möwen schwebten mit weißen und ausgebreiteten Schwingen über die Kanäle, tauchten ganz plötzlich ins Wasser, schossen unmittelbar darauf wieder daraus hervor und setzten den Flug fort. Ihr Krächzen hallte über die Dächer. Einer der Vögel kam in einem weiten Bogen auf das Kuppelfenster zu. Die Möwe stieß einen heiseren Schrei aus, schlug rasch mit den Flügeln, stieg auf und entfernte sich in einer eleganten Kurve, um sich kurz darauf zwischen den weißen Marmorwölbungen der Basilica della Salute zu verlieren.

Es herrschte eine friedliche und gleichzeitig erregende Atmosphäre, die Seymour aus seinem Zimmer rief. Er spürte, daß die Stadt ihn zu sich einlud, daß eine überraschende und faszinierende Verlockung von ihr ausging.

Und als er sich in dem Gewühl befand, das die zugänglichen Bereiche der Stadt heimsuchte und auf diese Weise einen unmittelbaren Eindruck vom standardisierten Massentourismus gewann, begann er sich irgendwie elend und verloren zu fühlen.

Von unten aus betrachtet sah die Rialtobrücke aus wie ein kleiner Hügel, auf dem es von Menschen nur so wimmelte. Gegen seinen Willen mußte Seymour dem Schieben und Zerren der verschiedenen Gruppen nachgeben, die in dem Gedränge kaum auseinanderzuhalten waren. Die Brücke quoll regelrecht über, so voll war sie mit nacktem und vor Schweiß glänzendem Menschenfleisch, mit roter und sich abpellender Haut. Überall plapperten Stimmen, und Hunderte von Mündern verschlangen hastig geschmackloses Vollpension-und-alles-inklusive-Frühstück.

Von dem Wasser des Canale Grande, über die sich die Brücke spannte, erklang das Platschen und Klatschen und Summen und Brummen der automatischen Gondeln, die sich über eine Länge von einem Kilometer bis fast in die Mitte des Kanals hin aneinanderreihten und auf Touristenfracht warteten.

Hinter der Kurve ließ sich die große Stahlbarriere erahnen, die den Kanal in der Höhe der Ca’ d’Oro[4] abriegelte. Jenseits dieses Damms aus Metall stellte der Kanal eine gewaltige faulige und stinkende Wunde dar, die die Stadt bis hin zum alten Bahnhof verunstaltete. Dort befand sich eine zweite Barriere, eine noch größere als die erste, die sich fast mit einer Talsperre vergleichen ließ – und die schirmte die Fehler ab, die man nach der Katastrophe von Porto Marghera gemacht hatte.

Auf einer großen Leuchttafel schimmerte eine Warnung, abwechselnd in den fünf Hauptsprachen, die neben der offiziellen Staatssprache der USAE zugelassen waren: GEFÄHRLICHE ZONE. RESTSUBSTANZEN AUS RADIOAKTIVER UND CHEMISCHER VERSEUCHUNG.

Trotzdem war jener Bereich als der ›Durchgang‹ bekannt. Diese Bezeichnung gründete sich auf die Tatsache, daß man durch die weite Fläche, die einst eine Lagune gewesen war, die archäologischen Reste der petrochemischen und nuklearen Industrie von Porto Marghera erreichen konnte. Infolge der Maßnahmen, die ein weiteres Ausbreiten der von radioaktiver Strahlung und chemischer Vergiftung heimgesuchten Zone hatten verhindern sollen, war die betreffende Region zu einem Niemandsland geworden – dem bevorzugten Aufenthaltsort der Gescheiterten, die aus aller Welt hierher gekommen waren. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Hauptattraktion von Doge City – wenn auch die einzige, mit der keine Werbung gemacht wurde.

Jeden Tag von morgens bis abends schwebten Hunderte von Helikiosken an den Uferbereichen entlang und verkauften angeblich aus der verseuchten Zone stammende Souvenirs. Einst hatte man auf diese Weise noch echte Raritäten erstehen können, zum Beispiel geschmolzene und dann zu bizarren Formationen erstarrte Metallfragmente, Splitter von menschlichen Knochen, manchmal sogar ganze Unterarm- oder Oberschenkelknochen. Doch wenn sich die Helikioske jetzt des morgens vom Himmel herabsenkten, waren sie gefüllt mit Reproduktionen aus Kunststoff, und neunzig Prozent der zum Verkauf angebotenen Stücke trugen die Aufschrift ›Made on Moon‹.

Seymour folgte weiter dem Verlauf des Weges und schritt tiefer in die Stadt hinein. Er wollte erst dann mit den Nachforschungen für sein Buch beginnen, wenn er sich einen Eindruck von der Stadt verschafft hatte.

Und während er durch die manchmal unglaublich schmalen Gassen des Labyrinths aus Straßen, Wegen, Pfaden, Brücken und Treppen wandelte, entstand in ihm eine sonderbare Neugier, die sich bald darauf in nervöse Unruhe und ein unbestimmtes Verlangen verwandelte. Es war fast, als stelle sich ihm die alte Stadt als eine Frau dar, die zwar verschlissene Kleidung trug, aber doch die Vorstellung weckte, darunter befände sich ein prächtiger und williger Körper.

Spät am Abend durchwanderte er einen verlassenen Bereich, und seine Schritte hallten laut von den steinernen Wänden wider. Ein Schild verlieh diesem Ort den Namen S. Trovaso. Es war ein kleiner Platz, der auf drei Seiten von einem Kanal mit halbhoher Ufermauer gesäumt wurde. Auf dieser Mauer saß ein alter dicklicher Mann, der in ein helles und zerknittertes Hemd und eine dunkle Hose gekleidet war. Der Kopf war eingehüllt in eine Wolke aus zerzaustem Haar. Die Füße steckten in Sandalen, die aus echtem Leder zu sein schienen. Er sah Seymour aus kleinen und ungewöhnlich lebhaften Augen an, und sein Blick vermittelte sofort Sympathie.

Seymour lächelte aus einem Reflex heraus und richtete seine Aufmerksamkeit anschließend auf den kleinen Platz, der so ruhig und still wirkte. Am Rande standen längst verlassene Häuser, die jedoch den Eindruck einer tiefen Vertrautheit in Pau erweckten – ein Gefühl, das sich völlig von dem unterschied, das an Bord der Raumstation in ihm entstand.

»Ja, solche Orte wie diesen hier müssen Sie besuchen, nicht die üblichen Plätze, die in den bunten Prospekten immer so angepriesen werden«, sagte der alte Mann in einem fast perfekten amerikanischen Englisch. Seymour drehte sich überrascht um.

»Die anderen Bereiche dieser Stadt können Sie sich auf irgendeiner Holokarte ansehen«, fügte der alte Mann hinzu. »Aber Orte wie diesen müssen Sie selbst entdecken. Und das lohnt sich bestimmt. Kommen Sie, kommen Sie! Von hier aus haben Sie einen noch besseren Blick.«

Seymour trat auf den alten Mann zu – und stellte fest, daß er recht hatte: Von der Ufermauer aus betrachtet formten sich die Konturen der Häuser, des Campo S. Trovaso, der Kirche und des Glockenturms zu einem erstaunlich faszinierenden Bild.

