Michael K. Iwoleit Europa nach dem Regen



Unschlüssig verharrte das Mädchen auf der untersten Stufe. Ihr Blick fuhr verdrossen über den Pavillon, dessen lückenhaftes Geländer sich einladend vor ihr auftat. Der alte Mann kehrte ihr den Rücken, lehnte mit beiden Ellbogen auf dem Geländer und starrte schweigend hinaus. Sein schütteres Haar bauschte sich in der Brise des Abends. Das gedämpfte Glühen der Dämmerung verlieh seinem verblichenen Gewand eine blaßrosa Tönung. Auf ein zögerndes Räuspern des Mädchens hin regte er sich nicht.

Mit einem Seufzer schritt sie hinauf und hielt hinter ihm inne. Ohne sich nach ihr umzusehen, murrte er: »Was führt dich her? Sagte ich nicht, daß ich nicht gestört werden will?«

»Dir mag es gefallen«, erwiderte sie zögernd. »Ich aber kann nicht allein sein.«

Ungehalten wandte er sich zu ihr um. Sein faltiges Gesicht war schiefergrau, sein Lächeln düster.

»Nun sprich schon. Was verlangst du noch von mir? Habe ich nicht getan, was ich konnte, um dir das Warten erträglich zu machen?«

»Ich will leben«, sagte sie.

Der Alte unterdrückte eine Aufwallung von Zorn. Für einen Moment war er versucht, ihr ins Gesicht zu schlagen, doch sie warf stolz ihr schwarzglänzendes Haar in den Nacken und diese Geste gefiel ihm. Er lächelte und blickte wehmütig in die samtweiche Düsternis hinaus.

»Leben?« flüsterte er. »Ich weiß nicht einmal, ob ich selber lebe. Wie sollte ich dir diesen Wunsch erfüllen?«

Ihre Mandelaugen wurden feucht, ein Schatten von Enttäuschung fuhr über ihre wächsernen Züge. Behutsam nahm er sie an der Schulter und führte sie in den Garten.

Der Pavillon war von schattenspendenden Bäumen umgeben, die auf einer Seite den Blick in die Ebene freiließen. Mannshohe Marmorblöcke standen verstreut umher. Einige waren noch unbehauen, andere bereits zu Statuen verarbeitet, deren vielfache Posen immer wieder neue Variationen des einen Motivs darstellten. Dem Mädchen gefiel es kaum, daß der Alte sie auf eine solche Weise verewigte. Nur einmal vermochte eine Skulptur ihre Aufmerksamkeit in der Weise zu fesseln, daß sie stehen blieb, um sie näher in Augenschein zu nehmen.

Die Falten in den gemeißelten Gewändern schienen zart wie Seide. Alles in allem war dies wohl das vollkommenste Abbild des Mädchens. Nur der Kopf gab ihm ein groteskes Aussehen, denn es war der Kopf eines Vogels.

»Warum hast du das getan?« fragte das Mädchen argwöhnisch. »Das bin doch nicht ich.«

Der Alte, der neben ihr verharrt war und sein Werk selbstgefällig betrachtete, schob sie an der Hüfte weiter, ehe sie neue Fragen stellen konnte.

»Mach dir darüber keine Gedanken. Du würdest es ohnehin nicht verstehen.«

Ein schmaler Kiesweg wand sich zwischen den Bäumen und Statuen in den Wald hinein, dessen rasch dichter werdendes Gestrüpp im späten Licht wie Spinnweben wirkte. Bedächtigen Schritts führte der Alte seine Schutzbefohlene in die Geborgenheit ihres Heims zurück und legte sich auf dem Weg dorthin die Worte zurecht, um ihr seine Vergangenheit zu erklären.

»Was hast du gesehen?« fragte sie einmal.

»Nichts anderes als sonst«, antwortete er, als ginge es um völlig belanglose Dinge. »Die Flut rückt von den Bergen her jeden Tag ein Stückchen näher. Das tut sie seit Jahren. Bei Nacht sieht man die Glut bis hierher leuchten. Doch wir brauchen uns nicht zu fürchten. Sie wird uns nie erreichen.«

Sie nickte ohne Überzeugung. Ein Stück weiter öffnete sich das Dickicht zu einer kleinen, bald schon mondbeschienenen Lichtung, die halb von einem seichten, bis auf den Grund klaren See ausgefüllt war. An seinem gegenüberliegenden Ufer blieb so noch Platz für eine winzige Hütte aus verwitterten Holzpaneelen, deren Tür weit offen stand und den Blick in seine enge Stube freigab.

