Connie Willis Notruf



Caroline war nicht in ihrem Zimmer. Amy konnte sie irgendwo am Ende des Flurs weinen hören. Ihr Weinen klang lauter, als sei ein anderer, alles durchdringender Laut plötzlich verstummt. Die Maschinen haben gestoppt, dachte Amy. Wir liegen tot im Wasser. Irgend etwas ist passiert … Etwas Entsetzliches.


Sie hatte Caroline aus diesem Haus holen wollen, und Caroline war vor ihr davongelaufen, hatte vor Angst geschluchzt. Vor Amy davongelaufen, ihrer eigenen Mutter. Sie hatte Caroline bei den Frauen gefunden, an deren grauen, wehenden Röcken sie sich klammerte. Sie hatten sie wie sich selbst angezogen. Wann haben sie das gemacht? dachte Amy erschrocken. Ich habe die Dinge zu weit gehen lassen.

»Hol deine Sachen, Caroline«, hatte sie steif gesagt, damit sie nicht merken würden, wie erschrocken sie war. »Wir gehen nach Hause.«

»Nein!« hatte Caroline geschrien und sich hinter ihren Röcken versteckt. »Ich habe Angst. Du wirst mir wieder weh tun.«

»Weh tun?« fragte Amy bestürzt und dann außer sich. »Dir weh tun? Wer hat dir gesagt, daß ich dir weh tun werde?« Sie langte wütend in den schützenden Kreis der Frauen nach Carolines Hand. »Was haben sie ihr erzählt?« fragte sie ungehalten.

Debra trat vor, anmutig wie ein Geist in dem wehenden grauen Stoff, und lächelte Amy an. »Sie wollte wissen, warum sie nach dem Picknick so krank geworden ist«, hatte sie erwidert.

Amy hatte ihre Hände fest an ihren Körper drücken müssen, um Debra nicht ins Gesicht zu schlagen. »Was haben Sie ihr erzählt?« hatte sie gefragt, und Caroline war an ihr vorbeigeschossen, durch die Tür und den Flur in den Salon.

Caroline hatte sich unter dem großen Seance-Tisch im Salon versteckt. Amy war in die Knie gegangen und auf sie zugekrochen, aber Caroline war vor ihr zurückgewichen, bis die schweren Beine des geschnitzten Stuhls sie fast versteckten.

Amy war unter dem Tisch hervorgekrochen, um sie nicht zu erschrecken, und hatte sich wieder auf ihre Fersen gehockt, die Arme zu der Sechsjährigen ausgestreckt. Caroline blieb hinter dem Stuhl zusammengekauert. »Komm her«, hatte sie geflüstert, entsetzt darüber, daß sie so weit erniedrigt wurde, um dergleichen sagen zu müssen. »Ich werde dir nicht weh tun, Liebling.«

Caroline schüttelte den Kopf, noch immer feuchte Tränen im Gesicht. »Du wirst mich wieder vergiften«, flüsterte sie. Amy konnte sie kaum hören.

»Vergiften?« fragte Amy halblaut. Caroline lag in ihren Armen im Sterben, und dann Jim, der sie durch den Park zu dem Haus trug, sie rannte hinter ihm her, ihr Herz schlug heftig, sie rannten hierher, weil die Polizeiwache sich auf der anderen Seite des Parks befand, und sie hatte Angst, Caroline würde sterben, bevor Jim sie erreicht hätte. Jim trug sie hierher, in dieses Haus, das viel näher lag. Zu diesen Leuten. »Wir hätten sie nicht herbringen sollen«, dachte sie hysterisch, als Ismay Carolines schlaffen Körper Jim aus den Armen nahm.

»Irgend jemand hat dich vergiftet«, sagte Amy und wußte, daß es stimmte. Sie war für einen längeren Augenblick so schockiert, daß sie nichts sagen konnte. Sie verschränkte die Hände über der Brust, als sei sie dort verwundet worden, und flüstere so leise, saß jemand hinter ihr sie nicht verstanden hätte, die Lippen wie bei einem fast lautlosen Gebet bewegt: »Ich würde dir nie weh tun, Caroline. Ich liebe dich.«


Carolines Weinen klang jetzt lauter, als ob jemand eine Tür geöffnet hätte. »Ich muß Caroline suchen«, sagte sie laut und versuchte diesen tapferen Gedanken festzuhalten, während sie durch die geöffnete Tür auf das Weinen zuging. Aber bis sie das Zimmer erreicht hatte, in dem sie Caroline versteckten, sagte sie immer wieder, wie ein Gebet: »Etwas Entsetzliches ist geschehen, etwas Entsetzliches ist geschehen.«