Pau war froh, all dies in sich aufnehmen und genießen zu können, und er begriff, daß ein ihm bisher unbekannter Faktor seines Selbst immer mehr in sein Bewußtsein vordrang – ein nach wie vor andauernder Prozeß, der mit dem Besuch dieser ungewöhnlichen Stadt begonnen hatte. Es kam ihm in den Sinn, daß ein Tag vielleicht nicht ausreichte, um gewisse verborgene Aspekte zu entdecken.

Der alte Mann lächelte. Er erhob sich von der Ufermauer und schritt auf eine Haustür zu. »Kommen Sie!« sagte er und winkte. Er hinkte ein wenig; und Seymour folgte ihm.

»Bestimmt können Sie sich nicht vorstellen, wie einst die Bewohner dieser Stadt durch die Kanäle fuhren, die hier wie Straßen sind. Ich zeige es Ihnen.«

Seymour lachte leise. »Sie werden es mir nicht glauben«, sagte er, »aber genau aus diesem Grund bin ich nach Doge City gekommen.«

Der alte Mann sah ihn fragend an.

»Ich suche Material für ein Buch über die Geschichte der Nautik«, erklärte Pau.

»Ach ja«, erwiderte der Mann und wiederholte: »Kommen Sie, kommen Sie!« Er öffnete die Tür und wich zur Seite, um Seymour Platz zu machen. Paulus betrat einen Raum, der nur drei Wände aufwies. Es war fast völlig dunkel in dem Zimmer, und das einzige Licht fiel durch die offene Vorderfront: der Widerschein des Himmels nach dem Sonnenuntergang. Auf dem staubigen Steinboden standen Arbeitstische, Werkbänke, Schemel und Hocker, und da und dort lagen seltsam geformte Holzstücke. Sägespäne hatten sich zu kleinen Haufen angesammelt, und der verwunderte Blick Seymours fiel auf diverse Töpfe und andere Behälter, an denen sich Krusten aus einer schwarzen glänzenden Substanz gebildet hatten.

Seymour wußte zwar, was Holz war, aber er hatte noch nie zuvor einen Ort gesehen, wo mit diesem Material gearbeitet wurde. Die Luft war erfüllt von einem Geruch, dem er keinen Namen zu geben vermochte, von einem Duft, der zugleich neu und uralt war, den Paulus bisher noch nie wahrgenommen hatte und der dennoch etwas berührte, das sich tief in ihm befand.

Der alte Mann war neben der Tür stehengeblieben und schwieg. Seymour wandte sich langsam von ihm ab und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die fehlende vierte Wand war wie der Vorhang einer Bühne, der sich gehoben hatte und Ausblick gestattete auf die dunkle Silhouette der Stadt, auf die Dächer mit den gewaltigen Firsten, auf die hohen Türme.

Aus den drei Wänden des Raumes ragten Träger und breite Flächen, auf denen sich Holz stapelte, bereits fertiggestellte Bugspriete und solche, die erst noch bearbeitet werden mußten, und dieses irgendwie geordnet wirkende Durcheinander reichte bis zu den Deckenbalken empor. Von oben herab hingen Seilrollen und Wergriemen für die Kalfaterung.

Seymour schritt auf die natürliche Bühne weiter vorn zu. Der steinerne Boden setzte sich auch nach dem Ende der beiden Seitenwände fort, wies eine leichte Neigung auf und verschwand schließlich im Wasser des Kanals, der dicht an dem Haus vorbeiführte. Kleine Wellen leckten am Rand der Steine entlang.

Seymour sah eine dunkle Masse, die auf einer Art Rutsche lag, die sich durch den ganzen Raum über die geneigte Fläche erstreckte und draußen ins Wasser tauchte. Unmittelbar darauf bemerkte Pau, daß es sich um ein Objekt handelte, das sich unter einer Stoffplane verbarg, und aus irgendeinem Grund mußte er an einen Riesen denken, der sich in seinem Bett auf die Seite gedreht hatte und schlief. Er sah, wie sich die Oberfläche des Wassers vor ihm kräuselte, wie kleine Wellen über seine Schuhe glitten, aber er machte nicht kehrt. Noch einige weitere Schritte trat er vor. Das Wasser spülte ihm an den Fersen hoch und durchnäßte ihm die Socken, und Pau empfand das wie ein zärtliches Streicheln.

Es war, als erwache er langsam aus einem Traum, als er sich umdrehte und auf den alten Mann zuschritt.

»Gefällt es Ihnen?« fragte der, und während er lächelte, leuchtete es in seinen Augen. »Sie haben Glück. Bald wird das hier alles verschwunden sein. Man hat vor, den Kanal mit Erde aufzufüllen, und hinter der Kurve soll eine Plattform für die Helibus-Touristen des Euro-American-Express errichtet werden. Aber eigentlich wollte ich Ihnen etwas anderes zeigen.« Der alte Mann trat auf die Rutsche zu, griff nach einem Zipfel der Plane und zog das Tuch langsam von dem Gestell herunter. Dem überraschten Blick Seymours bot sich ein hölzernes Objekt mit klaren Linien dar, die sich nach und nach sanft wölbten und vorn und hinten mit zärtlicher Entschlossenheit aufeinander zustrebten. Vor dem dunklen Hintergrund zeichnete sich das helle Holz deutlich ab. Seymour strich mit den Fingerspitzen über die glatte und damastartig gemaserte Fläche.

»Hier ist das Material, das Sie für Ihr Buch über die Nautik brauchen«, sagte der alte Mann. »Dieses Gebäude hier war einst ein Schiffsschuppen und diente dazu, Boote zu bauen, zu reparieren und vom Stapel zu lassen. Dies hier ist die letzte Gondel. Sie konnte nicht fertiggestellt werden, denn derjenige, der mit ihrem Bau beschäftigt war, wurde angerufen, und niemand außer ihm kennt die Geheimnisse dieses Handwerks. Als diese Stadt eine Seerepublik war und sich ihre Macht über das ganze Mittelmeer erstreckte – damals wurde sie deshalb ›La Dominante‹[5] genannt –, gab es mehr als zehntausend dieser Barken. Jeder Teil einer Gondel hat eine ganz bestimmte Bedeutung und stellt in sich eine Synthese der Stadt dar.«

Er hat recht, dachte Seymour, es ist in der Tat eine gewaltige Sache, so immens wie die Oberfläche eines Menhir oder der Knochen eines Sauriers. Etwas, das geschickte Künstlerhände formen, das dazu bestimmt ist, von ewigem Bestand zu sein – und seinen festen Platz inmitten aller Dinge der Erde einnimmt.