Teichrosen trieben über den Wasserspiegel heran. Das Mädchen hockte sich ans Ufer hin und nahm eine der purpurnen Blüten in die Hand. Die Nase in den Blütenkelchen gedrückt schien sie in die Stille zu lauschen. Vereinzelt hörte man die Rufe nächtlicher Tiere, das Flüstern des Windes, wenn er durchs nahe Geäst fuhr, und ein Knistern, wenn sich ein Zweig unter der Last eines Vogels bog. So bezaubernd die Atmosphäre war, so wenig konnte das Mädchen noch daran Gefallen finden.

»Ich weiß, was dich beunruhigt«, sagte der Alte, als er sich neben ihr ins Gras niederließ. »Ich kann dir keine deiner Fragen beantworten. Ich bin nur hier, um auf dich acht zu geben. Mach mir meine Aufgabe nicht zu schwer. Irgendwann werden sich alle Rätsel lösen.«

Das Mädchen sah einem silbrig schimmernden Fisch nach, der einmal kurz aus dem Wasser sprang, um dann weiter unter der Oberfläche dahinzuschnellen. Sie streckte hilflos eine Hand aus, ehe sie in schwächlichem Tonfall murmelte: »Aber warum? Woher komme ich? Was tu ich hier? Irgendeinen Sinn muß es doch haben. Solang ich denken kann, lebe ich in diesem Wald. Nicht einmal die Ebene hast du mich je besuchen lassen. Gewiß, es hat mir an nichts gefehlt, aber worin liegt der Sinn des Ganzen? Ich kenne nichts außer dir und diesem Wald.«

Der Alte setzte zu einer Entgegnung an, doch für einen Augenblick glaubte er etwas Ungewöhnliches gehört zu haben, hob beunruhigt den Kopf und versicherte sich selbst, es könne nur eine Täuschung gewesen sein. Das Mädchen aber sprang auf und blickte mit angstgeweiteten Augen umher.

»Was war das?« rief sie. »Hast du es nicht gehört?«

Noch bevor er sie besänftigen konnte, schwoll der Laut ein zweites Mal für Augenblicke an. Er klang dumpf, fast unterhalb der Hörschwelle, doch er war machtvoll wie ein Beben, das die Erde zittern ließ. Das Tosen herannahender Fluten vereinte sich in ihm mit dem Krachen berstenden Gesteins und dem Lärm gegen Klippen brandender Gischt, doch all das nur in Anklängen. Von einem zum andern Moment schien die Angst des Mädchens den ganzen Wald zu lähmen. Die sanften Geräusche von eben wichen absoluter Stille, in der nur dann und wann das Grollen durchbrach.

Das Mädchen lief zum nächsten Baum und umklammerte den Stamm. Ihr Blick haftete ängstlich am Gesicht des Alten, der aufgestanden war und sie mit Gesten zu beruhigen versuchte.

»Es ist nichts. Hab keine Angst. Es wird uns nie erreichen.«

Sie drückte sich schutzsuchend an den Baum.

»Nein, du lügst«, schrie sie. »Ich spüre, daß etwas geschehen wird. Was stehst du da und versuchst, mich davon abzulenken?«

Mit einem Seufzer trat er auf sie zu und zog sie auf die Lichtung. Sie wehrte sich. Schließlich verlor er die Geduld und gab ihr eine unbeabsichtigt kräftige Ohrfeige. Sie stürzte zu Boden. Ihr gelbes Kleid blieb an einem Strauch hängen und zerriß. Während sie entgeistert zu ihm aufblickte, hielt sie den Stoff über ihren Brüsten zusammen.

»Nun hör mir zu!« schrie er. »Von heute an werde ich dir keine Zugeständnisse mehr machen. Wage dich nicht mehr in meine Nähe, bevor du nicht bereit bist, dich deinem Schicksal bedingungslos zu fügen. Du hast es so gewollt.«

Er wandte sich um und ging mit raschen Schritten zwischen den Bäumen davon.

