Richard Mueller Bullivants Messer



Der Mann tauchte mit fuchtelnden Armen auf und fiel hin. Dann lag er ausgestreckt im Dreck, seine rechte Hand umklammerte ein Messer, die linke triefte von Blut.


Ich kannte Bullivant schon einige Jahre, bevor ich sein Geheimnis entdeckte. Zunächst schien er nur einer jener idiotischen Typen zu sein, die immer noch von der großen Zeit in Indien zehren und mit den entsprechenden Filmen eigentlich hätten aussterben müssen: C. Aubrey Smith, der in Rawalpindi oder Kanpur einen Gin Soundso trinkt und sehnsuchtsvoll zum Khyber-Paß blickt in der Hoffnung, daß Britannia von den Toten auferstehen und ihr verlorenes Reich zurückfordern möge; qualmende Stahlungeheuer von Schlachtschiffen; edelmütige Verwalter; Wachmannschaften zur Verteidigung der britischen Kolonialherrschaft und ihrer Zuckerbäcker-Türme. In einer Zeit, in der es eine Margaret Thatcher gab und Leichtmetall-Fregatten im Südatlantik bis zur Wasserlinie in Flammen standen, war Bullivant wirklich ein äußerst absonderlicher Vogel. Aber während der längsten Zeit unserer Bekanntschaft hatte ich keine Ahnung, wie absonderlich er tatsächlich war.

Zum erstenmal entdeckte ich den alten Knaben in einem der Lesesäle des Britischen Museums, und ich war auf der Stelle fasziniert. Es war nämlich ein brütendheißer Tag im Juli, so schlimm wie seit acht Jahren nicht mehr. The Times führte das auf die Zerstörung der Ozonschicht zurück, und der BBC hatte vorausgesagt, daß die Hitze bis September anhalten würde. Und hier saß ein Mann, der in so viel Tweed eingepackt war, daß die Klinge eines Breitschwerts nicht hindurchgedrungen wäre. Ich bin Amerikaner und bis zu einem gewissen Grad taktlos, und ich befürchte, daß ich ihn ziemlich unverhohlen anstarrte, als er aufblickte.

»Nun, hmp, hmp, hust«, sagte er – genau wie Major Hoople: hust. Er blinzelte, klemmte sich ein Monokel ins rechte Auge und zog die Oberlippe bis übers Zahnfleisch hoch.

»Ahem«, fuhr er fort, und sein Sprechmechanismus kam langsam in Gang. »Kann ich, ehm, ehm, Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»O nein. Verzeihung. Ich wollte Sie nicht so anstarren.«

»Warum haben Sie es dann getan?« knarzte er mich an.

»Ich habe mich gefragt, wie … also, wie jemand es bei diesem Wetter in so dickem Tweed aushalten kann.«

»O ja«, sagte er, während er sein Monokel aus dem Auge nahm und es mit einem blütenreinen Taschentuch polierte. »Es ist in der Tat ziemlich warm, nicht wahr?«

Ich trug eine leichte Sommerhose und ein kurzärmeliges Hemd, und trotzdem lief der Schweiß in Bächen an mir hinunter. »Es ist kochend, sogar hier drin. Wie können Sie das aushalten? An einem so rasend heißen Tag …«

Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das aber sofort wieder einem würdevollen Ausdruck wich.

»Sie sind Amerikaner?«

»Ja, sieht man das?«

»Ehm, nein, urrump. Ihre Ausdrucksweise. Rasend heiß. Das ist eine typische Redewendung. Guten Tag.«

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Buch zu, und damit war die Unterhaltung unwiderruflich beendet, Schluß, aus, als ob sie nie stattgefunden hätte. Meine Frage nach dem Tweed blieb unbeantwortet. Erstaunlich! Ich hatte sogar Vorstellungsgespräche bei der Stellensuche erlebt, die erheblich flüssiger liefen als diese Unterhaltung … Er war wieder vollkommen in seine Lektüre vertieft. Mit einem Achselzucken beschäftigte ich mich wieder mit meinen Studien über die republikanischen Tendenzen im alten Rom … Wenn ich zu Hause von der Begegnung mit ihm erzählte, würde das immerhin eine ganz nette Geschichte abgeben.

In den folgenden Tagen sah ich Bullivant mehrmals (obwohl ich damals seinen Namen nicht kannte), und er steckte jedesmal in seiner Tweed-Rüstung, ungeachtet der Hitze, die Londons Straßen in einen Backofen verwandelte und sogar die Klimaanlage des Museums wirkungslos machte. Bei einigen Gelegenheiten nickte ich ihm zu und erhielt als Antwort ein Blinzeln aus seinem Bibergesicht, doch weiter kümmerte ich mich nicht um ihn. Erst als ich Bullivant ein paar Tage später in einem Pub in der Nähe des Museums traf, sprach ich wieder mit ihm.

Er hatte sich in einer Ecknische niedergelassen, vergraben hinter Stapeln von Büchern, ein Gin Fizz sprudelte unberührt neben seinem Ellbogen vor sich hin. Der Raum war unter einer Reihe vergeblich sich drehender Ventilatoren an der Decke der Hitze ausgeliefert, aber Bullivant war immer noch in voller Montur. Er machte nicht einmal den Eindruck, als ob ihm warm wäre.

Ich hatte einen erfolglosen Tag hinter mir, da ich eine falsche Spur verfolgt hatte, und nachdem mir ein Glas von Arthur Guinness’ verhängnisvollem Gebräu Mut gemacht hatte, rutschte ich auf die Bank ihm gegenüber.