An jenem Abend lud der alte Mann Paulus zu einem Gespräch bei sich zu Hause ein. Er führte ihn in einen vor Feuchtigkeit muffig riechenden Hausflur und die ausgetretenen Stufen einer sich steil in die Höhe schraubenden Treppe hoch. An jeder Wendung sah Seymour eine Tür mit einem weißen Schild, auf dem ein Name geschrieben stand.

»Jetzt wohne nur noch ich hier«, erklärte der alte Mann. »Die anderen Zimmer stehen schon seit langem leer.«

Sie stiegen weiter in die Höhe. Schließlich blieb der alte Mann vor einer der Türen stehen und drückte sie auf. Ein Schalter klickte, und eine Glühlampe verbreitete einen diffusen gelblichen Lichtschein.

Auf der einen Seite des Zimmers stapelten sich einige Schränke aufeinander, und Seymour sah in dem trüben Licht auch noch andere massige Formen, die sich unter Tüchern verbargen: In dem Raum herrschte ein einziges Durcheinander aus bedeckten Objekten, die in ihrer konturlosen Anonymität einen sonderbaren und fast bedrohlichen Eindruck erweckten.

Der alte Mann führte Paulus zwischen den in halbdunkle Schatten gehüllten Mastodonten umher – bis ihm schließlich ein altes Telefon auffiel, das über keinen integrierten Videoschirm verfügte.

»Hier gibt es Dinge von erheblichem antiquarischen Wert«, bemerkte Seymour. »Zum Beispiel das Telefon dort … Kann man es kaufen?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Aber das Telefon ist für die Anrufe notwendig.«

»Anrufe?« Pau erinnerte sich daran, daß auch der letzte Gondelbauer angerufen worden war. »Wer könnte denn hier schon anrufen?«

»Kommen Sie nur, kommen Sie!« sagte der alte Mann und führte Paulus durch eine Tür und in einen Korridor, in dem dreibogige Fenster einen Ausblick auf die Dächer der Stadt gestatteten. Seymour blieb unwillkürlich stehen, und während er stumm hinaussah, vernahm er einige weithin hallende Gongschläge. Als er sich fragend umwandte, erklärte der alte Mann: »Das ist eine der Uhren, deren Glockenläuten die Zeit angibt. Wir versuchen alles, um sie in Funktion zu halten, aber das wird immer schwieriger.«

»Sagen Sie …«, murmelte Paulus, »… was sind Sie eigentlich von Beruf? Arbeiten Sie für eine Art Stiftung?«

Der alte Mann lachte leise. »Nein, eine Stiftung gibt es nicht. Wir sind nur noch ungefähr zehn, und wir bemühen uns, das zu bewahren, was noch bewahrt werden kann. Aber dieser Aufgabe müßten sich jüngere Leute annehmen. Wie Sie zum Beispiel …«

Sie durchwanderten ein Labyrinth aus Zimmern und Korridoren und weiteren steilen Treppen, bis sie schließlich an eine schmale Glastür gelangten. Der alte Mann öffnete sie, und Seymour trat in ein Zimmer, das völlig aus Kristall und Holz zu bestehen schien; in den Wänden und der Decke zeigten sich Dutzende von größeren und kleineren Fensterscheiben, und es sah aus, als wetteiferten sie miteinander um die Bildung eines Mosaiks. Paulus drehte sich langsam um die eigene Achse, und sein Blick glitt über das Meer aus Dächern hinweg, das in der Ferne mit der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht verschmolz. Oben zeigten sich die ersten Sterne am Himmel.

Die Einrichtung dieses Raums bestand nur aus einem Tisch und zwei Stühlen.

»Setzen Sie sich«, forderte ihn der alte Mann auf, verschwand hinter einem Vorhang und kehrte kurz darauf mit zwei Tellern, Brot und einer großen Salami zurück. Er stellte alles auf den Tisch, trat erneut hinter den Vorhang und kam dann mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern wieder zum Vorschein.

Seymour war vollkommen durcheinander. Er sah sich von Empfindungen heimgesucht, die aus einer fernen Vergangenheit stammten – einer Vergangenheit, die er nicht kannte, die ihm aber dennoch ein beunruhigendes Gefühl des Déjà-vu vermittelte.

»Es ist nicht viel«, sagte der alte Mann. »Aber andererseits stammen diese Dinge aus eigener Herstellung. Sie werden an den Geschmack nicht gewöhnt sein; vielleicht mögen Sie ihn nicht.«

Seymour war außerstande, darauf eine Antwort zu geben. Er fühlte sich wie in eine andere Dimension versetzt, und ihm schwindelte.

Später rauchten die beiden Männer, und in der Schwärze des Himmels über ihnen funkelten Myriaden Sterne. Der alte Mann erzählte von sich und den anderen, die versuchten, jene Bereiche der Stadt zu erhalten, die das Schicksal immer kleiner werden ließ. Seymours Gastgeber hieß Umàn: Einer seiner Vorfahren hatte den Gondeln und Barken beim Anlegen ans Ufer geholfen – mit einer langen Stange, an deren einem Ende sich ein Haken befand –, und nach dem internationalen Standard lautete die entsprechende Berufsbezeichnung Hookman. Mit der Zeit war aus diesem Wort Umàn geworden.

Seymour mußte daran denken, daß dieser Name dem alten Mann auch deshalb ganz angemessen war, weil er wie ›Human‹, also Mensch, klang.

Während des Gesprächs entstand zwischen ihnen beiden eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, und Paulus suchte nach Worten, um das auszudrücken, was in ihm vorging. Und so erzählte er von seiner Tätigkeit an Bord der Raumstation, in einer Welt also, die sich in ihrer ausschließlichen Fixierung auf Technik völlig von der unterschied, mit der er sich hier konfrontiert sah.

Der alte Mann nickte und lächelte und machte ganz den Eindruck, als wisse er auch sehr genau, was Seymour empfand. Und man hätte fast meinen können, er habe auf dem Platz S. Trovaso extra auf Paulus gewartet …

»Kann ich dir irgendwie helfen?« fragte der alte Mann zu vorgerückter Stunde, als sie bereits zum Du übergegangen waren.

»Ich muß der Marciano[6] einen Besuch abstatten, um eine alte Frage in Hinsicht auf die Nautik zu klären«, erwiderte Seymour. »Ich brauche Einsicht in Unterlagen, aus denen die Bestimmungen des Seerechts der damaligen Zeit hervorgehen. Du könntest mir den Weg beschreiben.«

»Gern«, sagte Umàn. »Wende dich in meinem Namen an den Kustos. Er ist einer von uns. So, und nun begleite ich dich aus dem Haus.«

Umàn wollte ihm auch während des Rückwegs nach seinem Hotel Gesellschaft leisten, aber Seymour lehnte dieses Angebot dankend ab. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.