Sie hielt in der offenen Tür inne und blickte zurück zum Salon. Die Lampen im Flur flackerten wie Kerzen und beruhigten sich dann, schwächer als zuvor. Es war eiskalt im Flur. »Ich sollte zurückgehen und meinen Mantel holen«, dachte Amy. »Es wird kalt auf Deck sein.« Und dann der andere, noch kältere Gedanke. »Ich darf dort nicht hineingehen. Im Salon ist etwas Entsetzliches geschehen.«


Ismay hatte sie in den Salon gebracht, wo sie warten sollte, während der Arzt sich um Caroline kümmerte. Amy hatte am Fuß der breiten Treppe gestanden, an den Endpfosten geklammert, und versucht, nicht zu denken: »Sie wird sterben«, aus Angst, sie würde wissen, daß es stimmte.

»Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, hatte eine der grauhaarigen Frauen gesagt und Amys verkrampfte Hände getätschelt, als sie mit einer Decke nach oben ging. Sie war in dem wehenden grauen Stoff gekleidet, den alle Frauen trugen, selbst die Jüngste. Sie hatten sich wie Gespenster um Carolines schlaffen Körper versammelt, und Amy war dabei der Gedanke gekommen: »Das ist eine Art Sekte. Ich hätte sie nicht herbringen sollen.« Aber die Jüngere – Debra hatte Jim sie genannt – war sofort einen Arzt holen gegangen. Debra hatte den Arzt an Amy vorbei die Treppe hinaufgeführt. »Das kleine Mädchen ist im Park zusammengebrochen«, sagte sie dabei. »Sie machte gerade ein Picknick. Ihr Vater hat sie hergebracht.« Und sie hatte sich so normal angehört, ungeachtet des wehenden Geistergewandes, daß Amy wieder angefangen hatte, Hoffnung zu schöpfen.

»Die Hoffnung hält stand, nicht wahr?« sagte jemand hinter ihr. »Selbst wenn die offenkundigsten Hinweise für das Gegenteil sprechen.«

»Was meinen Sie damit?« stammelte Amy. Es war der Mann, den Jim Ismay genannt hatte. Debra und Ismay. Woher hatte er ihre Namen gewußt?

»Wissen Sie«, fragte er, »daß es nahezu eine Stunde dauerte, bis die Passagiere der Titanic wußten, daß ihr Schiff sank? Sie sahen dann auf die Lichter hinunter, die noch immer unter der Wasseroberfläche in den unteren Decks brannten, und sagten: ›Wie hübsch! Meint ihr, wir sollten vielleicht in ein Rettungsboot steigen?‹«

Amy war sehr erschrocken darüber, was dieses Gerede über sinkende Schiffe bedeuten könnte, und machte Anstalten, sich die Treppe hinaufzubegeben, aber seine Hand schloß sich über ihre auf dem Geländer. »Sie würden sie nicht hinauflassen«, sagte er. »Der Arzt ist noch bei ihr. Und Ihr Mann.« Er schob seine Hand auf ihren Arm und führte sie in den Salon.

Caroline ist tot, dachte sie dumpf und blickte mit leeren Augen in den Salon.

»Der Körper ist wie ein Schiff. Er stirbt nicht auf einmal. Der Tod hat ihn im Griff, der verhängnisvolle Eisberg hat es aufgerissen, aber es dauert Stunden, bis das Schiff sinkt. Und die ganze Zeit über gehen Passagiere auf den Decks umher, senden ihr S.O.S. an Rettungsschiffe, die nicht kommen. Haben Sie jemals einen Geist gesehen?«

»Es gab Überlebende bei der Titanic«, sagte Amy und ihr Herz klopfte so heftig, daß es schmerzte. »Es kam Hilfe.«

»Ah, ja. Die Carpathia kam um vier Uhr morgens mutig angedampft. Kapitän Rostron irrte nahezu eine Stunde zwischen den Eisbergen umher und befürchtete, er sei am falschen Ort. Er war zu spät. Sie war schon gesunken.«

»Nein«, beharrte Amy, und sie wußte vom panischen Klang ihres Herzens, daß es in diesem Gespräch überhaupt nicht um sinkende Schiffe ging. »Sie kamen nicht zu spät für die Rettungsboote.«

»Ein paar Passagiere der ersten Klasse«, erwiderte Ismay, als käme es auf die Überlebenden nicht an. »Wissen Sie, daß alle Kinder auf dem Zwischendeck ertrunken sind?«

Amy hörte ihn nicht. Sie hatte sich von ihm abgewandt und blickte in den Salon. »Was?« fragte sie verständnislos.