Sie begriff zuerst nicht, was geschehen war, und fand auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Momente später war der dumpfe Lärm wieder da. Sie hockte am Ufer des Sees im Gras und blickte zum Himmel, an dem der Mond aufgegangen war und in einem seltsam rotgetönten Licht schien.

Die letzten Schimmer der Dämmerung verblaßten. Allmählich wurde es wieder still, die gewohnten Geräusche der Nacht kehrten wieder. Der Lärm war verstummt.


Ein wenig später trug der nächtliche Wind ein Pochen an ihr Ohr. Sie kannte das Geräusch, denn es hatte ihr schon in vielen Nächten den Schlaf geraubt. Offenbar arbeitete der Alte an den Marmorskulpturen weiter. Das Pochen war heftig, als würde ihn irgend etwas beunruhigen und dazu antreiben, sein Werk möglichst bald zu vollenden. Es war schon fast Morgen, als es endlich verstummte.

Sie erhob sich und schlich in den Garten.

Das Mondlicht war bereits der Dämmerung gewichen, und die ersten Vögel sangen. Dennoch machte der Wald dem Mädchen Angst wie noch nie. Er verbarg so viel. Sie spürte, daß etwas vorging, was auch sie betraf.

Der Garten war verlassen. Die fertigen Figuren wirkten im unsicheren Licht fast lebendig. Sie fürchtete, die steinernen Abbilder ihrer selbst könnten sich jeden Moment zu ihr umwenden und die bleichen Hände gegen sie erheben. Doch sie gelangte unbeschadet zum Pavillon und fand ihn leer.

Ratlos blickte sie in die Runde. Der Alte hatte wohl noch an der Statue mit dem Vogelkopf gearbeitet, obwohl sie längst vollendet schien. Frischer Marmorstaub bedeckte das Gras um den Sockel der Figur. Beim näheren Hinsehen bemerkte sie keine Veränderung, und doch schien die Figur unmerklich an Natürlichkeit gewonnen zu haben. Der Marmor begann sich an den Stellen, wo die Arme oder Beine des steinernen Körpers aus dem Gewand ragten, fleischfarben zu tönen. Doch das mochte Einbildung sein.

Verstohlen schielte das Mädchen die Stufen zum Pavillon hinauf. Dies schien eine günstige Gelegenheit zu sein, etwas zu tun, was ihr eigentlich verboten war. Der Alte hatte stets zu verhindern gewußt, daß sie den Blick in die Ebene mit ihm teilte. Meist hatte sein Rücken die schmale Lücke im Blattwerk verdeckt. Nun aber war sie allein.

Sie überwand die Befürchtung, er könne von einem Moment zum anderen wieder auftauchen, und ging hinauf.

Fernab, auf den Gipfeln der Gebirgskette, welche die Ebene abschloß, ging bereits die Sonne auf. Das zerfurchte, wenig bewachsene Gelände, das sich west- und östlich so weit erstreckte, wie der Blick reichte, schien mit flüssigem Gold überflutet. Die Baumgrenze lag nicht weit vom Pavillon entfernt. Bis dorthin reichte bereits die Flut. Man glaubte ihr pulsierendes Glühen näherrücken zu sehen.

Nach einigen Minuten, in denen ihr Blick sich schärfte, gewahrte das Mädchen zahllose sich hin und her windende Ströme, die in dunkleren Tönen als die übrige Flut leuchteten und vorankrochen wie flüssiger Bernstein, in dem ein rotes Licht glomm.

Es machte ihr Mühe, sich von dem Anblick zu lösen, um so mehr, weil sich am dämmernden Himmel Wolken zusammenballten. All das geschah lautlos. Sie ging in den Garten zurück und setzte sich unter einem Baum ins Gras.

Plötzlich wünschte sie sich, der Alte wäre wieder bei ihr, doch auch in den nächsten Stunden tauchte er nicht auf. Nie zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, seinen Beistand so zu brauchen. Er war stets ein eher schweigsamer Wächter gewesen, der zwar dann und wann die Mühe aufbrachte, sich ihres Kummers anzunehmen, aber weit öfter nicht mehr als pflichtschuldiges Interesse an ihr zeigte. Daß er sie heimlich bewunderte, vielleicht sogar begehrte – wofür die Steinplastiken ein deutlicher Beweis zu sein schienen – verdunkelte sein Wesen nur noch mehr.

