Gert Prokop Kasperle ist wieder da



Ich gebe zu, die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, ist schwer zu glauben, doch ich versichere, ich habe sie tatsächlich so erlebt.

Es begann, wie so oft, mit einem Zufall. In dem kleinen Städtchen Mieshof, von dessen Existenz ich bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte. Oder auf der Zugspitze? Wo beginnt eine Story?

Selbst im nachhinein ist der Punkt, an dem eine Information, ein Erlebnis zur Story wird – oder unser Leben verändert –, kaum einmal festzustellen, und ich bin immer wieder fasziniert von der Rolle, nein, der absoluten Herrschaft des Zufalls. Im Gegensatz zu meiner Kollegin Dorothea, die behauptet, auch in dem irrsinnigsten, unwahrscheinlichsten Geschehen walte Zwangsmäßigkeit, sage ich, daß unser Leben durch eine unaufhörliche Verknotung von Zufällen bestimmt wird.

Hätte ich nicht die Landstraße genommen oder in einem anderen Ort Rast gemacht, wäre ich an einem anderen Tag, ja, nur zu einer anderen Stunde nach Mieshof gekommen oder nicht so durchgefroren gewesen, daß ich Lust bekam, noch ein wenig im Sonnenschein spazierenzugehen; wenn ich Weißenbacher getroffen oder die Information über den Zugspitzschnee nie erhalten hätte … Hunderte Wenn und Aber, und jedes einzelne hätte ausgeschlossen, daß ich Maud und ihren Kasper je in meinem Leben getroffen hätte. Aber ich war in Mieshof. Zu dieser Stunde.

Ich kam von der Zugspitze. Da ich Angst hatte, auf der Autobahn am Lenkrad einzuschlafen, war ich Landstraße gefahren, von Garmisch-Partenkirchen am Alpenrand entlang, dann über Walchensee, Benediktbeuren, Bad Tölz … Solange die Straße voller Kurven und die Landschaft voller Überraschungen war, blieb ich munter, aber dann erwischte es mich doch; im letzten Augenblick schreckte ich hoch, konnte das Lenkrad gerade noch herumreißen, ein gewagtes Manöver aus Stotterbremsen und Gasgeben und wieder Bremsen und Kurven, und mein Wagen schlängelte sich haarscharf zwischen Straßengraben und Bäumen, zwischen Traktor und Radfahrer hindurch, ein Manöver, das ich bei wachem Verstand gewiß nicht geschafft hätte.

Das erste, was ich wieder bewußt wahrnahm von meiner Umgebung, war ein riesiger Friedhof hinter einer exakt geschnittenen dichten Hecke, wahrscheinlich ein Soldatenfriedhof aus dem letzten europäischen Krieg.

Ich war verrückt, so zu rasen. Wenn ich hier auf der Landstraße verreckte, platzte nicht nur der Sendetermin. Im nächsten Ort würde ich Pause machen, und daß er Mieshof hieß, war mir recht. Weiß der Himmel, mir war mies zumute. Meine Glieder noch immer steif vom Frost. Im Juli!

Während seit Tagen tropische Hitze über dem Flachland brütete, lag auf der Zugspitze Neuschnee; erst als ich die Leute in dicken Pullovern und Mänteln zur Seilbahnstation gehen sah, hatte ich an den Klimaunterschied gedacht. Wenigstens einen alten Pullover fand ich im Kofferraum. Gewiß, das Zugspitzhotel war gut geheizt, aber ich war nicht gekommen, um mir bei Kaffee und Kuchen das Alpenpanorama anzusehen, ich wollte Dr. Weißenbacher sprechen. Weißenbacher war der einzige, bei dem ich mir eine Chance ausrechnen konnte, die Wahrheit zu erfahren: ob, allen Dementis zum Trotz, nach dem Reaktorunfall von Contenay radioaktiv verseuchter Schnee auf der Zugspitze gefallen war.

In das Observatorium hatte man mich gar nicht erst hineingelassen, nachdem ich meinen Namen genannt hatte, und der Wachmann wollte mich nicht einmal für einen Hunderter im Eingang warten lassen, aber er versprach, mir ein Lichtzeichen zu geben, sobald Dr. Weißenbacher das Observatorium verließ.

Weder in der Hotelhalle noch im Restaurant gab es einen Platz, von dem aus ich den Eingang des Observatoriums sehen konnte. Also wartete ich draußen, in einer Ecke des Hotelgebäudes, nur halbwegs geschützt vor dem eisigen Wind, dann in der zugigen Station des kleinen Lifts, den jeder benutzen mußte, der mit der Seilbahn oder der Zugspitzbahn hinunterfahren wollte. Als die Nacht hereinbrach, ging ich noch einmal zum Observatorium und erfuhr, daß Weißenbacher längst weg war. Der Mann mit dem Hunderter auch. Und inzwischen die letzte Seilbahn.