In jener Nacht gingen ihm die verschiedensten Überlegungen durch den Kopf, als er durch dunkle und schmale Gassen wanderte und über mit Marmorstatuen geschmückte Brücken hinwegschritt, als er dem Verlauf geheimnisvoll in Schatten gehüllter Kanäle folgte und kleinere Plätze überquerte, die das perlmuttfarbene Licht des Mondes in kleine Seen aus azurnen Schemen verwandelte und deren Schweigen Tausende von Jahren alt war. Manchmal blieb er auch kurz an den verwitterten Überbleibseln einstmals prächtiger Wasserspeier stehen, an den Resten der Zeit zum Opfer gefallener Brunnen. Und immer weilten Paus Gedanken in einer Welt, die ihm bisher fremd gewesen war.

Als er sich wieder in seinem Hotelzimmer befand, schienen ganze Tage vergangen zu sein – obgleich es noch Stunden bis zur Morgendämmerung dauerte. Es war fast, als habe sich die Zeit gedehnt, um ihm ausreichend Gelegenheit zu geben, in sich selbst zu blicken.

Am nächsten Tag fand sich Paulus Seymour bei der Marciana ein. Das große Tor war geschlossen, aber Umàn hatte ihm genaue Hinweise gegeben: Neben dem Eingang befand sich ein eiserner Knauf, der sich zum einen Ende hin verjüngte und am anderen eine kleine Öffnung aufwies. Ein Draht führte durch dieses Loch und verschwand in der Wand des Palazzo.

Pau zog an dem Griff, woraufhin sich der Draht spannte und im Innern des Gebäudes eine Glocke läutete. Kurz darauf vernahm Seymour das Geräusch sich nähernder Schritte, und das Tor öffnete sich langsam.

Ein Mann, der etwa ebenso alt war wie Umàn, musterte ihn skeptisch. »Sie wünschen?« fragte der Kustos auf Italienisch.

Seymour beherrschte die alten Sprachen nicht, und so erklärte er den Grund seines Besuches auf Amerikanisch und fügte hinzu, Umàn habe ihn geschickt.

Als der Kustos diesen Namen vernahm, hellte sich sein Gesicht sofort auf, und er wurde freundlicher und bat Seymour herein. »Kommen Sie in mein Büro«, sagte er und hielt auf eine schmale Tür zu.

Bei dem Raum, den sie betraten, handelte es sich nicht um ein Büro, nicht einmal um ein Zimmer. Vielmehr sah Paulus einen sechs Meter langen und zwei Meter breiten Teil eines Korridors vor sich. An der ungewöhnlich hohen Decke war ein Gemälde, dessen Farben verblaßt waren und von dem man aufgrund der Trennwand nur die eine Hälfte sehen konnte. Während die Wand auf der rechten Seite aus Mauerwerk bestand, setzte sich die linke aus kleinen Holz- und Kunststofftafeln zusammen. Von der Decke hing ein erstaunlich dickes und mindestens zehn Meter langes Kabel herab, an dessen Ende man eine Glühlampe befestigt hatte.

In dieser sechs Meter langen Enge befanden sich ein an die Trennwand geschobener Tisch, zwei Stühle, ein uralter elektrischer Heizofen, über den eine staubige Schutzhülle aus Plastik gestülpt war, und eine Konsole mit einem uralten Fernseher. Der restliche Platz entlang der Steinwand wurde von Büchern und Verzeichnissen und Listen beansprucht. Einige machten einen geordneten Eindruck. Andere hingegen türmten sich zu hohen und nicht sehr stabil wirkenden Stapeln auf, und der Rest war in unsortierten Haufen aufgeschichtet.

Auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite konnte man hinter einem halb zugezogenen gelben Vorhang eine weitere Tür erkennen.

»Die Streitfrage, die Sie eben ansprachen, stellt in gewisser Weise auch heute noch ein interessantes Problem des Seewesens dar«, sagte der Kustos und schritt dabei auf den gelben Vorhang zu. »Ich erinnere mich genau daran. Mein Vater erzählte mir bereits davon, als ich noch ganz klein war.« Er schob das Tuch beiseite, und Seymours Blick fiel auf Wände, an denen lange Regale angebracht waren. Sie bogen sich unter dem Gewicht der mit Riemen verschnürten Mappen, die nachgerade zum Bersten gefüllt waren mit Schriftrollen, Büchern, Kladden, Heftern und anderen gesammelten Dokumenten.

Der Vorhang fiel raschelnd zurück, und der Kustos verschwand dahinter. Als er weitersprach, klang seine Stimme gedämpft, als sei er geradewegs in die gewaltige Menge an Papier hineingekrochen.

»Jetzt suchen wir die Nummer, und dann wissen wir, wo sich die entsprechenden Unterlagen befinden.« Der Vorhang bewegte sich einige Male, während der Kustos in den Regalen hantierte. Seymour fragte sich, wie man in all den überquellenden Mappen und Ordnern irgend etwas Bestimmtes finden konnte.

»Sie müssen ein geradezu bewundernswertes Gedächtnis haben«, sagte er. »Sicher kommt nur selten jemand, um jene Dokumente dort zu Rate zu ziehen, und wenn Sie wissen, wo sich was befindet …«

Der Kopf des Kustos’ kam kurz hinter dem Vorhang zum Vorschein. »Es kommen wesentlich mehr Besucher, als Sie vielleicht glauben«, erwiderte er und musterte Seymour. »Der letzte klopfte erst vor rund einem Monat bei mir an.«

Seymour enthielt sich eines entsprechenden Kommentars. Er wartete eine Weile und meinte dann: »Mit einem computerisierten Verwaltungssystem, das auf der Erfassung durch Mikrofilm basiert, wäre es möglicherweise einfacher …«

Der Kustos unterbrach ihn mit einem spöttischen Lachen. »Mikrofilm! Wer hätte denn die Zeit dazu, all diese Dokumente hier abzulichten? Und anschließend würde es noch einmal so lange dauern, um allen Unterlagen einen Code zuzuweisen und die Kennungen im Computer abzuspeichern. Mit meinem System hingegen … Sehen Sie?« Er zog einen Hefter aus einem der großen Stapel hinter dem Vorhang, öffnete ihn, trat an den Tisch, ging mit dem Zeigefinger eine vier Seiten lange Auflistung von Zahlenkolonnen durch und hatte ganz offensichtlich keine Schwierigkeiten, die richtige Codierung zu finden. »Hier haben wir sie schon … VII-21-3/L-76 – wußte ich es doch.«

Seymour sah ihn verwirrt an. »Und das bezeichnet die Unterlagen, um die ich Sie gebeten habe?«

Der Kustos wandte sich zu ihm um und hob erstaunt die Augenbrauen. »Worum denn sonst? Sie haben doch nach Informationen über die Kontroverse um die ›Santissima Madre‹ gefragt, die von Konstantinopel kommend am neunten Juli des Jahres 1576 in Venedig einlief, nicht wahr?«

Seymour nickte andeutungsweise.