»Was machen Ihre Studien? Kommen Sie voran?«

»Ah, der junge Amerikaner! Ihnen macht die Hitze wohl ganz schön zu schaffen, wie?«

Es war offensichtlich, daß es so war, da mir das Hemd klatschnaß am Körper klebte. »Ihnen hingegen scheint sie überhaupt nichts anzuhaben«, sagte ich.

»Hm, nein, das stimmt nicht. Das ist das Bemerkenswerte an Tweed, man sieht keine Flecken.«

»Aber …«

Er legte mir eine Hand auf den Arm und bedachte mich mit einem väterlichen Lächeln, als er sagte: »Natürlich empfindet man die Hitze. Aber das wichtigste ist, daß man es nicht sieht, wissen Sie. Das wäre ein schlechtes Vorbild.«

Vor meinem geistigen Auge tauchte das Bild von G. Gordon Liddy auf, dessen Hand sich in einer Kerzenflamme in einen gut durchgebratenen Hamburger verwandelte. Ein schlechtes Vorbild? Für mich?

»Wo haben Sie diesen Trick gelernt?« fragte ich.

Ein breites Grinsen, eine undeutliche Geste, mit der er den gesamten geheimnisvollen Osten beschrieb. »In Indien, glaube ich. Ich war dort Verwalter, im Dienste der Krone.«

Ich rechnete im Kopf nach. Indien war vor über vierzig Jahren unabhängig geworden, und Bullivant sah kaum alt genug aus, daß er im Zweiten Weltkrieg hätte Rekrut sein können. Im äußersten Falle konnte er ein guterhaltener Mittsechziger sein …

»Haben Sie in Indien Erfahrung mit geistiger Disziplin gemacht? Vielleicht Yoga gelernt?«

Bullivant sah mich an, als hätte ich ihm gerade ernsthaft eine Reise zum Mond auf einem fliegenden Teppich vorgeschlagen. Ich hatte das Gefühl, hoffnungslos amerikanisch zu sein.

»O nein, mein Bester. Nichts dergleichen. Schließlich hätte das bedeutet, sich den Eingeborenen anzugleichen. Es blieb alles streng britisch, seien Sie versichert. Es war die Art, sich in allen Situationen zivilisiert zu verhalten, niemals die Würde zu verlieren, wissen Sie. So waren wir, durch und durch.«

Mehrere Wochen lang sah ich Bullivant mal hier, mal dort, im Museum, in verschiedenen Pubs und Teehäusern im Viertel und gelegentlich auch auf der Straße. Wir tauschten die üblichen Höflichkeitsformeln aus, erkundigten uns jeweils nach der Arbeit des anderen und sprachen über unsere Angelegenheiten in äußerst unverbindlichen Gemeinplätzen. Tatsache ist, daß ich so gut wie nichts über Bullivant erfuhr. Er hatte im Dienst der Kolonialregierung in Indien gestanden und einige Unruhen miterlebt; jetzt lebte er allein in einer Wohnung in der Nähe des Museums; er schien auf dezente, fast wohltätige Weise rassistisch zu sein, ihm fehlte der kleine Finger der linken Hand, und er betrieb Studien über jenen Zeitabschnitt in der Geschichte Indiens, der unmittelbar vor dem Sepoy-Aufstand lag und in dem es einen obskuren Hindu-Kult gegeben hatte. Ich bin sicher, daß er entschieden mehr über mich erfuhr. Ich bin von Natur aus gesellig, und einer von uns mußte schließlich die Unterhaltung in Gang halten.

Vor meiner Abreise zurück nach Kalifornien versuchte ich, ihn noch einmal zu treffen, aber der Angestellte im Lesesaal deutete an, daß er nach Edinburgh gefahren sei, um ein ausgefallenes Buch aufzutreiben. Ich hinterließ eine Abschiedsnotiz für ihn am Informationsschalter und flog über die Polarroute nach Hause.


Einige Wochen später erhielt ich zu meiner größten Überraschung einen Brief von Bullivant mit hundert Pfund in englischen Banknoten.


Lieber Michael,

es tut mir außerordentlich leid, daß ich bei Ihrer Abreise nicht da war, aber ich war landaufwärts unterwegs, um Nachforschungen anzustellen, die – so fürchte ichkeine Ergebnisse gebracht haben. Vielleicht könnten Sie, da Sie in Los Angeles vermutlich Zugang zu den Pfründen frühester okkulter Werke haben, mir einen Gefallen erweisen. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, daß Ihre Bemühungen in höchstem Maße honoriert werden.

Ich bin auf der Suche nach einem seltenen Buch, das in einer limitierten Auflage im Jahre 1824 in Bombay gedruckt wurde: Die Twaschri-Mysterien von Horace de Bowden. Wenn es Ihnen tatsächlich gelingt, ein Exemplar davon aufzutreiben, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie es mir per Einschreiben zusenden würden.

Ergebenst,

Ihr D. Bullivant


Dann folgte seine Adresse, die Wohnung in der Nähe des Museums. Die Weihnachtsferien standen vor der Tür, es war mir nicht geglückt, eine der Frauen, die mir gefielen, für eine Beziehung zu gewinnen – weder fest noch flüchtig –, und mein Studienaufenthalt in England hatte meine Ersparnisse aufgezehrt, weshalb ich gezwungen war, in der Stadt zu bleiben. Die Suche nach einem ausgefallenen Buch war für mich also eine willkommene, interessante Beschäftigung.

Ein Besuch in der öffentlichen Bücherei ergab, daß Twaschri eine Hindu-Gottheit war, die für Wissenschaft, Technik, Magie, Erfindungen und dergleichen zuständig war, und entsprechend konzentrierte ich meine Suche, aber weder bei Aleph Books noch im House of Hermetics noch bei Bodhi Tree konnte ich etwas darüber erfahren. Ich klapperte einige ausgefallene Antiquariate ab und fuhr sogar hinaus zu The Scene Of The Crime, in der vagen Hoffnung, daß ich dort den wahren Mysterien auf die Spur käme. Alles ohne Erfolg. Dann tat ich das, was ich von Anfang an hätte tun sollen. Ich rief Juli Denner an.