»Ich sagte, die Californian befand sich nur fünfzehn Kilometer entfernt. Dort dachte man, ihre Leuchtkugeln seien ein Feuerwerk.«

»Was?« fragte sie wieder und versuchte an ihm vorbeizukommen, aber er stand hinter ihr, zwischen ihr und der Tür, und der Weg war ihr versperrt. »An welch einem Ort sind wir hier?« fragte sie und konnte über dem Klang ihres Herzens ihre eigene Stimme nicht verstehen.


Amy stand in der Tür und blickte zurück zum Salon. Ich muß dorthin zurück, dachte sie klar. Im Salon ist etwas Entsetzliches geschehen.

»Mama!« rief Caroline, und Amy dreht sich um und blickte durch die geöffnete Tür hinein.

Die Frauen standen reglos um das kleine Mädchen, streckten unbeholfen die Hände aus, um sie zu beruhigen. Debra kniete ihr zu Füßen. Sie sollten ihr einen Rettungsgürtel anlegen, dachte Amy. Sie müssen sie aufs Bootdeck hinaufbringen. Caroline streckte freudig ihre Hände nach Amy aus.

»Wir gehen jetzt nach Hause, Caroline«, sagte Amy. Aber bevor sie ausgesprochen hatte, sagte eine der Frauen etwas, indem sie Amy nicht unterbrach, sondern ihre Worte über Amys legte, so daß Amy ihre eigene Stimme nicht hören konnte. »Deine Mutter ist fort, Liebling. Sie kann dir nicht mehr weh tun.«

»Sie ist nicht fort«, erwiderte Caroline. Die drei Frauen sahen zu dem kleinen Mädchen auf, dann warfen sie sich gegenseitig besorgte Blicke zu.

»Du vermißt sie natürlich, aber sie ist jetzt glücklich. Du mußt all die schlimmen Dinge vergessen und daran denken«, sagte Debra und tätschelte Carolines Hand. Caroline zog unwillig ihre Hand weg.

»Meint ihr, wir sollten ihr ein Beruhigungsmittel geben?« fragte die Frau, die zuerst gesprochen hatte. »Ismael sagte, sie könnte die erste Zeit schwierig sein.«

»Caroline«, befahl Amy laut. »Komm her!«

»Nein«, erwiderte Debra, und zuerst glaubte Debra, sie antworte ihr, aber sie machte keine Anstalten, Caroline zurückzuhalten, und ihre Stimme klang wie während der Seance, als sie einen Geist gespielt hatte. »Vielleicht sieht sie ihre Mutter.«

Ein Schaudern, wie das plötzliche Absacken eines Schiffs, durchfuhr die Frauen.

»Caroline?« fragte Debra vorsichtig. »Wo ist deine Mutter?«

»Da vorn«, antwortete Caroline und deutete auf Amy.

Die Frauen wandten sich um und blickten zur Tür. Vielleicht sieht sie etwas, überlegte Debra. Ich glaube, wir sollten das Ismay erzählen, und sie ging an Amy vorbei durch die Tür und durch den Flur in den Salon.

Oh, im Salon ist etwas Entsetzliches geschehen, dachte Amy, und Ismay hat’s getan.


Der Salon war das Zimmer, das sie vom Park aus gesehen hatte. Während sie Caroline ihr Glas Milch gab, hatte sie die schweren grauen Vorhänge vor dem Fenster betrachtet und sich gefragt, wie das protzige viktorianische Haus wohl von innen aussehen mochte. Sie hatte es sich wie dieses Zimmer vorgestellt, kostbare Hölzer und verblaßte Tapeten, aber das Zimmer, in das sie Caroline eilig hinaufgebracht hatten, war kahl, ein zusammenklappbares Feldbett und graue Wände, und sie hatte wieder gedacht: Dieses Haus ist von einer Art Sekte übernommen worden.

Nah des Fensters stand ein großer runder Tisch, ringsum Stühle, und in der Mitte brannten Kerzen in einem Kandelaber. Einer der Stühle war schwerer als die anderen und reich mit Schnitzereien bedeckt. »Der Tisch des Kapitäns«, kam Amy in Gedanken an die Titanic in den Sinn, »und der Kapitän sitzt in diesem Stuhl.«

Sie hatte sich von Ismay abgewandt und im Umwenden gesehen, was hinter ihr stand, blaßweiß in der Dunkelheit des Zimmers. Ein Eisberg. Ein Katafalk. Eine Bahre. Ich habe ihn zu spät gesehen, dachte Amy und versuchte an Ismay vorbeizukommen, aber er stand an der Tür.