»Eben. Jetzt brauchen Sie sich nur noch an den hier angegebenen Ablageort zu begeben, und dort finden Sie das Gewünschte. Ich kann Sie leider nicht begleiten, denn der Aufzug ist ausgefallen, und das Treppensteigen fällt mir schwer.«

Er notierte die Kennummer auf einem Zettel, den er Seymour reichte. »Hier. Siebter Stock, einundzwanzigstes Zimmer, drittes Regal auf der linken Seite, Mappe Nummer sechsundsiebzig. Ich warte hier auf Sie.«

Seymour wollte sich gerade auf den Weg machen, als ihm noch etwas einfiel. »Seit wieviel Jahren machen Sie diese Arbeit schon?«

»Ich bin in diesem Gebäude geboren. Als die Wehen einsetzten, begab sich meine Mutter in das im sechsten Stock gelegene Studierzimmer. Mein Vater lehrte mich den Umgang mit all den Dokumenten hier, und nachdem er angerufen wurde, trat ich seine Nachfolge an. Und ich muß sagen, daß wir hier gute Arbeit geleistet haben – alle Mappen befinden sich dort, wo sie hingehören; nie ging ein Dokument verloren. Sie mag das verblüffen, da Sie daran gewöhnt sind, solche Verwaltungsaufgaben von Computern durchführen zu lassen. Aber meine Art von Organisation befriedigt mich weitaus mehr.«

»Sie meinten eben, Ihr Vater sei angerufen worden. Auch Umàn sprach von einem Anruf, auf den er wartet.«

Der Kustos blinzelte. »Was hat Umàn Ihnen gesagt?«

Seymour hob die Schultern. »Nichts weiter. Ich fragte ihn, worum es dabei ginge, aber er gab mir keine Antwort darauf. Können Sie mir die Sache erklären?«

Der Kustos sah ihn nachdenklich an. »Sind Sie nur wegen Ihrer Nachforschungen hierher gekommen, oder … oder gibt es noch einen anderen Grund, der Sie in diese Stadt brachte?«

Seymour antwortete nicht sofort. »Meine Absicht war … Nun, ich arbeite an Bord der Man’s Pride, einer amerikanischen Raumstation, und bisher habe ich nicht einmal im Traum daran gedacht, daß eine solche Welt existieren könnte …« Bei den letzten Worten vollführte er eine umfassende Geste.

Der Kustos lächelte. »Tja, so ist es fast immer – ein jäher und tiefer Schock. Aber wenn man es schafft, ihn zu überwinden und zu verstehen, was hinter all dem hier steckt …«

»Sie haben meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet«, erinnerte ihn Seymour.

»Darüber können wir später noch sprechen. Holen Sie sich erst einmal Ihre Unterlagen. Die Treppe finden Sie dort rechts.« Daraufhin verschwand der Kustos wieder hinter dem gelben Vorhang, um den Hefter mit der Kennungsliste an ihren Platz zurückzulegen.

Seymour stieg die Treppe hoch und schritt tiefer hinein in den steinernen Leib der Marciana, einen gewaltigen und massigen Körper, der aus langen und steilen Treppen, dunklen Korridoren und weiten Hallen voller Schatten und Schemen bestand.

In jedem Stockwerk erwartete ihn ein Saal, der so groß war, daß die Konturen der Wände sich irgendwo im Halbdunkel verloren. In regelmäßigen Abständen zeigten sich geschlossene Türen mit emaillierten Schildern – oder einfach nur vergilbten Zetteln, die mit Klebestreifen daran befestigt waren. Die Wandbereiche zwischen den Türen wurden vollständig von riesenhaften Holzschränken oder bis zur Decke emporreichenden Regalgestellen aus Metall beansprucht. Auf einigen Schränken lagen zudem noch Truhen und Kisten oder sogar andere quergelegte Schränke.

In der Mitte einer jeden Saalwand befand sich eine große Bogentür mit verzierter Marmoreinfassung und einem aus dem gleichen Material bestehenden Abakus, und durch diese Tore gelangte man in die verschiedenen Treppenhäuser.

Für die Beleuchtung sorgten Glühbirnen in schmiedeeisernen Laternen, die an langen Ketten von der Decke herabhingen. Der gelbliche Glanz erhellte jedoch nur einen Bereich, der nicht mehr als einige wenige Meter durchmaß, und der Rest eines jeden Saals lag in grauschwarzem Schatten.

Seymour wurde neugierig und ging langsam an den geschlossenen Türen vorbei. Nach und nach, während er Stockwerk um Stockwerk höher gelangte, deuteten die jeweiligen Aufschriften auf immer neue Fachgebiete hin. In der ersten Etage las er Schilder mit den Bezeichnungen ›Selbstjustiz‹, ›Betrug‹, ›Beweismittelarchiv‹, ›Konkurse‹, ›Havarien‹, ›Sicherstellungsmaßnahmen‹ und anderen Hinweisen, die sich alle auf die Legislative bezogen.

In der nächsthöheren Etage nannten die Schilder nur Namen, und Seymour las die von Sokrates, Hegel/Nietzsche, Gioberti, Platon und dann auch die von Marx, Feuerbach, Comte und Poincaré, die entweder einzeln oder in Gruppen aufgeführt waren.

Es folgten einige schwere Stahlgestelle, die an einem riesenhaften Schrank lehnten, in dessen Frontfläche eine breite Leiste fehlte. Die Öffnung wirkte heller als das angrenzende Holz und sah aus wie eine eitrige Wunde, da sich an den Rändern gelblicher Staub an Dutzenden von kleinen Spänen angesammelt hatte.

Seymour trat näher heran. Ganze Dokumentenbündel, die nicht mehr von der fehlenden Leiste zurückgehalten wurden, quollen regelrecht hervor. Als er in die Öffnung spähte, boten sich ihm die ledernen Rücken der vielen Ordner und Mappen wie die aufgeblähten Chitinleiber monströser Insekten dar, die Hunderte von Schriftrollen, uralten Karten und Verträgen und anderen Unterlagen verschlungen hatten und nur darauf warteten, mit weiteren historischen Leckerbissen gefüttert zu werden.

In der vorderen Wand setzte sich die Reihe der geschlossenen Türen fort, und Paulus las Schilder mit den Aufschriften Aristoteles, Kant, Kierkegaard, Croce, Engels – und etwas weiter Fichte, Rosmini, Gentile, Galluppi, Bradley, Spencer und Russell.

Seymour stieg ins dritte, vierte und dann ins fünfte Stockwerk empor, und hier ging er an den Türen vorbei, die Giotto und Dante gewidmet waren, dem Impressionismus und dem Expressionismus, da Vinci und Einstein, und als er an der mit dem Schild ›Studierzimmer‹ gekennzeichneten Tür vorbeischritt, dachte er: Dort drin wurde der Kustos geboren.

Weitere Treppen ging es empor, in den sechsten und schließlich siebten Stock. Am Querbalken des Eingangs war ein Blatt befestigt, auf dem der Löwe des Sankt Markus abgebildet war, und darunter las Seymour die Worte: Pax tibi Marce evangelista meus. Und darunter wiederum befand sich ein handschriftlicher Zusatz: ›Die Republik Venedig.‹

In diesem Saal waren die einzelnen Türen nur mit Nummern gekennzeichnet. Paulus trat in das mit der Zahl 21 markierte Zimmer. Zu seiner großen Überraschung erhellte strahlendes Sonnenlicht den Raum. Es glänzte durch ein in der einen Wand in Bodenhöhe eingelassenes halbrundes Fenster herein und spiegelte sich auf dem Metall der vielen Regale wider, die schwere Aktenlasten zu tragen hatten.