Was sie im Lauf der Stunden mehr und mehr beunruhigte, war der Eindruck, daß die Dämmerung im ersten Stadium verharrt sei. Sie ging ein zweites Mal zum Pavillon und sah hinaus. Die Sonne war kein Stück höher gerückt. Wieder vergingen Stunden und noch immer tat sich nichts, nur immer mehr Wolken ballten sich zusammen. Schließlich verfinsterten sie den Himmel und durchbrachen die Stille mit erstem Blitz und Donner.

Das Mädchen wußte nicht, was sie antrieb, als sie um den Pavillon durch die schmale Schneise im Wald zum Rand der Ebene ging. Dort erstarrte sie und sah dem Schauspiel zu.

Mit den Gewitterwolken war nun auch die Nacht hereingebrochen und mit ihr kam Regen und Flut.


Bei Tagesanbruch war der Regen abgeflaut. Erstarrte Magmasäulen hoben sich ringsum wie Knochenfinger in den Dunst. Kein Windhauch rührte die Wolken, die im Morgenlicht schwebten. Seit Stunden war es still.

Noch immer stand sie reglos da. Ihr Rücken war den Trümmern zugekehrt, ihr Blick zum Horizont gerichtet, wo sich zaghaft das frühe Sonnenlicht ausbreitete, Stunde um Stunde weiter über die versteinerten Seen und Tümpel vorankroch. Satte Farben traten an die Stelle der Düsternis, bald leuchtete die Ebene in hellem Gold. Im Erstarren begriffen wanden sich noch warme Lavaströme zwischen den amorphen Felsen.

Sie war bei allem unverletzt geblieben, empfand nicht einen Hauch von Schmerzen. So starr, als sei sie wie die toten Wälder selbst zu Stein geworden, verharrte sie scheinbar schon seit Ewigkeiten. Ihr schütteres Haar aber bauschte sich wie in einer Brise, die noch aus den Tagen vor der Flut wehte.

Die geisterhaften Finger des Nebels ruhten über dem Land wie Vorboten einer schweigenden Zeit. Da und dort traten aus Rissen und Spalten im Boden scharfe Dämpfe. An den Oberflächen der Felsen, Marmorblöcke und dem versteinerten Geäst der umgeknickten Bäume taten sich fortwährend neue Poren auf. Allmählich verwandelte sich die erkaltende Landschaft vor ihren Augen zu einem Netz aus feinem Filigran. Felsen wurden zu Schwämmen, Baumkronen zu durchbrochenen Geflechten, Magmaadern zu schartigen Brücken zwischen Teich und Teich.

Irgendwann wandte sie sich dem Pavillon entgegen. Von dunkelrot bis gold glänzenden Magmasäulen und einem Gewirr herabstürzender Baumkronen umgeben, waren nur wenige seiner Pfeiler stehen geblieben, kaum genug, um das Dach zu tragen, das sich unter einer Last aufgefangener Zweige und versteinerten Blattwerks bog. Die Stufen und das Geländer waren während der Flut fortgerissen worden. In den Pfeilern hatten sich Risse gebildet. Nur die Skulptur mit dem Vogelkopf war unversehrt geblieben. Das Mädchen lächelte über dieses zweifelhafte Glück.

Sie durchschritt den ehemals blühenden Garten. Die Metamorphose, die der sterbenden Landschaft über Nacht ein neues Gesicht verliehen hatte, war an keinem noch so peripheren Detail vorbeigegangen. Als das Mädchen den See erreichte, an dessen Ufer sie ungezählte Jahre gelebt hatte, überwältigte sie fassungsloses Staunen. Anstelle des leicht vom Wind bewegten Wasserspiegels war nun eine fugenlose Fläche metallisch schimmernden Gesteins. An den Holzverschlag dahinter erinnerten einige versteinerte Paneele.

Sie sank zu Boden, barg die gefalteten Hände in ihren Schoß und begriff erst jetzt, wie hilflos sie war. Nichts von dem, was sie vormals gelernt und erfahren hatte, schien noch von Nutzen. Die Sehnsüchte eines jungen Lebens, all die Fragen, die sie über Jahre hin beschäftigt hatten, verloren jegliche Bedeutung. Mit einem Schlag war alles vergangen. Etwas anderes war an seine Stelle getreten, doch was sich aufgetan hatte, schien ins Nichts zu führen.