»Die Titanic ist sehr schnell untergegangen«, sagte er. »In etwas weniger als zweieinhalb Stunden. Bei Menschen dauert das normalerweise länger. Es sind noch Jahre später Geister gesehen worden, auch wenn es meiner Erfahrung nach eine Sache von Stunden ist, bis sie untergehen.«

»An welch einem Ort sind wir hier?« fragte Amy. »Wer sind Sie?«

»Ich bin ein Mann, der Geister sieht, ein Spiritist«, erklärte Ismay, und Amy fiel vor Erleichterung beinahe in Ohnmacht.

»Sie halten hier Ihre Seancen ab«, sagte sie, über die Maßen von seinen Worten erleichtert. »Sie sitzen in diesem Stuhl und rufen die Geister«, fügte sie schwindlig hinzu und setzte sich in den geschnitzten Stuhl. »Kommt von der anderen Seite zu uns und all das. Haben Sie jemals einen Geist von der Titanic herbeigerufen?«

»Nein.« Er wandte sich ihr zu und sah sie an. »Jeder Geist ist eine Titanic für sich.«

Sie fühlte sich unwohl in seiner Nähe. Sie stand auf und blickte durchs Fenster. Am anderen Ende des Parks sah sie die Polizeiwache, und sie wurde von derselben ungestümen Erleichterung überwältigt. Die Polizei befand sich in Signalreichweite und oben war der Arzt, und all die geisterhaften Damen waren bloß harmlose Tischrücker, die mit ihren toten Männern sprechen wollten. In diesem Zimmer ließ Ismay immer die Fenster auffliegen und Kerzen ausgehen, Geister über dem Katafalk schweben, die Hände friedlich über ihren Brüsten gefaltet, und wovor, wovor hatte sie Angst gehabt?

»Ich hatte einen Vorfahr auf der Titanic«, sagte er. »Wirklich ein ziemlich übler Bursche. Er kam in einem der ersten Boote davon. Wissen Sie, daß die Titanic als erstes Schiff das internationale Seenotzeichen verwendet hat? Und die Californian, die nur fünfzehn Kilometer entfernt war, hätte es als erstes empfangen, ein historisches Zusammentreffen, aber der Bordfunker war schon zu Bett gegangen, als die ersten Botschaften gesendet wurden.«

»Die Carpathia hat sie gehört«, widersprach Amy und ging an ihm vorbei durch die Tür, um dorthin zu gehen, wo es Caroline allmählich besser ging. »Kapitän Rostron ist gekommen.«

»Es gab den ganzen Tag Warnungen vor Eisbergen«, erklärt Ismay. »Aber die Titanic hat sie ignoriert.«


Amy lehnte sich gegen die Wand, nachdem Debra vorbeigegangen war, und preßte sich die Hände gegen die Brust, als sei sie verwundet worden. Ich muß Jim finden, dachte sie. Er wird dafür sorgen, daß sie in eins der Boote kommt.

Sie hatte große Schwierigkeiten mit der Treppe gehabt. Sie schien sich vorzuneigen, und Amy mußte alle Konzentration zusammennehmen, um sie hinaufzusteigen, und sie konnte nicht darüber nachdenken, wie sie sich Jim verständlich machen, wie sie ihn dazu bringen sollte, Caroline zu retten. Selbst der Flur bekam in ihre Richtung Schlagseite, so daß sie sich zu Debras Zimmer kämpfen mußte, als erklettere sie einen steilen Hügel. Als sie die geschlossene Tür erreichte, mußte sie für einen Augenblick stehenbleiben, bevor sie Kraft fand, ihre Hand an den Türknopf zu legen. Als sie es tat, glaubte sie, die Tür würde abgeschlossen sein. Dann blickte sie auf ihre Hand hinunter. Sie ließ sie an ihre Seite sinken, als sei sie verletzt worden.

Debra öffnete die Tür und lehnte ihren anmutigen Körper dagegen. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie.

»Sie können sie nicht einfach da drin lassen«, rief Jim. »Was ist mit der Polizei?«

»Warum sollte die Polizei kommen, wenn niemand sie verständigt hat? Wir haben keine Telefone. Die Haustüren sind abgeschlossen. Wer sollte sie holen?«

»Caroline.«

Amy kam ins Zimmer.