Als ich vor etlichen Jahren nach Los Angeles gekommen war, war Juli die erste Frau, mit der ich ein Verhältnis hatte. Getreu nach dem Tschechow-Prinzip wurden wir gute Freunde, nachdem die Flamme der Liebe erloschen war. Sie hatte inzwischen geheiratet, und unsere Interessen hatten sich in ganz unterschiedliche Richtungen entwickelt, aber wir waren immer in Verbindung geblieben. Wenn sie eine Frage auf dem Gebiet der Geschichte hatte oder eine Quelle für einen Aufsatz oder eine Erzählung brauchte, war ich derjenige, den sie anrief. Und Juli war für mich die Kapazität in Sachen Okkultes.

»Michael, ich dachte du wärst tot oder in England!«

»Aus dem Grabe auferstanden, sonst nichts. Ich bin seit Oktober zurück.«

»Also, du hättest ja mal schreiben oder anrufen können, als du wieder hier warst …«

Ich ließ ihre berechtigten Beschwerden widerspruchslos über mich ergehen und wartete, bis sie fertig war, dann sagte ich: »Ich werde es wiedergutmachen. Ich lade dich und Robert zum Essen ein. Zu irgend etwas Feinem, Ausgefallenem, wie gebratene Gans …«

»Robert macht zur Zeit eine Stippvisite in San Francisco, aber ich nehme gern an. Wie wär’s mit Sushi?«

Ich fand, daß sich das ausgefallen genug anhörte, und wir trafen uns am gleichen Abend im Restaurant ›Ai-Garten‹.

»Die Mysterien von Twaschri?«

»Die Twaschri-Mysterien«, sagte ich und wälzte eine Thunfischrolle im Mund. »Schon mal gehört?«

Juli warf das wallende schwarze Haar zurück und schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie davon gehört, aber das heißt nicht, daß ich es nicht finden kann. Ich kenne sogar tatsächlich jemanden, der vielleicht ein Exemplar besitzt. Wir können später zu ihm gehen und ihn fragen, wenn du Lust hast.«

Ich fand, das hörte sich gut an. »Wer ist der Typ? Ein Sammler?«

»Könnte man sagen. Es ist der Baron.«

»Wirklich?«

Als ich Juli kennenlernte, arbeitete sie in einem esoterischen Buchladen und war sehr stark in der okkulten Szene von Los Angeles engagiert. Sie besuchte Kurse für weiße Magie und Seancen und kannte durch ihre Tätigkeit in dem Laden viele Leute quer durch alle Bereiche der angewandten Magie in Los Angeles. Einer davon war der Baron.

Ich war dem Comte Adrian de Servais, Baron von Hankau, niemals persönlich begegnet, aber ich wußte von Juli, daß seine Magie alles andere als weiß war, sondern schon ganz erheblich ins Dunkelgrau tendierte. Adrian, Kosmopolit, Antiquar und Sammler war ein berüchtigter Homosexueller von unbestimmbarem Alter, von dem Gerüchte besagten, daß er einst Berater der Königin von China gewesen und geflohen sei, nachdem er im Boxeraufstand 1905 in Ungnade gefallen war. Dieser sonderbare Mann war eine der kuriosesten Erscheinungen der Untergrundszene von Los Angeles, und ich sollte ihn jetzt kennenlernen.

»Paß auf, daß du ihm nicht irgendwie zu nahe trittst, Michael. Adrian ist in der Weihnachtszeit immer leicht reizbar.«

Und ob ich aufpassen würde! »Ich werde auf der Hut sein.«

»Gut. Er besitzt ziemlich viel Macht. Und ich möchte nicht, daß dir etwas passiert.«

Ich hoffe, Sie wissen das zu würdigen, Bullivant.


Der Baron entpuppte sich als ein Ausbund an Zuvorkommenheit. Nachdem er mich mit einem unverhohlen abschätzenden Blick gemustert hatte, wandte er sich an Juli und sagte: »Ich werde deinem Freund helfen. Seine Absichten sind ehrenwert und dienen der Wissenschaft und Forschung.« Nicht schlecht, nachdem ihm Juli bis jetzt nur meinen Namen genannt hatte! »Und übrigens, meine Liebe, er hat Schlafzimmer-Augen.«

In der Annahme, daß ich mit Juli sicher wäre, folgte ich den beiden nach drinnen. Adrian war ein kleingewachsener Mann, wendig und mit eleganten Bewegungen, er trug einen Kinnbart und einen bizarr gezwirbelten Schnauzer. Ich habe niemals an das Übersinnliche geglaubt (obwohl ich Julis Hingabe daran respektiere und schätze, daß irgend etwas daran sein muß – sie ist schließlich kein Dummchen), aber Adrian strahlte etwas aus, dem man sich nicht entziehen konnte. Eine Aura, eine magnetische Kraft oder so etwas. Bei unserem Rundgang durch sein barockes, hochherrschaftliches Haus forderte er mich auf, ein Artefakt eingehender zu betrachten, und rief mich zu diesem Zweck mit einem Fingerschnalzen zu sich, bei dem ich die Kraft fast körperlich spürte. Ich wußte nicht, was er alles besaß, und wenn ich es gewußt hätte, hätte ich sicher nichts davon haben wollen, aber in einem Punkt hatte ich keinerlei Zweifel: Er hatte es. Ich fragte mich, wie Bullivant wohl auf ihn reagiert hätte.