Um der Verzweiflung vorzubeugen, wandte sie sich ab von diesem Trümmerfeld und begab sich dorthin zurück, wo sie in der Nacht der Katastrophe unversehrt geblieben war. Ein lauer Wind kam auf und trieb ihr schwefelig riechenden Dunst ins Gesicht.

Im Laufe der nächsten Stunden klärte sich die Sicht. Die zerfurchten Bergketten tauchten aus den dichten Schleiern auf. Die Sonnenwärme löste die Wolken auf. Die Landschaft offenbarte ihre neue Beschaffenheit.

Bis zu den Bergen schloß sich ein Magmasee dem nächsten an. Wo vereinzelte Ströme aufeinandergetroffen waren, hatten sie sich beim Erkalten zu verschlungenen Gebilden hochgetürmt. Nun war die Ebene weithin von diesen goldfarbenen Stalagmiten übersät. Ihnen zu Füßen verkarstete der Fels von den Gasen, durchsiebt zu bimssteinhafter Leichtigkeit. Es schien, als strebe all dies einem Endstadium zu, das fast erreicht war, wenn auch nicht endgültig sein mochte. Offenbar gab es – zumindest was den von hier aus sichtbaren Teil der Welt anging – außer dem Mädchen nichts mehr, was noch lebte.

Sie fand keinen Anlaß, darüber verzweifelt zu sein. Ihre tiefverwurzelte Neugier, die zum Tragen kam, wann immer sich ihr ein Geheimnis offenbarte, lenkte ihre Gedanken fort von sich selbst zu dem Ursprung dieser Katastrophe. Es gab keinen Zweifel: dieser mußte jenseits der Berge zu suchen sein. Irgendwo dort hatte es – was immer es auch sei – seinen Anfang genommen.

Da sie hier ohnehin nichts mehr hielt, kostete es ihr kaum Überwindung, den Entschluß zu fassen. Mit bemüht festen Schritten wagte sie sich langsam vor. Ein weitgezogener Hang führte in die Ebene hinab, und von dort schien der Weg sich unter dem unabänderlichen Glühen einer im Zenit verharrenden Sonne endlos zu dehnen.


Zu Anfang fiel der Marsch ihr leichter, als sie zu hoffen gewagt hatte. Nach einigen Meilen gewann sie die nötige Geschicklichkeit, um leichtfüßig von einer Felsfläche zur nächsten zu gelangen, war ihr Blick noch scharf genug, um in dem Gewirr Wege auszumachen, die begehbar waren. Es war weder zu heiß noch ließ der auffrischende Wind sie frieren. Ihre Sinne erfreuten sich an der aufblühenden Farbenfülle dieser mineralisierten Landschaft, deren Leblosigkeit einem neuen Paradies Gestalt verlieh. Nun dankte das Mädchen dem Himmel für dieses unverhoffte Geschenk. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei. Der Wächter war fort, niemand hielt sie auf. Ihr war freigestellt, wohin sie gehen mochte, und angesichts der Fülle an Neuem, das sie umgab, fiel es ihr nicht leicht, bei der Wahl ihres Ziels auf den fernen Gipfeln zu beharren.

Es schien steinerne Tränen geregnet zu haben, so ließ der Anblick sich am ehesten beschreiben. Aus der Entfernung waren die Magmaseen und -tümpel noch wie flache Becken erschienen, als wäre dort Wasser aus dem Untergrund hervorgequollen. Aus der Nähe entpuppten sie sich jedoch als aufgewölbte Formen, die sich aber leicht begehen ließen. Sie maßen zumeist zwischen zwanzig und hundert Schritt im Durchmesser, einige erreichten auch die Größe eines mittleren Sees. Einmal schritt sie mehrere Stunden über denselben See, verhielt dabei mitunter, um sich zur Oberfläche hinabzubeugen und festzustellen, wie es tief unten noch immer verhalten glühte.