Debra schüttelte den Kopf. »Sie ist erst sechs Jahre alt, und man kann nicht sagen, daß sie etwas gesehen hat. Wir haben ihr erzählt, ihre Mutter sei im Schlaf gestorben.«

»Nein«, fuhr Amy dazwischen. »Das ist nicht wahr. Ich bin umgebracht worden.«

»Ich würde mich auch sicherer fühlen, wenn Ismay sich um sie gekümmert hätte. Sie hat vielleicht hinterher etwas gesehen.«

»Das hat sie«, bestätigte Debra und sah zu, wie Jim die Farbe aus dem Gesicht wich. »Sie hat heute morgen geglaubt, sie sähe ihre Mutter.« Sie ließ noch einmal eine grausame Pause eintreten. »Ismay hat entschieden, eine Seance abzuhalten«, erklärte sie. Sie wartete die Wirkung auf ihn ab und fügte dann hinzu: »Wovor haben Sie Angst? Sie ist tot. Sie kann ihnen nichts tun.« Sie ging durch die Tür.

»Du hast sie vergiftet«, sagte Amy zu Jim. »Sie war nicht krank. Sie ist vergiftet worden. Du hast das Picknick geplant. Es war ein Trick, um uns hierherzubringen, zu Debra, deren Name du schon vorher kanntest. Um uns hierherzubringen, damit Ismay mich ermorden konnte.«

Jim betrachtete die Tür, während die Farbe allmählich in sein Gesicht zurückkehrte. Er nahm ein Arzneifläschchen aus Kunststoff aus seiner Hemdtasche und drehte es in der Hand. Amy stellte ihn sich vor, wie er im Park stand, erst zur Polizeiwache und dann zu dem Haus mit den grauen Vorhängen sah, die Entfernungen abschätzte und vor sich hinpfiff, während er darauf wartete, daß Caroline ihre Milch trank.

»Ich werde nicht zulassen, daß du sie umbringst«, rief Amy. »Ich werde Caroline retten.« Sie versuchte ihm das Gift zu entwinden.

Jim steckte das Fläschchen in seine Hemdtasche zurück und öffnete die Tür.


Sie hatte an der Seance teilgenommen, weil es Caroline besser ging und nichts sie erschrecken konnte, auch Jims Weigerung zu gehen nicht. Die Fenster waren aufgeflogen, und die Vorhänge hereingeblasen worden, die Kerzen flackerten. »Er wird irgend etwas unter dem Tisch machen«, dachte Amy. Sie beobachtete ihn die ganze Zeit durch die Kerzenflammen.

»Komm zu uns, du Geist«, sagte Ismay. Er saß nah des großen geschnitzten Stuhls, aber nicht darin. »Wir rufen dich. Komm zu uns!«

Es war Debra, die sie irgendwie über die Bahre projizierten, obwohl sie Amys Hand nicht losgelassen hatte. Debra, zurechtgemacht mit Fettschminke und in wehendes Weiß gekleidet. Sie schwebte dort, die Hände über der Brust verschränkt, und dann bewegte sie sich auf den Tisch zu.

»Willkommen, Geist«, sagte Ismay. »Welche Botschaft bringst du uns aus dem Jenseits?«

»Es ist sehr friedlich«, erwiderte Debras Geist.

Ismay ließ seine Hand unter den Tisch gleiten. Die Sterne strahlten sehr hell und glitzerten auf dem Eis. Das Schiff ragte wie ein Juwel gegen den dunklen Himmel auf, seine Lichter lagen zu tief im Wasser. Er macht da etwas, dachte Amy. Etwas, um mich zu erschrecken. Sie versuchte dagegen anzukämpfen, sah den falschen Geist Debras auf den Tisch zuschweben. Die Kerzen tropften und gingen aus, als sie vorbeikam. Sie ließ sich in den geschnitzten Stuhl sinken. »Ich bringe euch Grüße von euren Lieben«, sagte sie, die Hände auf den geschnitzten Lehnen. »Sie haben ihren Frieden.«

Das Achterschiff begann sich in die Luft zu heben. Es entstand ein schrecklicher Lärm, als das Inventar umzukippen begann: das berstende Glas des Leuchters, die blechernen Schwingungen des Pianos, als es das Bootsdeck herunterrutschte, das Schreien der Leute, die sich an den Relings festzuhalten versuchten. Die Lichter gingen aus, flackerten wie Kerzen und gingen wieder aus. Das Heck hob sich weiter.

»Nein!« stieß Amy hervor und stand auf, hielt dabei noch immer Jims und Debras Hände.

Ismay machte etwas unter dem Tisch, und die Lichter gingen an. Debras Geist verschwand. Alle sahen sie an.

»Ich habe es gehört … alles fing an umzukippen … das Schiff … Wir müssen die Leute retten.« Sie war sehr erschrocken.

»Mancher sieht die Toten«, erklärte Ismay. »Mancher hört sie. Sie hätten auf der Californian sein sollen. Dort hat man erst am nächsten Morgen etwas gehört.« Er bat die anderen mit einer Handbewegung aus dem Zimmer. Er saß noch immer am Tisch. Die Kerzen hatten sich wieder entzündet.