Während der Betrachtung von chinesischen Messingarbeiten drehte sich der Baron unvermittelt zu mir um. »Also, was wollten Sie noch mal, Michael?«

»Ein Buch. Die Twaschri-Mysterien …«

»Von de Bowden.« Seine Augen leuchteten auf. »Ihr Freund hat einen guten Geschmack.«

»Sie kennen es?«

»O ja. Gedruckt in Bombay im Jahre 1824 in einer limitierten Auflage von fünfhundert Exemplaren. Nach dem Druck entschieden die christlichen Behörden«, und hier leckte er sich mit einem ziemlich finsteren Ausdruck des Mißfallens über die Lippen, »daß das Buch gotteslästerlich sei, und alle Exemplare wurden vernichtet.«

»Oh!« entfuhr es mir und Juli gleichzeitig.

»So dachten sie wenigstens.« Er lächelte. »Eine Kiste mit zehn Exemplaren war aber bereits auf dem Weg nach England. Drei davon besitze ich.«

»Tatsächlich? Wären Sie bereit, eins davon zu verkaufen?« fragte ich.

»Das wäre ich. Mit wieviel hat Sie Ihr exzentrischer Freund ausgestattet, um diese Anschaffung zu finanzieren?«

Mir schien es sinnlos, zu lügen. »Einhundert Pfund.«

»Geben Sie sie mir.« Er blätterte durch die Banknoten.

»Ich werde fünfzig Pfund für das Buch nehmen, da ich noch zwei weitere Exemplare davon besitze und es für ein zwar interessantes, aber törichtes Werk halte; aber wer weiß schon, wonach der Sinn eines Menschen steht? Sie beide können sich dreißig Pfund sozusagen als Finderlohn teilen und zwanzig Pfund an diesen Bullivant zurückschicken, um ihm zu zeigen, welchen guten Fang Sie für ihn gemacht haben. Und ich bin überzeugt, daß über diese Regelung alle Beteiligten glücklich sein werden. Wollen wir jetzt Tee trinken?«


»Also, ich kann mich über den Baron nicht beschweren«, sagte ich, als wir über die Hügel Hollywoods zurückfuhren.

»Du gefällst ihm«, sagte sie stolz. »Das macht viel aus.«

»Wahrscheinlich schon«, sagte ich und dachte an das sonderbare kleine Buch, das wir gekauft hatten und von dem Adrian drei Exemplare besessen hatte. Drei von zehn! »Und wenn es nicht so gewesen wäre, hätte er mich dann in eine Kröte verwandelt?«

»Über solche Dinge solltest du nicht sprechen«, sagte sie ruhig. »Würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Klar.«

»Bleib heute nacht bei mir und schlaf im Gästezimmer. Ich möchte mir morgen mit dir das Buch ansehen, bevor du es wegschickst.«


Das Unterfangen war eine Enttäuschung. Ich blieb tatsächlich im Gästezimmer, was ich wohl auch nicht anders erwarten konnte, und das Buch erwies sich als langweilig. Es beschrieb eingehend die Entwicklung eines mystischen Kults in Indien während der Zeit der napoleonischen Kriege; angebetet wurde dabei Twaschri, eine Hindu-Gottheit der Wissenschaften. Vieles davon war obskur und offensichtlich tendenziös dargestellt, so als ob de Bowden selbst wirklich an den Kult geglaubt hätte. Es waren langatmige Anrufungen an die Gottheit, Wort für Wort wiedergegeben, es gab seitenweise komplizierte Rituale, merkwürdige rassistische Schmähreden – gegen die Moslems und die Briten –, uninteressante Ahnenforschungen und fragwürdige Symbole, die angeblich die Mysterien versinnbildlichten: das feurige Tor, das Rad der Vernichtung, das Schwert der Zeit, die juwelenbesetzte Krone, sprechende Statuen. Die ganze Abhandlung war verworren, etwa wie die Nazi-Machwerke, die einen nicht existierenden Judenhaß des Mittelalters nachweisen wollten. Ich schüttelte den Kopf, schickte das Buch und die zwanzig Pfund mit der Post an Bullivant und vergaß die ganze Sache bald darauf.


Vier Jahre später erhielt ich eine Einladung als Gastdozent nach Manchester, und als ich mich gerade auf die Reise vorbereitete, rief mich Juli an.

»Wirst du diesmal schreiben?«

»Natürlich werde ich das. Ich werde ein ganzes Jahr lang weg sein und Vorlesungen halten. Ich schätze, da werde ich mich ganz schön einsam fühlen.«

»Ich habe Adrian erzählt, daß du fährst. Er bat mich, dir etwas auszurichten.«

»Aha?«

»Er sagt, er hat etwas über Bullivant herausgefunden.«

»Was?« Bullivant hatte geschrieben, um mir für das Buch zu danken, und wir hatten seither jährlich Weihnachtskarten ausgetauscht, immer nach dem gleichen Schema: meine im Rundschreib-Verfahren, seine mit einer gestochen feinen Schrift.