War die Landschaft noch am Vortag beinahe gänzlich rot bis gelbglühend gewesen, zeigte sie sich nun in allen Farben des Spektrums. Die Seen und Tümpel schwankten zwischen tiefroten und ockerfarbenen Tönen. Vereinzelte Felsen schimmerten matt in tiefem Grün. Die Brücken und Ufer zwischen den Seen waren zerfurcht und rissig, an seltenen Stellen glatt, doch in allen Ritzen und Winkeln voll überraschender Farben. Den prachtvollsten Anblick schließlich gaben die übermannshohen Magmasäulen ab. Sie wirkten wie in der Hitze zerlaufene Gebilde aus mit Gold versetztem Glas. Ihre Oberfläche war von Schlieren durchzogen, die bis in ihre dunkelsten Winkel metallisch schimmerten. Von allem, was das Mädchen in der Ebene zu Gesicht bekam, waren diese Säulen die eigenständigsten Schöpfungen der Flut. Sie ließen sich mit nichts vorher Gekanntem vergleichen.

Kein Laut war zu hören. Außer ihren Schritten, ihrem Atem und ihrem aufgeregt pochenden Herzen regte sich weithin nichts. Der Frieden schien unangreifbar. Wie der Schoß einer allumfassenden, in ihrer Stille gütigen Mutter umgab sie die Landschaft ringsum. Das Zeitalter unsteter Hoffnungen war einer Epoche archaischen Friedens gewichen und lud zu Erkundungen ein.

Doch schon bald machten ihr deutliche Anzeichen von Schwäche zu schaffen. War sie am ersten Tag noch unbekümmert vorangekommen, so schien sich nun der vormals leichtbegehbare Boden unter ihren Füßen unablässig zu verhärten. Ihre Sohlen schmerzten mehr und mehr, ihre Kehle war vom Atmen der heißen, staubigen Luft ausgedörrt, und in ihren Augen brannte unbarmherzig das marmorweiße Licht.

Hinzu kam, daß sie nun auf neue Hindernisse traf. Erst als sie selbst über die Seen nur noch mit Schwierigkeiten vorankam, bemerkte sie, daß die versteinerte Reglosigkeit um sie her doch weiterhin Verwandlungen unterworfen war. Etwas tat sich an den porösen Oberflächen der Felsen, Seen und Lavasäulen. Sie büßten merklich an Glanz ein, verloren ihren metallischen Charakter, was sich zuerst darin äußerte, daß das Sonnenlicht nur noch schwach von ihnen reflektiert wurde. Offenbar war dies die Begleiterscheinung eines Prozesses, dem die ganze Landschaft unterlag: zuerst nur vereinzelt, dann immer häufiger sprossen spitze Nadeln und schartige Kanten aus dem Fels hervor. Wenig später waren die vormals glatten Felsen überall mit verschrobenen Gebilden bedeckt, die matten Kristallstauden glichen.

Diese Gebilde wuchsen rasch. Schon am dritten Tag erschwerte sie das Vorankommen in solchem Maße, daß das Mädchen sein Tempo merklich mildern mußte. Immer wieder strauchelte sie, wenn sie sich über das unebene Gelände vorantastete, stürzte sie wiederholt zu Boden und schürfte sich Knie und Hände an den sprießenden Felsnadeln auf. Zudem machten ihr zunehmend Anfälle von Müdigkeit zu schaffen. Sie legte immer öfter Pausen ein. Fast schien es so, als sei sie in den wenigen Tagen um Jahre gealtert. Ihre Bewegungen waren nun weniger geschmeidig, brachten längst nicht mehr so viel Geschicklichkeit zuwege. Vor Hindernissen, die sie anfangs nicht scheute, begann sie nun zu zögern.

Wenn sie sich mit der Hand durchs Haar fuhr, um den kräftiger werdenden Wind an ihre Stirn zu lassen, bemerkte sie, daß es weniger kräftig und dicht als noch vor einigen Tagen war. Zuweilen hielt sie sich eine Strähne vor die Augen, um verwundert ein rasch fortschreitendes Ergrauen zur Kenntnis zu nehmen. Den tief schwarzen, fast bläulichen Glanz hatte ihr Haar verloren.

Noch beanspruchte die Faszination der jungen Landschaft sie zu sehr, als daß sie ihrer eigenen Verfassung mehr als nötig Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Immer wieder stieß ihr Blick auf etwas, das ihr Interesse derart fesselte, daß sie alles andere vergaß. Der Anblick hier war selbst von erhöhten Punkten nicht so weitreichend und überwältigend wie vom Waldrand aus, doch die Sicht auf Einzelheiten entschädigte für vieles.