Es bereitete ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten, die gesuchten Unterlagen zu finden, und es dauerte nur einige wenige Minuten, sie zu fotografieren und sich auf diese Weise Kopien für den persönlichen Gebrauch zu machen.

Als er in den alten Dokumenten blätterte, löste sich ganz feiner Staub von ihnen, die das hereinfallende Sonnenlicht wie Myriaden winziger Kristalle brachen und das ganze Zimmer mit einem goldenen Gleißen erfüllten. Die Seymour umgebende Luft verwandelte sich dadurch in so etwas wie einen historischen Botschafter. Die Präsenz der Stadt und all dessen, was sie darstellte, manifestierte sich in dem gelben Leuchten, und einen Teil davon nahm Paulus mit jedem Atemzug in sich auf. Als er das Zimmer verließ, fühlte er sich wie benommen.

Er kehrte in das Korridor-Büro zurück und stellte dort fest, daß der Kustos den Fernseher eingeschaltet hatte. Seymour dankte ihm für die Hilfe und wiederholte noch einmal seine Frage. Der Kustos zögerte erst und erwiderte dann: »Früher oder später werden wir alle angerufen. Sie sicher auch.«

»Wollen Sie damit sagen, die Anrufe bedeuten den Tod?«

»Mehr oder weniger.«

»Aber was hat denn das Telefon damit zu tun?«

Der Kustos seufzte. »Ach, es sind nur noch wenige, die sich um diese Stadt kümmern, und es erfolgen immer mehr Anrufe, weil es sehr schwierig ist, Nachfolger zu finden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig. Viele behaupten zunächst, sie würden gern bleiben, doch später gehen sie. Manche von ihnen kehren zurück, und von denen wissen wir dann, daß sie für immer bleiben. Bis zum jeweiligen Anruf.«

Seymour merkte, daß der Kustos mit diesen Bemerkungen seiner Frage auswich.

Für den Rest des Tages vertraute Paulus auf seinen Instinkt und mied die Orte, an denen sich die größten Touristenmassen zusammendrängten. Und es war schon spät am Abend, als er begriff, daß er nach S. Trovaso zurückkehren mußte.

Er erinnerte sich nicht mehr an den Weg, und so wanderte er durch dunkle und schmale Gassen, die nur dann und wann von einer Lampe erhellt wurden. Aus den Fenstern der Häuser fiel nicht der geringste Lichtschein, und Seymour vernahm weder die Stimmen von Menschen noch die charakteristischen Geräusche eines eingeschalteten Holosehers. Die Straßen waren völlig leer, und nirgends entdeckte er ein Geschäft oder ein geöffnetes Lokal. Diese Stadt lebte nur in den Bereichen, die von den Touristen aufgesucht wurden. In den restlichen Vierteln lebten nur wenige Personen, wie etwa Umàn und der Kustos der Marciana.

Kurz darauf jedoch sah Paulus eine Gestalt, die an der Ufermauer eines Kanals lehnte. Als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, stellte er fest, daß es sich um ein Mädchen handelte. Sie blickte auf das dunkle Wasser. Als Seymour auf sie zuschritt, drehte sie sich um und lächelte ihn an. Sie war sehr jung, und er nahm zunächst an, eine Touristin vor sich zu sehen, die sich aufgrund der eher knappen Beschreibungen des offiziellen Reiseführers in diesen abgelegenen Teil der Stadt verirrt hatte.

»Verlaufen?« fragte Seymour.

Die junge Frau lächelte erneut und antwortete mit einem starken deutschen Akzent: »Nein, ich wohne hier. Ich kontrolliere gerade den Austausch.«

Seymour wußte nicht, was sie meinte. »Was für einen Austausch?«

»Den des Wassers«, erklärte sie. »In einigen Minuten wird dieser Kanal hier trockengelegt, um den Grund zu reinigen und das Wasser auszutauschen. Für diese Arbeit bin ich zuständig.« Sie musterte Seymour eingehender. »Du bist Tourist, nicht wahr? Was führt dich hierher?«

Seymour stützte die Arme auf die Ufermauer und blickte ins schwarze Wasser. »Ich bin wegen einiger Nachforschungen hier … Gehörst du zu denjenigen, die sich um die Stadt kümmern? Ich habe schon zwei von ihnen kennengelernt …«

»Zum Beispiel Umàn?«

Seymour sah das Mädchen an. »Ja. Ihn und den Kustos der Marciana. Kennst du sie ebenfalls?«

»Ach, wir sind hier nur wenige, und deshalb ist es unmöglich, nicht miteinander bekannt zu sein. Manchmal treffen wir uns alle, aber das kommt nicht sehr oft vor … Es gibt hier zu viel für uns zu tun. Sieh nur. Jetzt ist es soweit …«

In der Stille war ein Geräusch zu vernehmen, das wie ein tiefes Seufzen klang, so als gähne ganz Venedig. Aus der Tiefe, gewissermaßen aus dem Keller der Stadt, ertönte der dumpfe Klang von sich in Bewegung setzender Maschinerie, gefolgt von einem gedämpften Murmeln, leisem Knistern und Rascheln, einem Gurgeln und Rauschen. Seymour konnte deutlich sehen, wie sich der Wasserspiegel im Kanal absenkte, und nach einigen wenigen Minuten wurde der Grund sichtbar. Er bestand aus feucht glänzendem Kunststoff, auf dem sich Abfall aller Art zeigte. Sogar einige ertrunkene Ratten lagen zwischen den Konservenbüchsen und anderen Abfällen.

Begleitet von einem ungleichmäßigen, fast stotternden Summen schob sich eine Stahlplatte aus dem Dunkel der Nacht hervor und glitt durch den nun leeren Kanal. Auf beiden Seiten ragte sie bis ganz dicht an die Ufermauern heran. Wie ein Hobeleisen von der Größe eines Bulldozers sah sie aus, und Seymour beobachtete, wie sie den ganzen Müll, der sich auf dem Grund angesammelt hatte, vor sich herschob. Nach einer Weile wurde sie wieder von der Finsternis verschluckt, aber das Brummen und Knirschen war noch eine Weile zu vernehmen.

»Vor langer Zeit sorgte die Lagune selbst für die Reinigung der Kanäle«, sagte die junge Frau mit gedämpfter Stimme. »Mit den gegensätzlichen Strömungen von Ebbe und Flut.«

Erneut regte sich der unsichtbare Riese unter der Stadt, und eine Wasserwoge gischtete heran, spritzte an den Ufermauern in die Höhe und bildete gurgelnde Strudel. Dann wurde die Zufuhr gleichmäßiger, und es dauerte gar nicht lange, bis der Kanal wieder gefüllt war.