»Adrian hat sich mit Fällen von mysteriösem Verschwinden beschäftigt. Nicht nur mit den großen wie die von Ambrose Bierce und Judge Crater, sondern vor allem mit den kleinen, geheimnisvollen.«

»Klingt nach Begegnungen der dritten Art.«

»Wenn du so willst. Jedenfalls stieß er auf die Erwähnung eines David Bullivant, eines Gebietsverwalters im Distrikt Lakhnau, der im Jahre 1842 spurlos verschwand. Es ging das Gerücht, daß er sich zum Zeitpunkt seines Verschwindens mit der Erforschung eines speziellen Kults beschäftigte – ohne genauere Angaben, aber Adrian ist sicher, daß es sich um Twaschri handelte.«

Ich lachte. »Ich habe gerade Indiana Jones und der Tempel des Verderbens gesehen. Es ist ziemlich an den Haaren herbeigezogen, aber damals trieben schon einige schlimme Gruppen ihr Unwesen. Es gab tatsächlich diesen Kult der Würger der Göttin Kali. Dieser Bullivant ruht wahrscheinlich seit hundertvierzig Jahren in einem unbekannten Grab. Und mein Bullivant ist ein armer Irrer oder eine Zufallserscheinung. Oder ein Verwandter, der das Verschwinden eines Vorfahren untersucht.«

»Das habe ich auch gesagt«, antwortete Juli; ihre Stimme klang weit entfernt und dünn durchs Telefon, »aber Adrian hat auf einen bemerkenswerten Punkt hingewiesen. Die Anhänger von Twaschri glaubten nämlich, daß sie durch die Zeit reisen könnten.«

»So?«

»Das hat er jedenfalls gesagt.« Das Schwert der Zeit! »Wirst du Bullivant aufsuchen, wenn du dort bist?«

»Nun, ich habe eine Woche Zeit in London, bevor ich landaufwärts fahre.« Ich erinnerte mich, daß sich Bullivant so ausgedrückt hatte. »Ja, das könnte ich eigentlich machen.«

»Dann sei bitte vorsichtig.«


Sei vorsichtig! Im Flugzeug nickte ich ein und wachte durch eine schreckliche Erscheinung auf, aber es war nur das Bordkino. Ich setzte den Kopfhörer auf, schob eine Al-Stewart-Kassette ein und las. Unsinn, dachte ich. Aber nachdem ich meine Sachen ins Hotel gebracht hatte, begab ich mich sofort zu Bullivants Wohnung.

»Ja bitte? Nein so was, der Amerikaner! Kommen Sie doch herein!«

Seine Wohnung war klein, die Amerikaner würden sie kuschelig nennen, die Engländer komfortabel ausgestattet. Die Einrichtung war im indischen Stil gehalten, wahrscheinlich zusammengetragen von Pakistan-Import- und Antiquitätengeschäften, aber dennoch gab es einige ganz hübsche Sachen. Das Regal war vollgestopft mit Büchern über Indien, die Kolonialverwaltung und das Viktorianische England, und außerdem gab es eine kleine Abteilung mit modernen Nachschlagewerken: Landkarten, politische Abhandlungen, Michelin-Führer, Jahresbände von Zeitungen. Ein Stapel des Guardian türmte sich neben dem Sofa auf.

Bullivant machte Tee und quetschte mich über den Verlauf meiner letzten vier Jahre aus; zwischendurch nickte er, gab spärliche Kommentare ab und ermunterte mich immer wieder, weiterzureden. Zunächst dachte ich, er hätte sich verändert, wäre aufgeschlossener und gesprächiger geworden. Doch dann durchschaute ich seine Taktik: Solange ich redete, brauchte er nichts zu sagen, der alte Fuchs! Ich entschloß mich zu einem Frontalangriff und wartete, bis er den nächsten seiner kurzen Kommentare abgab.

»Bullivant, erzählen Sie mir vom Schwert der Zeit!«

Er hielt inne und sah mich forschend an, und einen Augenblick lang dachte ich, ich hätte alles verdorben.

Dann wich alle Farbe aus seinem Gesicht, und er stammelte: »Sie … sie wissen davon?«

»Ich weiß einen Teil davon«, sagte ich. »Ich weiß, daß ein David Bullivant in der Gegend von Lakhnau im Jahre 1842 verschwunden ist. Ich weiß, daß er Verwalter war und Studien über den Twaschri-Kult betrieb« – ich war am Drücker, und es war durchaus zulässig, auf gut Glück zu raten –, »und daß sein Verschwinden irgendwelchen kultischen Handlungen zugeschrieben wird. Stimmt das?«

»Ja«, stieß er mühsam hervor. »Sie wissen fast soviel wie ich.«

»Wieso?«

»Es ist nicht so einfach, wie es scheint. Was Sie erraten haben und was ich herausgefunden habe, mag tatsächlich stimmen, aber ich kann es nicht beweisen. Ich habe kein Erinnerungsvermögen.«

Ich starrte ihn an, und er lächelte, wie jemand, der sich in die Enge getrieben fühlt. »Vielleicht sollte ich Ihnen alles erzählen, an das ich mich erinnere:

Ich kam vor sechs Jahren wieder zu mir – ich nehme an, so könnte man es nennen –, und zwar in der Nähe eines Dorfes namens Swatuck in Indien. Ich lag am Boden, ausgestreckt im Dreck, als ob ich aus geringer Höhe heruntergefallen wäre. Ich trug zerlumpte bäuerliche Kleidung. In der rechten Hand hielt ich ein sonderbares Messer, und an der Stelle meines kleinen Fingers der linken Hand« – er hob sie hoch, um zu demonstrieren, daß ein Glied fehlte – »war eine frische Schnittwunde, die blutete. An dem Messer klebte ebenfalls Blut.