Die Luft wurde klar und bernsteinfarben, der Wind frischte von Stunde zu Stunde auf. Am vierten Tag begannen sich die emporwachsenden Felsgebilde weiter zu verzweigen, während zwischen ihnen ein Pelz von steinernem Moos zu wuchern anfing. Bald wurden die freibleibenden Wege von felsigen Ranken gesäumt. Das Tempo, in dem sie weiterwuchsen, nahm zu. Auf den Magmaseen breiteten sie sich wie himmelwärts strebende Teichgewächse aus. Das Mädchen fand Gefallen an dieser neuen kristallinen Flora.

Da ihr Marsch sich ohnehin verlangsamte, nahm sie immer häufiger die Gelegenheit wahr, sich für Minuten irgendwo hinzuknien und die absonderlichen Gebilde zu betrachten. Die Steingewächse formten eine Welt im Kleinen. Ihre Struktur war derart kompliziert in ihren Einzelheiten, daß es Stunden bedurft hätte, auch nur eine einzige Ranke erschöpfend zu untersuchen. Wie alles hier waren sie von poröser Beschaffenheit, mit Furchen an der Oberfläche, Höhlungen und Gängen im Innern. Manchmal war das Mädchen halb darauf gefaßt, sie würde irgendwann kleine Tiere beobachten können, die wie die Pflanzen aus Fels geboren waren. Doch dazu kam es nicht.

Ihr eigenes Ergehen beanspruchte sie zu ihrem Unmut immer mehr. Allmählich fiel es ihr schwer, sich mit bloßer Willenskraft über ihre eigene Schwäche hinwegzuhelfen. Auch ließ sich nicht leugnen, daß ihr Haar zusehends ergraute, ihre Haut spröde, ihr Gesicht faltig wurde. Ihr Leib hatte seine jugendliche Frische verloren. Diese Spuren konnten nicht nur von der Anstrengung herrühren. Ihre Reserven brauchten sich auf. Doch noch immer lagen die Berge in beträchtlicher Entfernung, und die Sonne brannte unbarmherzig, ohne je der Nacht zu weichen.

Zunächst spendete der kühle Wind noch Erfrischung, doch bald begann auch er lästig zu werden, denn er nahm an Stärke zu. Am fünften Tag trieb er beißenden Staub vor sich her. Er wehte von den Bergen herab über die Ebene.

Die anfangs eher idyllische Szenerie der Steingewächse nahm zunehmend bedrohliche Züge an. Die Magmaranken verzahnten sich, während sie in nahezu sichtbarem Tempo aufwuchsen, zu undurchdringlichen Sträuchern, wenig später zu langgezogenen Alleen dicht an dicht stehender Mauern aus Geäst, die aufeinander zuzurücken schienen, um ihr den Weg zu versperren. Zudem behindern Dunst und aufgewirbelter Staub die Sicht, so daß sie sich immer häufiger fragte, ob es nicht besser sei umzukehren. Doch ihr Wille behielt die Oberhand.

Am sechsten Tag, als sie kaum noch sah, in welcher Richtung sie vorankam, und nurmehr einem inneren Gespür folgend in der eingeschlagenen Richtung weiterirrte, ließ sie sich einmal zu einer längeren Pause nieder und durchdachte ihre Lage. Der Wind pfiff scharf über sie hinweg, der zerklüftete Untergrund schürfte ihre Haut auf. Wie zum Trotz nahm sie ein letztes Mal ihre Kräfte zusammen und zwang sich weiter zu gehen.

Am siebten Tag vergaß sie schließlich Zeit und Raum, gab es nur noch zweierlei für sie: die Hindernisse, die sich ihr ständig in den Weg stellten, und die mechanischen Überlegungen, wie ihnen auszuweichen sei. Zuletzt tastete sie sich nur noch voran, quälte sich Stück für Stück weiter, immer schwerfälliger, immer langsamer, doch unbarmherzig zäh. Kein Blick vermochte mehr den dichten Staub zu durchdringen, der die Luft erfüllte. Nichts gab Aufschluß über den Weg, der noch vor, und den, der schon hinter ihr lag. Und so gab es nur noch eines, was geeignet war, sie aus ruheloser Starre zu erlösen: ihr Ziel.