»Wissen Sie, daß die Titanic, als sie unterging, einen großen Strudel hervorrief, der alle, die ihm zu nah waren, mit hinunterriß?« fragte er, und sie war an ihm vorbeigestürzt, um Caroline nachzusetzen, die geschluchzt hatte und vor ihr davongelaufen war.


Jim ließ die Tür offen, und sie eilte hinter ihm her, hielt aber oben auf der Treppe inne, zu erschrocken, um hinunterzugehen, voller Angst, der Salon könnte schon unter Wasser stehen. Ich muß mich beeilen. Ich muß Caroline retten, dachte sie, bevor alle Boote fort sind, und sie ging die sich neigende Treppe hinunter.

Sie saßen an dem Tisch im Salon. »Komm zu uns, Amy«, sagte Ismay. »Wir rufen dich. Kannst du uns hören?«

»Ich höre dich«, sagte Amy deutlich. »Du hast mich umgebracht.«

Ismay sah sie nicht an. Er betrachtete den geschnitzten Stuhl, und es saß jemand darin. »Ich bin glücklich hier«, erwiderte Amys Geist. Debra, zurechtgemacht mit Fettschminke, die Hände entspannt auf den geschnitzten Lehnen. »Ich wünschte, du wärst hier bei mir, Caroline, mein Liebling.«

»Nein!« schrie Amy und versuchte über den Tisch auf ihr eigenes Abbild zuzugehen, aber der Fußboden bebte, so daß sie kaum stehen konnte. »Hör nicht auf sie«, schluchzte Amy. »Lauf weg! Lauf!«

Ismay wandte sich Caroline zu. »Würdest du gern deine Mutter sehen, Schatz?« fragte er, und Amy warf sich auf ihn, trommelte gegen seine Brust. »Mörder! Mörder!«

»Wir werden sie jetzt besuchen«, sagte er und entfernte sich vom Tisch, Carolines Hand in seiner.

»Nei-ein!« keuchte Amy in einem Anfall von Verzweiflung und versetzte ihm einen Schlag von solcher Wucht, daß er hätte auf den Tisch stürzen und die Kerzen zu Teichen aus Wachs umkippen müssen. Die Kerzen brannten unbeschadet in der ruhigen Luft.

»Hilfe, Polizei! Mörder!« schrie sie und mühte sich mit den Fensterriegeln, die sich nicht öffnen ließen, hämmerte mit den Fäusten gegen die Scheiben, die sich nicht einschlagen ließen. Sie konnten sie nicht hören. Sie konnten sie nicht sehen. Nicht einmal Ismay. Sie ließ ihre Hände an ihre Seiten sinken, als seien sie verletzt worden.

»Die Schiffsbauer wußten es sofort«, sagte Ismay, »aber dem Kapitän mußte man es erklären und selbst dann glaubte er es nicht.«

Sie wandte sich vom Fenster ab. Er sah sie nicht an, aber mit den Worten war sie gemeint. »Sie können mich sehen«, behauptete sie.

»O ja, ich kann Sie sehen«, erwiderte er und trat von der Bahre zurück. Sie hatten das Blut abgewaschen. Sie hatten ein Laken bis zu ihrer Brust hinaufgezogen und ihre Hände darüber verschränkt, um die Wunde zu verbergen. Natürlich konnten sie sie nicht sehen, während sie durch die Flure streifte und ihre Stimmen übertönte, um gehört zu werden. Natürlich konnten sie sie nicht hören. Sie war hier, war die ganze Zeit hier gewesen, die nutzlosen Hände über ihrer bewegungslosen Brust verschränkt. Natürlich konnte sie die Tür nicht öffnen.

Ich kann Caroline nicht retten, dachte sie und suchte sie unter den Frauen, aber sie waren alle fort. Sie haben sie doch noch in die Boote gebracht.

Ismay stand am Seance-Tisch und beobachtete sie. »Wir sind auf einen Eisberg gelaufen«, sagte er mit einem leichten Lächeln.

»Mörder«, rief Amy.

»Ich kann Sie nicht hören, wissen Sie. Was Sie sagen, kann ich manchmal erkennen, indem ich Sie beobachte. Das Wort ›Mörder‹ kommt ganz deutlich bei mir an. Aber meine Liebe, Sie geben überhaupt keinen Laut von sich.«

Sie blickte auf ihren Körper hinunter, in ihr ruhiges Gesicht, das nie mehr einen einzigen Laut von sich geben würde.