Ich verband mir die Hand und machte eine Art Bestandsaufnahme. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, daß ich keinerlei Erinnerung mehr hatte, absolut keine. O natürlich, ich wußte noch, was ein Messer war und wie ich meine Hand verbinden mußte, solche elementaren Dinge. Als ich meine Kleidung untersuchte, fand ich darunter einen Lederbeutel. Eine Taschenuhr verriet, daß mein Name David Bullivant war und daß ich im Jahre 1810 irgendwo einen Abschluß gemacht und meine Mutter mir zu diesem Anlaß die Uhr geschenkt hatte. Darüber hinaus besaß ich lediglich ein Erkennungsvermögen für Gegenstände und die Fähigkeit, Sprache zu benutzen.«

»Mein Gott«, sagte ich. »Wie konnten Sie überleben? Diese Welt ist schwierig, schwierig und teuer.«

Er nickte zur Bekräftigung dessen, was ich gesagt hatte. »Glücklicherweise besitze ich eine überdurchschnittliche Intelligenz. Es war nicht leicht, aber ich lernte, daß es Radios und Flugzeuge und Wissenschaft und Geschichte gab. Kriege. Der Untergang unseres Reiches. Ich habe schnell aufgeholt, könnte man sagen.«

»Aber …«

»Geld? O ja, natürlich. Daraus hätte in der Tat ein Problem entstehen können, aber, sehen Sie, meine Taschen waren randvoll gefüllt mit Juwelen.«

Als ich wieder Luft holen konnte, platzte ich heraus: »Dann haben Sie einen Tempel ausgeraubt!«

»Ja, ich weiß. So muß es gewesen sein, damals 1842. Aber wie bin ich dann hierher gekommen?«

»Das Schwert der Zeit? Haben Sie es?«

Er erhob sich und ging in Richtung Küche, wobei er mir winkte, ihm zu folgen. Die Küche war modern und mit den neuesten technischen Errungenschaften ausgestattet, aber es gab auch eine Anzahl von viktorianischen Teesieben und andere ungewöhnliche Gerätschaften, die an Haken über der Spüle hingen. Ich nehme an, daß Bullivant sie in Antiquitätenläden gefunden hatte und nun ganz unbewußt benutzte.

Vor der Spüle blieb er stehen.

»O verflixt«, sagte er und wischte einen Haufen Karottenstiele in den Abfall. »Ich werde nachlässig.« Er griff in das obere Fach eines Schrankes und holte eine Pappschachtel herunter. Aus der Schachtel nahm er ein Stoffbündel und legte es auf den Tisch. Es war vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter lang.

»Etwa das Schwert? Das hier?«

»Ja.«

Er packte es aus und brachte ein langes Messer von ungewöhnlichem Aussehen zum Vorschein; es hatte einen dunklen, geschnitzten Griff. Die Zeichen auf dem Griff deuteten annäherungsweise fremdartige Gesichter, Körper, Gliedmaßen, Augen und hier und da Bruchstücke einer unbekannten Schrift an, die durch Oberbalken verbunden waren.

»Haben Sie sich jemals um eine Übersetzung bemüht?«

»Ja. Ohne Erfolg. Es ist zu alt, zu primitiv. Es ist älter als alle Kulturen, die wir kennen. Aber sehen Sie hier, auf der Klinge. Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«

Von einem unendlich kleinen Punkt aus wurde die Klinge immer breiter, bis sie schließlich am Schaft gut drei Zentimeter maß. Von dem breiten Rücken verjüngte sie sich gleichmäßig bis hinunter zur Schneide, die sich von der Spitze nach hinten verdickte, so daß sie am Schaft die Form eines dicken Keils hatte. Ich hätte ein Messer niemals so geformt. Es sah in höchstem Maße untauglich aus, und das sagte ich ihm auch.

»Das ist es«, bestätigte Bullivant. »Sofern man damit schneiden will. Es schneidet nicht richtig. Sehen Sie!«

Er stellte die Klinge aufrecht auf den breiten Rücken. Ein dunkler Fleck, umgeben von kleineren Spritzern, bedeckte die Unterseite des Keils: Blut, von dem ich annahm, daß es das sechs Jahre alte von Bullivant war. Aber das Bizarre an der Sache war die Schneidekante an sich.

Wie in einer Reihe aufgefädelter kleiner Diamantensplitter brach sich das Licht auf der Klinge. Ich konnte die eigentliche Schneidekante nicht sehen, da sie nicht stillstand, daß sich meine Augen hätten darauf einstellen können, sondern die Reflexe in sich zusammenfallen und sich auszudehnen schienen wie die Nachempfindungen auf der Netzhaut, die einem unter den Augenlidern hindurchfluten, wenn man sie ganz fest schließt.

»Da!« sagte er. »Sie wissen, was es ist?«

»Ich glaube, die entscheidende Frage ist, wo es ist«, murmelte ich. »Es ist nicht hier.«

»Sondern wo?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht in einem anderen Universum.«

Bullivant rieb sich die Augen, als ob er die Wirklichkeit/Unwirklichkeit dessen, was er vor sich sah, wegwischen wollte, und sagte dann: »Ich bekomme davon Kopfschmerzen. Ich werde mich zur Ruhe begeben. Würden Sie morgen wiederkommen?«


Ich verbrachte den Tag in der Bibliothek und verglich alles miteinander, was in der Science Fiction- und Fantasy-Literatur über Zeitreisen vorkam. Ich plätscherte in den seichten Gefilden allerlei sonderbarer Werke herum und kam schließlich zu der Einsicht, daß ich nichts davon verstand. Gegen Abend kaufte ich unterwegs die Zutaten für ein paar Hamburger und Salat und schleppte mich müde zu Bullivants Wohnung.

Er saß in der Küche, das Messer lag vor ihm; die sinnenverwirrende Schneidekante hatte er mit einem Tuch abgedeckt.

»Bullivant, was meinten Sie damit, als Sie sagten, daß das Messer nicht richtig schneidet?«

»Es schneidet nicht. Hier, ich werde es Ihnen zeigen.«

Er nahm es unter dem Tuch hervor und trug es zur Abtropffläche der Spüle. Dann legte er die Hand flach auf den hochstehenden Rand und hielt das Messer schneidbereit darüber.

»Was machen Sie denn da?« schrie ich.