Dieser Alptraum aus Staub und Wind endete so rasch, wie jeder Traum mit dem Erwachen endet. Sie ging ein paar Schritte – und der Sturm lag hinter ihr, wie die sich verschränkenden Gewächse und überwucherten Seen. Plötzlich war es still, die ruhige Luft empfing sie klar und weiß. Es dauerte Minuten, ehe ihr Blick die unerwartete Entspannung zu fassen vermochte.

Offenbar war sie am Fuß der Vorberge angelangt. Vor ihr lag ein sanft ansteigender, schwach bewachsener Hang. Weiter oben begann ein Trümmerfeld zerbrochener Bäume. Und ganz nah beim Waldrand stand ein Pavillon aus weißem Marmor. Inmitten des Gewirrs aus herabgestürzten Baumkronen ließ er sich nur schwer ausmachen, doch kaum war ihr klar geworden, daß sie diesen Ort kannte, wurde ihr Blick von allein an diese Stelle gezogen. Augenblicklich vergaß sie ihre Schwäche und hastete hinauf, um zu sehen, ob dort alles noch so war wie zu dem Zeitpunkt, als sie aufgebrochen war.

Sie fand den Garten jenseits des Pavillons in unverändertem Zustand vor. Die Marmorstatuen lagen zertrümmert umher, nur eine nicht: die Figur mit dem Vogelkopf. Sie ließ sich ihr zu Füßen nieder und betrachtete fasziniert den aus Stein gehauenen Körper. Wenn es überhaupt etwas gab, das sich während ihrer Abwesenheit verändert hatte, dann war es diese Figur. Ob von irgendeiner Hand noch daran gearbeitet worden war, schien zweifelhaft, unbestreitbar aber hatte irgendein Einfluß sie weiter vervollkommnet, sie aller Schwere entledigt, die steinernen Bilder so anhaftet. Nun war sie zart, warm, fast lebendig. Die Haut des gemeißelten Körpers schien rosig. Es fehlte nur ein Hauch und die Figur sähe – bis auf den Vogelkopf – wie eine Reinkarnation jenes Mädchens aus, das nun vor ihr als alte Frau am Boden kauerte.

Die Zeit, die ihr noch blieb, verbrachte diese alte Frau damit, das Abbild ihrer verlorenen Schönheit zu betrachten. Der Vogelkopf störte sie bald nicht mehr. Die Vollkommenheit der Statue ließ sie alle Schwäche, alle Schmerzen vergessen. Ihre von den steinernen Ranken gerissenen Wunden bluteten, ihr ergrautes Haar fiel in Strähnen herab, und das Kleid hing ihr in Fetzen von den Schultern. Doch sie hatte nur Augen für die Figur, keine Augen für den zerstörten Wald, der sich um sie her in einem Aufwachsen magmatischer Flora zu verändern begann, und auch keine Augen für die Sonne, die zum ersten Mal seit langem wieder unterging, einem friedvollen, warmherzigen Abend wich, dessen goldrotes Licht noch lang über den Vorbergen lag.

Bei Einbruch der Dämmerung, im Schein des Mondes, schlief sie ein, die Arme um die Füße der Skulptur geschlungen, in deren Adern erstes Blut floß. Beim Morgengrauen war die alte Frau zu Stein erstarrt, zu weißem Marmor, den graue Falten durchzogen.

Die Figur indessen erwachte zum Leben. Stolz trat sie vom Sockel, wandte sich in prachtvoller Schönheit ab vom jammervollen Anblick ihres alten Selbst und schritt hinab in die Ebene. Der Nebel begrüßte sie, indem er von ihr wich. Während sie der steigenden Sonne entgegenging, brachte sie Schritt für Schritt neues Leben und Licht in die Gärten aus steinernen Ranken. Einer geschmeidigen Göttin gleich hielt sie schließlich inne und blickte auf zur Sonne, ihrer Mutter, ihrer Amme, blickte auf und grüßte sie mit einem Schrei, dem Krächzen aus der Kehle eines Adlers.


Copyright © 1991 by Michael K. Iwoleit

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