Das Hotel war ausverkauft. Ich durfte die Nacht in einem Sessel in der Halle verbringen, nach Restaurantschluß, versteht sich, schon vor Sonnenaufgang stand ich wieder draußen, kreuzlahm, übernächtigt und bibbernd, um die erste Gondel abzupassen, was tut man nicht alles für seinen Job.

Weißenbacher kam auch nicht mit der zwölften Gondel. Für einen zweiten Hunderter verriet mir der neue Wachmann, daß er die ganze Woche nicht mehr kommen würde, und für einen dritten Blauen erfuhr ich, wo ich Weißenbacher erreichen konnte: in seinem Haus in Traunstein. Frierend und fluchend brach ich auf …

Jetzt, nach ausgiebigem Frühstück und halbstündigem Sonnenbad im Vorgarten des Ratscafes, fühlte ich mich wieder fit. Dieses Mieshof war ein blitzsauberes Städtchen, das nicht nur am Markt gepflegte alte Häuser besaß, es machte Spaß, durch die engen Gassen zu schlendern. Plötzlich stieß ich auf eine Menschenmenge, meist Kinder und Alte, die sich lachend und juchzend um ein kleines Podium drängten, einen Autoanhänger, der zur Bühne geworden war, ein Kasperletheater, wie die kakelbunte Schrift verriet:


Kasperle ist wieder da!

Maud und ihr sprechender Kasper.


Kindheitserinnerungen blitzten auf. Jahrmarkt, Rummel. Roch es nicht nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln? Aber auf dem kleinen Platz stand nur der Autoanhänger und davor ein ziemlich abgetakelter Wohnwagen, ein 97er FORDMOBIL.

Ich war im Nu eingefangen, verzaubert, obwohl es anders war als das Kasperletheater, das ich aus meiner Kindheit kannte. Keine Handpuppen, die in die Kulisse gehalten wurden, so daß man die agierenden Spieler nicht sah, hier gab es keine Kulissen und nur einen Akteur, Maud, eine Frau um die Fünfzig. Sie saß auf dem Podium, hielt den Kasper, eine babygroße Puppe mit überdimensionalem Kopf, auf dem eine schellenbesetzte bunte Mütze thronte, mit der linken Hand und unterhielt sich mit ihm, und die Puppe antwortete frech, vorlaut, dummdreist und witzig, eben wie ein Kasperle. Diese Maud mußte eine ausgezeichnete Bauchrednerin sein.

Noch erstaunlicher war, wie sie mit der Puppe hantierte. Kasperle bewegte sich, als sei er lebendig. Seine Arm- und Körperbewegungen mochte Maud ja mit der Hand dirigieren, die sie in den langen Flickenrock der Puppe gesteckt hatte, wie aber schaffte sie es, daß Kasperle eine richtige Mimik zeigte, daß er sogar Finger, Mund und Augen bewegte? Dieser Kasperle mußte ein Miniroboter sein, eine raffinierte Konstruktion mit Mikrochips und Servolenkungen. Das wäre etwas für Pierre, dachte ich, Pierre suchte ständig Attraktionen für seine EUROSAT-Show, und diese Frau war es wert, einmal in Europas beliebtester Fernsehsendung aufzutreten.

Dann geschah etwas, das selbst einem so abgebrühten Burschen wie mir den Atem verschlug. Maud und Kasper hatten die ganze Zeit mit einem Ball gespielt, hatten sich mit den Antworten einen gelben Tennisball zugeworfen, jetzt gab Maud dem Kasperle zwei weitere Bälle, und er jonglierte damit! Dann sogar mit fünf Bällen. Dieser Kasperle war eine kleine Sensation.

Es war das Ende der Vorstellung. Kasperle breitete graziös seine Arme aus und machte eine tiefe Verbeugung. Alle klatschten begeistert, schrien nach einer Zugabe, doch Maud schüttelte den Kopf.

»Kasperle ist müde«, sagte sie. »Nicht wahr, Kasperle?«

»Entsetzlich müde.« Es riß den Mund weit auf und gähnte herzzerreißend. »Ich will ins Bett. Und vorher will ich einen Bonbon.«

»Aber Kasper«, sagte Maud, »Bonbon lutschen macht schlechte Zähne.«

»Oh!« Kasperle zog einen Flunsch. »Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte.«

»Was meint ihr?« fragte Maud die Kinder. »Soll ich ihm einen Bonbon geben?«

»Ja«, tönte es im Chor, am lautesten schrie eine Oma vor mir.