»Sehen Sie genau hin!« Er senkte das Messer, bis es seine Hand in zwei Teile teilte und zur Hälfte eingedrungen war. Es kam kein Blut, und als er das Messer herauszog, war keine Spur einer Wunde zu sehen.

»Aber wie …«

»Ich weiß es nicht. Aber wenn ich das Messer vollständig meine Hand durchdringen ließe …«

»Was geschähe dann?« fragte ich, wobei meine Stimme nur noch ein Flüstern war.

Bullivant zuckte die Achseln. »Ich bin nicht sicher. Aber wir können es ja einmal ausprobieren. Geben Sie mir eine von den Tomaten, die sie mitgebracht haben.« Er legte die Tomate behutsam auf die Abtropffläche und brachte das Messer darüber in Stellung. »Sehen Sie bitte wieder genau hin. Das Ganze läuft sehr schnell ab.«

Er senkte das Messer bis zur Hälfte in die Tomate und zog es dann zurück. Und wieder waren kein Einschnitt und keine Spuren an der Klinge zu sehen. Dann führte er die Klinge vollständig durch die Frucht, und sobald sie die Fläche darunter berührte, verschwand die Tomate – unvermittelt und lautlos.

»Wo ist sie hin?« fragte ich, als ich wieder sprechen konnte.

Er zuckte die Achseln. »Sie verschwindet einfach. In die Vergangenheit. In die Zukunft. Und so etwas Ähnliches muß auch mit mir geschehen sein.«

»Darf ich es auch einmal ausprobieren?«

Er reichte mir die Waffe mit der Ermahnung, vorsichtig zu sein. Sie wog fast nichts. Ich erinnerte mich daran, daß viele Leute, die sich mit der Erforschung der Magie beschäftigten, glaubten, daß die sogenannten magischen Artefakte sich bis in parallele Zeitebenen oder Universen ausdehnen und ihre Substanz, ihre Masse und ihr Gewicht nicht in dieser Welt seien. Tatsächlich war es ja auch diese Verbindung zu einer anderen Welt, die diesen Gegenständen angeblich ihre Kraft verlieh. Das Schwert der Zeit schien diese Theorie sehr überzeugend zu bestätigen. Ich nahm ein Bündel Karottenstiele aus dem Mülleimer und hielt das Messer – und zwar nur die Spitze – mitten darüber. Als die Spitze der Klinge hindurchfuhr, verschwanden auch sie. Pau! dachte ich nicht besonders geistreich. Wenn man ein solches Werkzeug gezielt einsetzen könnte, das Gegenstände halbiert in die Zukunft schickte … Die Zukunft?

»Bullivant, schnell! Haben Sie gestern, als ich hier war, ein Bündel Karottenstiele weggeworfen? Erinnern Sie sich!«

»Ja, das habe ich«, sagte er unsicher. »Es ist nicht meine Art, Gemüseabfälle für die Ameisen herumliegen zu lassen.«

»Sie haben es nicht getan. Ich habe es getan.« Ich erklärte ihm, was ich gemacht hatte.

»Aber die Dinge, die ich durchschneide, erscheinen niemals wieder. Sind niemals wieder erschienen.«

»Vielleicht hat es etwas mit der Breite der Klinge zu tun. Ich habe sie mit der dünnsten Stelle durchgeschnitten, mit der Spitze. Dieser Blutfleck auf der Klinge? Stammt der von Ihnen?«

»Ja, ich glaube. Ich glaube, auf diese Weise bin ich hierher gekommen. Und er befindet sich an der breitesten Stelle der Klinge! Sie glauben doch wohl etwa nicht …«

Ich machte das Abendessen, und wir redeten bis spät in die Nacht. Wenn die linke Seite der Klinge Gegenstände in die Vergangenheit und die rechte Seite in die Zukunft schickte, dann hätte, als er seinen linken kleinen Finger durchschnitt, dieser entsprechend irgendwo in der Gegend um 1700 sich wieder materialisieren müssen, vorausgesetzt natürlich, daß das Gewicht eines Gegenstandes keine Rolle spielte. Und das erklärte auch, warum der Blutfleck nur auf der rechten Seite der Klinge war. Das Blut von der linken Seite war in die Vergangenheit geschleudert worden, während sich das Messer zeitlich nach vorn bewegte, da es Bullivant ja festhielt. Zeitreisen nach dem Bootstrap-System.[1]

Wenn man von dieser Theorie ausging, überlegte Bullivant, dann müßte er, wenn er das Messer in der linken Hand hielt und seinen rechten kleinen Finger abschnitt, zurück in seine eigene Zeit versetzt werden, vorausgesetzt natürlich, daß er das Messer genau mit dem Blutfleck an seinem Finger ansetzte.

»Aber warum? War Ihre Zeit denn soviel besser als diese? Ich hatte gedacht, Sie hätten sich mittlerweile daran gewöhnt?«

»Das habe ich«, sagte er und fuhr mit den Fingern über das Bücherregal. »Die vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts waren primitiv. Wir sind inzwischen so viel weiter entwickelt. Es war nicht leicht, so weit zu kommen …«

Dann sagte er nichts mehr, und bald darauf ging ich zurück in mein Hotel. Am nächsten Morgen wurde ich vom Klingeln des Telefons geweckt.