»Die Toten geben einen Laut von sich«, sagte Ismay. »Wie ein untergehendes Schiff. S.O.S. S.O.S.«

Amy blickte auf.

»Oh, meine Liebe, ich sehe, daß Sie jetzt noch hoffen. Ist die menschliche Seele nicht ein störrisches Ding? S.O.S. Save our Ship. Stellen Sie sich vor, Sie geben eine solche Botschaft durch, wenn das Schiff nicht mehr gerettet werden kann. Die Titanic war in dem Moment tot, als sie den Eisberg rammte, so wie Sie in dem Moment tot waren, nachdem ich Sie bei ihrem Gebet entdeckte. Aber es dauert einige Zeit, um unterzugehen. Und bis zuletzt bleibt der Bordfunker an seinem Posten und sendet Botschaften, die niemand hören wird.«

Es gab etwas, das er in seinen Worten verbarg, etwas über Caroline.

»Es ist offensichtlich ein wirklicher Laut, wenn die sterbenden Zellen ihre gespeicherte Energie freisetzen, obwohl ich vorziehe, es so zu betrachten, daß die sterbenden Zellen ihre letzte Hoffnung aufgeben. Er bewegt sich tief im Infraschallbereich, deshalb ist sein Nutzen begrenzt. Die reizende Debra und ein paar verborgene Lautsprecher sind auf lange Sicht viel brauchbarer. Aber er ist nützlich für Seancen, obwohl seine Wirkung nicht immer so spektakulär ist wie in ihrem Fall.«

Er hatte unter den Tisch gegriffen. Der vordere Schornstein kippte ins Wasser, versprühte Funken. Ein ohrenbetäubendes Krachen war zu hören, als er umstürzte, und dann die Schreie. Für einen längeren Augenblick ragte das Schiff fast senkrecht mit einem Ende gegen den Himmel auf, dann kippte es und begann anfangs langsam, dann immer schneller ins Wasser zu gleiten.

Sie durfte nicht zulassen, daß er das mit ihr tat. Er hatte vorher etwas darüber gesagt, daß Sie gebetet habe, als er sie umbrachte. Er glaubte, sie habe unter dem Tisch gekniet, um zu beten, aber das stimmte nicht. Sie suchte Caroline.

Er drehte das Geräusch ab. »Der Frequenzbereich ist, wie gesagt, sehr beschränkt, und der Bordfunker auf der Californian machte um Mitternacht Feierabend, fünfzehn Minuten bevor der erste Notruf eintraf.«

»Die Carpathia«, sagte Amy.

»Ah, ja«, bestätigte Ismay. »Die Carpathia. Es stimmt, daß die Polizei einige Male an meiner Tür war, aber sie irrten im Flur nur eine Stunde oder so zwischen Eisbergen von Entschuldigungen und dummen Erklärungen umher und dann gingen sie weg und dachten wohl, sie seien nicht am richtigen Platz. Sie konnten in der Zeit noch nicht einmal ein Wrack finden.«

»Caroline«, flüsterte Amy.

»Meinen Sie, ich sei so verrückt, die Polizei von ihr herführen zu lassen? Nein, sie wird nicht in der Lage sein, sie überhaupt irgendwo hinzuführen«, erwiderte er aus einem Mißverständnis.

Ich darf mich nicht von ihm ablenken lassen, dachte Amy. Etwas war mit Caroline. Etwas Wichtiges. Er hatte sie bei ihrem Gebet umgebracht. Bei ihrem Gebet. »Warum haben Sie mich umgebracht?« fragte sie, ohne sich anzustrengen, ihre Worte deutlich genug zu bilden, daß er sie ablesen konnte.

»Aus dem banalsten aller Gründe«, erklärte er. »Ihr Mann hat mich dafür bezahlt. Sieht so aus, als wollte er die reizende Debra. Haben Sie geglaubt, ich sei eitel genug, um Sie umzubringen, weil sie versucht haben, meine Tricks herauszufinden? Weil Sie unter meinem Seance-Tisch herumgeschnüffelt haben wie ein Kind, das nach Erklärungen sucht?«

Er hat Caroline unter dem Tisch nicht gesehen, dachte sie. Er weiß nicht, daß sie gesehen hat, wie ich umgebracht wurde. Aber das bedeutete etwas, sie wußte nur nicht, was.

»Er hat mich auch für Caroline bezahlt«, fuhr er fort und wartete auf ihren Gesichtsausdruck.

»Das würde ich nicht zulassen«, sagte Amy.