Die junge Frau hakte einen Punkt auf einer Liste ab. »Erledigt. Jetzt ist der Rio dei Miracoli dran. Willst du mitkommen?«

Seymour war versucht einzuwilligen, schüttelte dann aber den Kopf. »Vielleicht haben wir noch einmal Gelegenheit, uns länger zu unterhalten. Jetzt muß ich mich auf den Weg nach S. Trovaso machen.«

»Ist nicht weit. Geh durch die Gasse und überquer drüben die Brücke. Rechts findest du dann den Platz. Vielleicht begegnest du Umàn. Er hält sich öfters dort auf.«

Seymour hob zum Abschiedsgruß die Hand, und das Mädchen verschwand in der Dunkelheit.

Es war tatsächlich nicht weit. Er erkannte den kleinen Platz sofort wieder, obgleich die eine Lampe an der Ecke nur einen Umkreis von einigen wenigen Metern erhellte.

Niemand war zu sehen. Paulus ließ sich auf der halbhohen Mauer nieder, wo am Vorabend Umàn gesessen hatte, und beobachtete die Umrisse der Häuser, die sich vor dem Sternenfunkeln des Himmels abzeichneten. Hinter ihm leckte das Wasser des Kanals mit leisem Plätschern über die Stufen der kleinen Treppe.

Seymour wußte, wohin er gehen wollte, aber trotzdem verharrte er und ließ einige Zeit verstreichen, damit das Verlangen in ihm weiter zunahm. Er wartete, bis das verlockende Empfinden ganz stark geworden war und in seiner Intensität nur mit der Erinnerung an jene Nacht verglichen werden konnte, in der er zum erstenmal den Körper einer Frau kennengelernt hatte.

Dann erhob er sich von der Mauer und trat auf die Tür des Schiffsschuppens zu. Er dachte nicht einmal an die Möglichkeit, daß das Tor geschlossen und er dadurch zur Umkehr gezwungen sein mochte.

Die eine fehlende Wand stellte nichts weiter als ein großes Rechteck dar, das sich nur in seiner etwas helleren Tönung vom allgemeinen Schwarz unterschied. Seymour wußte, wo sich der Lichtschalter befand, aber er genoß die Finsternis.

Er näherte sich der Rutsche und schritt dabei über einen weichen Teppich aus Holzspänen hinweg, und kurz darauf sah er die Umrisse eines länglichen und mit einer Plane bedeckten Objektes vor sich. Er beugte sich zu dem Tuch herab, holte tief Luft und nahm einen Geruch wahr, der ihm gleichzeitig völlig fremd und ganz vertraut erschien. Noch einige Male atmete er tief durch, und der Duft war wie eine Droge, die ihn erregte.

Vorsichtig, fast zärtlich strich Paulus mit den Händen über die rauhe Plane und stellte sich die sanfte Wölbung der sich darunter verbergenden Gondel vor, die warme Glätte, die wundervolle Maserung im Holz, die geschwungenen Flanken, das hohe Heck. Es stimmte: Dieses Kunstwerk stellte eine Synthese dar und vereinte in sich die Essenz all dessen, was Seymour umgab.

Der Schiffsschuppen verwandelte sich in einen Alkoven. Das Wasser des Kanals spülte so weit in den Raum herein, wie es die Neigung des Bodens zuließ. Kleine Wellen schlugen sanft an den Rand der Rutsche und verursachten Geräusche, die nach geheimnisvollen Worten klangen, die irgend jemand Seymour ins Ohr flüsterte.

Paulus entkleidete sich, dann hob er einen Zipfel der Plane an, und darunter sah er die glatte und gewölbte Außenfläche der Gondel. Er schlüpfte unter das Tuch, und der herrliche Duft des feuchten Holzes hüllte ihn ein, wirkte fast berauschend. Er erfüllte das ganze Innere des Bootes. Es war ein nunmehr schlichtweg überwältigender Duft – nicht mehr nur der des Holzes, sondern auch der Geruch von Leder und Schweiß …

Seymour gab sich der Gondel so hin, als sei sie ein lebendes Geschöpf, und Körper und Geist verloren sich angesichts des sanften Schaukelns auf dem Wasser, das in den Bootsschuppen hereinglitt und wieder hinausströmte, herein und hinaus …

Es war die absolute Liebe, ein Akt, den er in dieser Intensität noch nie zuvor erlebt hatte, ihn niemals für möglich gehalten hätte.

Sehr viel später weckte ihn das Licht des Sonnenaufgangs, das durch den Spalt zwischen zurückgezogener Plane und dem Rumpf der Gondel zu ihm hereindrang.


Die Tür glitt vor ihm auf, und wie erwartet war der Raum völlig leer. Paulus hielt auf das Zimmer zu, in dem sich Dream befand, und die entsprechende Wandfläche reagierte mit einem prächtigen Farbenspektakel auf ihn.

Er vernahm die gedämpften Stimmen der Gäste, die aus den verborgenen Lautsprechern dröhnende Musik. Seymour schob das Paneel zur Seite und sah sich erneut mit der Menschenmenge konfrontiert, in deren Gegenwart Dream ihre Tage verbrachte.

Die junge Frau spielte mit einem Schwarzen: Sie betätigten ihre Sensorschalter, und an den Wänden bildeten sich verschiedene Glanzformationen, die sich teilweise gegenseitig aufhoben.

Dream bemerkte ihn erst, als er vor sie trat und sie damit an einer Fortsetzung des Spiels hinderte.

»Pau! Du bist also zurück! Wie war’s in Dodge City? Hast du mir ein Souvenir mitgebracht?« Das Mädchen betätigte einige Male vergeblich den Schalter der Sensoreinheit.

»Sag den anderen, sie sollen gehen.«

»Nein, laß sie doch bleiben. Wir ziehen uns in irgendeine Ecke zurück, nur wir beide allein. Einverstanden?« Und mit diesen Worten nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn mit sich, in einen Winkel des Zimmers, in dem sich einige Gäste damit vergnügten, in der Wand zu verschwinden und wieder daraus hervorzutreten.

»Schluß jetzt«, sagte Dream. »Laßt uns bitte allein.« Aber Paulus hatte bereits die kleine Metallscheibe Dreams entdeckt, und er schlang der jungen Frau den einen Arm um die Hüfte und preßte die Hand auf die Kontrolleinheit. Es knisterte, und die Gäste lösten sich in Luft auf.

Dream sah ihn finster an.

»Ich habe dir das hier mitgebracht«, sagte Pau und reichte ihr das Geschenk.

Ihre mürrische Verdrießlichkeit wich Neugier. Dream nahm das Paket entgegen und öffnete es. Sie holte das Objekt daraus hervor und betrachtete es erstaunt und verwirrt. »Was ist das, Pau?«

»Ein Stück Holz.«

»Aber … was kann man denn damit machen? Als Schmuck läßt es sich nicht verwenden. Es ist zu …«

»Es ist ein Teil von einer Gondel und hat einen unabschätzbaren Wert. Ich habe es für dich gestohlen.«

Die junge Frau wandte den Blick von dem Stück Holz ab und sah Paulus unschlüssig an.