»Ja bitte?«

»Michael, hier ist David Bullivant. Würden Sie mir wohl einen Gefallen tun?«

»Selbstverständlich. Sofern ich es in den nächsten Tagen erledigen kann. Am Samstag mache ich mich auf den Weg nach Manchester.«

»Kein Problem. Es geht nur darum, daß Sie ein paar Pakete für mich abholen sollen.« Er nannte den Namen eines bekannten Kaufhauses und von zwei weiteren, die mir kein Begriff waren, und dann sagte er: »… und noch zwei weitere Dinge. Es hört sich vielleicht komisch an, aber bitte tragen Sie es mit Fassung.«

Ich dachte zurück an unsere erste Begegnung im Britischen Museum und bezweifelte, daß er mich noch überraschen könnte, aber es gelang ihm. »Ich möchte, daß Sie einen kurzen Bericht über unsere Bekanntschaft niederschreiben, einschließlich aller Details, ihn unterschreiben und datieren. Als ob Sie das Ganze jemandem erklären müßten, der keinen von uns beiden kennt. Lassen Sie bitte nichts aus. Könnten Sie das tun?«

»Ja, ich glaube schon. Und das andere?«

»Kaufen Sie ein Buch, schreiben Sie mir eine Widmung hinein, unterschreiben und datieren Sie sie.«

»Ein Buch?«

»Ja, irgendein Buch.«

»Hören Sie, Sie haben doch wohl nichts Gefährliches vor, oder?« fragte ich, da ich plötzlich Angst hatte, unsere sonderbare Bekanntschaft könnte zu einem Ende kommen und ich den merkwürdigen alten Kauz verlieren.

»Nein, nein, nur ein Experiment. Wenn Sie alles besorgen und morgen so gegen – sagen wir – acht hier aufkreuzen könnten, dann werde ich Ihnen alles erklären.«

Ich erledigte alles, worum er mich gebeten hatte. Bullivant erwartete mich schon, er trug wie immer seinen Tweedanzug. Er nahm die Pakete in Empfang, das Buch und das Manuskript, das ich am Nachmittag getippt hatte. Er überflog die erste Seite und grinste.

»… einer jener idiotischen Typen … die immer noch von der großen Zeit in Indien zehren … – Ja, ich glaube, das stimmt auf gewisse Weise; wir klammern uns an die Vergangenheit, anstatt die Zukunft zu ergreifen. Ja, das ist sehr gut … Das wird mich immer an Sie erinnern.«

»Entschuldigen Sie bitte diese Formulierung«, sagte ich verlegen, »aber ich wollte ein treffendes Bild von Ihnen zeichnen.«

»Oh, ich bin sicher, das ist Ihnen gelungen. Ich werde es wie einen Schatz behandeln«, sagte er und steckte es in die Manteltasche; dann machte er sich daran, die Pakete auszupacken. Ich trat etwas zurück und beobachtete, wie die Dinge, die ich mitgebracht hatte, sich Stück für Stück zu einem Mosaik zusammensetzten. Ein Rucksack, eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, Verbandszeug und Medikamente, eine Automatikpistole, Munition, drei Bücher, deren Titel ich nicht erkannte, da er alles schnell wegpackte und sich dann den Rucksack aufsetzte. Das Buch, das ich ihm mitgebracht hatte, wanderte in seine Manteltasche.

»Sie werden es tun, nicht wahr?«

»Ich muß, Michael. Ich kenne Ihre Zeit und meine, und ich habe erkannt, daß man die Zukunft nicht sich selbst überlassen kann. Aber ich versichere Ihnen, daß Ihre Hilfe nicht umsonst war, nicht mit ein bißchen Glück, und das Glück begünstigt aufgeschlossene Geister.«

Er hielt das Messer ungelenk in der linken Hand und deutete auf den Bücherschrank. Dort lief ein Tonband, das ich bis dahin nicht bemerkt hatte. »Damit alles lückenlos aufgezeichnet wird«, sagte Bullivant. »Für die Nachwelt und so.« Er lächelte sanft. »Ich werde Sie vermissen, Michael Hull.«

»Und ich Sie. Aber sagen Sie mir eins. Die Bücher, die Sie eingepackt haben – welche sind das?« Er lachte, sein wieherndes, biberzähniges Lachen.

»Sie werden es erfahren, und wenn nicht, macht es auch nichts. Leben Sie wohl!«

Dann war er weg.


Ich ging ans Telefon und wählte die Durchwahlnummer unseres Londoner Büros. Nach fünf Jahren kam mir immer noch alles wie ein Traum vor: der Direktor der Firma Bullivant an meiner Tür, die Reise nach London, der Besuch des legendären Gewölbes unter der Küste von Wales, das angeblich von Bullivant selbst angelegt worden war. Dort wurde mir ein Blick auf die ausgefallenste Sammlung von Artefakten gewährt, die jemals in den Besitz von Menschen gelangt war: ein Rucksack, ein unter Glas aufbewahrtes Messer, ein Exemplar von Wells’ Zeitmaschine mit meinem Namenszug und ein brüchiges, vergilbtes Manuskript. Und die Bücher, die Bücher, die ich Bullivant mitgebracht hatte und die er mit ins Jahr 1853 genommen hatte. Die Bücher, die die industrielle Revolution in eine technokulturelle Renaissance verwandelt hatten: Wie funktioniert das? in zwei Bänden und Der Fahrplan der Weltgeschichte. Dazu eine Kopie von dem Werk Das große Zeitalter der Menschheit, mit Bullivant International aus allen Perspektiven auf der Vorderseite. Wie hätten sich die Dinge ohne ihn entwickelt? Und ohne mich?

»Zentrale London? Hier spricht Direktor Hull.«

»Ja, Herr Direktor?«

»Die restlichen Karotten sind eingetroffen. Haben Sie verstanden.«

»Ja, Herr Direktor.«

»Gut. Schicken Sie mir jetzt bitte ein Shuttle, ich muß einen Flug erwischen.«


Originaltitel: ›Bullivant’s Knife‹

Copyright © 1986 by Mercury Press, Inc.

(erstmals erschienen in ›The Magazine of Fantasy and Science Fiction‹, Juni 1986)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Utoprop, Hamburg

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Irene Bonhorst

Illustriert von Klaus Porschka

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