»Nicht? – Meine Liebe, Sie geben noch immer nicht die Hoffnung auf, was? Ich könnte ihren Körper als einen Altar benutzen, um ihre geliebte Caroline darauf umzubringen, und Sie könnten nicht einen Finger rühren, um mich daran zu hindern.«

Er hatte am Seance-Tisch gestanden. Nun sah sie, daß er lässig an der Tür lehnte. »Das Ende ist schon sehr nah. Ich würde gern bleiben und zusehen, aber ich muß Caroline suchen. Machen Sie sich keine Sorgen«, schloß er. »Ich werde sie finden. Die Rettungsboote sind alle fort.« Er schloß die Tür.

Er hat nicht gesehen, daß sie sich unter dem Tisch versteckte, als er mich ermordete, dachte Amy, und der nächste Gedanke folgte wie von selbst, erbarmungslos. Sie versteckt sich noch immer dort.

Ich muß die Tür abschließen, kam ihr in den Sinn, und sie watete durch das schrägliegende Zimmer darauf zu. Das Schloß lag schon unter Wasser, und sie mußte die Hand eintauchen, um es zu erreichen, aber als ihre Hand es ertastete, bemerkte sie, daß es überhaupt nicht das Schloß war. Sie hatte ihre eigene starre Hand berührt. Sie hatte sich keinen Zentimeter bewegt.

Das Ende muß schon sehr nah sein, dachte sie, denn ich habe keinen Funken Hoffnung mehr. »S.O.S.«, schrie sie mitleiderregend. »S.O.S.«

Sie stand ganz aufrecht neben ihrem Körper, ohne ihn zu berühren, und anfangs war die leichte Schlagseite nicht spürbar, aber nach langer Zeit streckte sie die Hände aus, als müßte sie sich abstützen, und ihre Hände drangen in die Hände ihres Körpers ein, und sie stürzte …


Caroline ließ die Polizisten herein. Sie hatten einen Durchsuchungsbefehl. »Sie haben meine Mami umgebracht«, sagte Caroline deutlich, ohne eine Spur von Tränen, und führte sie zu dem Leichnam.

»Ja«, sagte der Kapitän, als er Amy das Laken übers Gesicht zog. »Ich weiß.«

»Ich fürchte, hier hat sich eine Tragödie abgespielt«, sagte Ismay, der ins Zimmer kam. »Die Mutter des kleinen Mädchens …«

»… ist umgebracht worden«, unterbrach der Kapitän. »Als sie vor diesem Tisch kniete. Und die Hände vor ihrer Brust verschränkte.« Carolina saß still hinter dem Stuhl und sah zu. Amys Lippen bewegten sich, als bete sie. Der plötzliche Ausbruch von Blut unter ihren Händen, und Caroline wich zur Wand zurück. Tränen schossen ihr in die Augen. »Umgebracht von Ihnen«, erklärte der Kapitän.

»Das können Sie unmöglich wissen«, sagte Ismay.

Jim lief herein. Er sank vor Caroline auf die Knie und drückte sie fest an sich. »Oh, meine Caroline, sie haben sie umgebracht!« schluchzte er. Caroline entwand sich ihm und ging zum Kapitän, um sich von ihm an der Hand nehmen zu lassen.

»Es hat keinen Sinn«, sagte Ismay. »Sieht so aus, als hätten diese Herren eine Botschaft empfangen.«

»Caroline!« rief Jim und bewegte sich drohend auf sie zu. »Was hast du ihnen erzählt?«

»Caroline hat ihnen überhaupt nichts erzählt«, erklärte Ismay. Er griff unter Jims Jacke in seine Hemdtasche und holte das Arzneifläschchen heraus. Er gab es Caroline. »Du bist gerettet worden«, sagte er ihr. »Alle Kinder in der ersten Klasse sind gerettet worden, außer der kleinen Lorraine Allison, die erst sechs Jahre alt war. Aber du heißt nicht Lorraine. Du heißt Caroline.« Er blickte zum Kapitän auf. »Und sie sind, vermute ich, Kapitän Rostron.«

»Wer hat eine Botschaft geschickt?« rief Jim hysterisch. »Wie?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Ismay ruhig. »Ich bezweifle sogar, ob es diese vorzüglichen Polizeibeamten wissen, ungeachtet ihres Durchsuchungsbefehls und ihrer Vertrautheit mit den Umständen des Verbrechens. Aber ich würde wetten, ich kenne die Botschaft.« Er betrachtete das Gesicht des Kapitäns. »›Kommen Sie sofort. Wir haben einen Eisberg gerammt.‹«


Originaltitel: ›Distress Call‹ Copyright © 1984 by Connie Willis

(erstmals erschienen in ›The Berkley Showcase of SF and Cash Crop‹)

mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael K. Iwoleit

Illustriert von Jobst Teltschik

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