»Ach«, sagte sie, »ich erinnere mich sehr gut an Dodge City und die berühmten Hamburger … sie sind dort wirklich köstlich. Hast du sie probiert? Sind die besten, Pau, ganz bestimmt. Was unsere Hamburger von Dodge City betrifft, kann uns niemand auf der Welt übertreffen.«

Pau berührte sie sanft an der Schulter. »Ich muß jetzt gehen, und ich glaube, wir werden uns sehr lange Zeit nicht sehen, vielleicht sogar nie wieder …«

»Wohin willst du denn? Zurück in den Kreisel?«

»Ich muß an den Ort zurückkehren, woher dieses Souvenir stammt.«

»Zurück nach Dodge City?«

»Ich war in den letzten Tagen an Bord der Man’s Pride, und dabei ist mir aufgefallen, daß sich dort nirgends auch nur eine Spur von Holz befindet. Die Station ist eine in sich geschlossene Welt völlig ohne Holz. Und als ich Shannon und den anderen sagte, daß die Wurzeln der Menschheit aus Holz bestehen, und nicht aus Kunststoff, haben sie mich nur groß angesehen und nicht verstanden. Auch du begreifst nicht.«

Die junge Frau musterte ihn und lächelte sanft.

Seymour strich mit der Fingerspitze über das Gondelfragment. »Versprichst du mir, es zu behalten?« fragte er. »Es könnte sein, daß …« Er hauchte Dream einen Kuß auf die Lippen und verließ das Zimmer.

Vor der farbigen Schiebefläche blieb er noch eine Weile stehen, um zu hören, ob die Gäste zurückkehrten, aber die Stille dauerte an.


Die Luft war erfüllt vom Geruch des Winters, dem Duft welkender Blätter und des Nebels, vom Wasser benetzten Mooses und des Salzes, das an Hauswänden sonderbare Muster bildete; da und dort kräuselte sich Rauch in die Höhe – von den mit glänzenden Messinggriffen versehenen Grillen, auf denen Kastanien rösteten.

Es waren wahrhaftige Aromen des Winters.

Seymour war auf dem Weg nach Hause und wanderte gemütlich dahin. Er trat auf den alten Mann hinter einem Grill mit röstenden Kastanien zu.

»Hallo, Pau«, grüßte der ihn. »Sieht ganz danach aus, als wolle der Winter auch dieses Jahr kommen, wie?«

»Tja«, erwiderte Seymour und wärmte sich die Hände über dem Feuer. In seinen Knochen begann er bereits die Kälte des Alters zu spüren.

»Noch um diese Zeit draußen?« fragte er.

»Ich warte nur noch auf die letzte Gruppe, bevor ich heimgehe«, erwiderte der Kastanienröster, der die Hände tief in die Taschen der dicken Jacke geschoben hatte. »Möchtest du Kastanien?«

»Komm doch zu mir, wenn du hier fertig bist, und bring einige mit. Dann machen wir eine Flasche vom guten auf und lassen es uns wohl sein.«

»Gern, Pau. Bis später!«

Seymour schritt auf die Tür zu, und mit den Fingern tastete er nach dem Schloß; auf seine Augen konnte er sich inzwischen nicht mehr ganz verlassen.

Er begann die Treppe emporzusteigen, und ab und zu mußte er stehenbleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Er durchquerte jenen Saal, in dem so viele von Tüchern bedeckte Möbel standen – das ›Titanenzimmer‹ nannte er diesen Raum seit dem nun schon viele Jahre zurückliegenden Tag, an dem Umàn ihm die Halle gezeigt hatte. In diesem Raum hatte er auch zum erstenmal das Telefon gesehen. Paulus fragte sich, wann es wohl für ihn klingeln mochte, und er war sicher, daß der Anruf nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Inzwischen waren auch schon Dotòr, der Astronom, Bubàna und Umàn angerufen worden.

Ähnliche Telefone gab es auch in anderen Städten Europas, in denen Männer und Frauen sich ganz der Aufgabe widmeten, die Errungenschaften einer uralten Kultur zu erhalten. Niemand wußte genau, wie es geschah, aber nachdem jemand einen Anruf erhalten hatte, wurde der Betreffende an einen Ort bestellt, fand Zugang zu einer anderen Existenzebene, wo sich all die Gedanken und Ideale konkret manifestieren konnten, die den Menschen hatten erwachsen werden lassen – eine Welt, in der nicht nur die Utopie eines Thomas Morus Wirklichkeit geworden war, sondern auch der Sonnenstaat Tommaso Campanellas, in der die Anschauungen der großen Philosophen ein gleichrangiges Miteinander eingegangen waren, in der das Greifbare neben dem Metaphysischen existierte, in der kein Gedanke mit dem Hindernis der Alltäglichkeit konfrontiert wurde.

Ein gewaltiges Kulturvermächtnis durfte nicht dem Konsumzwang als Opfer dargebracht oder von einem elektronischen Totalitarismus vereinnahmt werden; und es mußte verhindert werden, daß neue Ideen von der Arroganz der Unwissenden verschmäht und so vom Strom der Zeit davongespült wurden.

Seymour betrat das Zimmer, dessen Wände aus Glas bestanden. Seit vielen Jahren schon wohnte er dort. Er öffnete die Klappe des Ofens, und mit einem kleinen Schürhaken stocherte er in der Glut. Er legte einige Holzspäne darauf, und als das Feuer wieder entfacht war, schob er dickere Scheite nach und schloß die Klappe.

Er holte eine Flasche und stellte sie auf den Tisch. Dann schob er den Stuhl an die Glaswand heran, setzte sich, zündete sich die Pfeife an und betrachtete den Himmel durch das kristallene Mosaik.

Es mochte noch ungefähr eine halbe Stunde dauern, und wenn Carlòn rechtzeitig mit den Kastanien kam, so überlegte Paulus, konnten sie die Raumstation vielleicht gemeinsam beobachten. In einer solchen Nacht mußte sie deutlich sichtbar sein: Der Nebel reichte nur gerade bis zum ersten Stockwerk des Gebäudes, und der Himmel war klar und schwarz. Die Man’s Pride würde wie ein besonders heller Stern ihre Bahn ziehen.

Seymour nickte ein. Carlòn weckte ihn später, und er setzte sich mit ihm an den Tisch, um die Kastanien zu essen und ein Gläschen vom guten Wein zu trinken.

Die Man’s Pride war längst wieder hinterm Horizont verschwunden.

Schweigend schälten die beiden alten Männer die Kastanien ab. Paulus schenkte die Gläser voll. Die Hülsen der Kastanien knackten zwischen ihren Fingern und bildeten bald kleine Haufen auf der Holzplatte des Tisches.


Originaltitel: ›Souvenir‹

Copyright © 1985 by Renato Pestriniero

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Italienischen übersetzt von Andreas Brandhorst

Illustriert von Klaus D. Schiemann

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