»Nun gut«, sagte Maud, »dann soll er ausnahmsweise einen bekommen.«

»Dankeschön!« rief Kasperle und verabschiedete sich mit Handküssen von den Zuschauern. Maud nahm ihn wie ein Kind in den Arm. Sie stieg von der Bühne herab und hielt eine Messingschale in die Menge. Fast alle gaben etwas, trotzdem konnte es keine große Einnahme sein, man hörte deutlich die Münzen in die Schale fallen, und als sie in meine Nähe kam, sah ich, daß fast nur Groschen und Fünfziger in der Schale lagen. Ich gab ein Fünfmarkstück, und Kasperle sagte Dankeschön. Er wirkte tatsächlich müde, wie er sich in Mauds Arme schmiegte, aber sie hielt die Puppe wohl so, damit niemand sie anfaßte. Als keine Hand sich mehr reckte, verschwand Maud mit ihm im Wohnwagen.

In diesem Augenblick wußte ich es: Nicht bei Pierre sollte Kasperle auftreten, sondern in meiner Sendung. Als Moderator zwischen den Beiträgen. Damit war ich alle Sorgen mit dem Moderator los. Es gab kaum einen Journalisten, der gut genug dafür war und sich auf Dauer mit seiner Rolle zufriedengab, und, noch wichtiger, ein Kasperle konnte Dinge aussprechen, die keinem seriösen Moderator gestattet wurden, konnte freche, sogar dreiste Bemerkungen machen, Anspielungen … Ich dankte dem Zufall, der mich nach Mieshof verschlagen hatte.

Es dauerte eine Weile, bis Maud aus dem Wohnwagen kam und sich daranmachte, die Bühne zusammenzulegen. Ich wartete, bis sie fertig war.

»Ich möchte Sie sprechen«, sagte ich.

Sie sah mich verstört an. »Polizei?« fragte sie fast unhörbar. Ganz offensichtlich hatte sie Angst. Hoffentlich wurde sie nicht wegen eines Verbrechens gesucht, dann war mein schöner Plan im Eimer. Wahrscheinlich stimmt etwas nicht mit ihrer Lizenz, dachte ich, deshalb tingelt sie auch über die Dörfer.

»Nein«, versicherte ich, »ich bin Herb Kienzle. Vom Fernsehen.«

»Etwa der Kienzle von FOKUS?« Sie sah sich meinen Presseausweis ganz genau an. »Ich hatte Sie mir jünger vorgestellt«, sagte sie. »Jetzt verstehe ich auch, warum Sie nie selbst in Ihren Sendungen auftreten – mit der Glatze und dieser Nase!«

»Es ist weniger meine Eitelkeit«, sagte ich, »aber wenn jemand mein Gesicht kennt, würde ich kaum noch in die Nähe meiner Klienten gelangen.«

»Klienten?« Sie lachte. »Eher wohl Opfer. Aber mir gefällt, was Sie machen. Nicht nur wegen der Sensation. Es ist so selten, daß einer unerschrocken die Wahrheit sagt. Warum wollen Sie mich sprechen?«

»Ich bin begeistert von Ihrem Spiel. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«

»Ich will nicht ins Fernsehen.«

»Sie würden viel Geld verdienen. Ich denke an ein Engagement auf Dauer.«

»Vielen Dank für das Angebot«, sagte sie, »aber es geht nicht. Vergessen Sie es.«

»Wie kann ich?« erwiderte ich. »Sie sind einfach zu gut, Maud. Viel zu gut, um nur in solchen Nestern aufzutreten. Ich biete Ihnen die Chance Ihres Lebens …«

»Nein, endgültig nein.«

»Warum wollen Sie sich nicht wenigstens mein Angebot anhören? Ich will Sie haben, ich werde nicht lockerlassen.«

Sie sah mich nachdenklich an. »Also gut, aber nicht hier. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Während ich zusammenpacke, holen Sie einen kleinen Imbiß, dann fahren wir ein Stück vor die Stadt, einverstanden?«

Ich überlegte nicht lange. Und Maud war mir im Moment wichtiger als alles andere. Vielleicht ist es sogar gut, dachte ich, wenn du erst abends in Traunstein ankommst. Weißenbacher war passionierter Blumenzüchter, vielleicht würde er mich kurz abfertigen, wenn ich ihn in seinem Garten störte.

Maud wartete bereits hinter dem Lenkrad, als ich den kleinen Platz in dem Gewirr von Einbahnstraßen wiedergefunden hatte. Wenige Kilometer hinter dem Ort bog sie in einen Landweg ein, der über ein paar Hügel zu einer Mulde am Waldrand führte. Ein idealer Platz für ein Picknick, weltabgeschieden, nichts als Bäume und Himmel, Blumen und Gräser und eine Stille, die man schon unwiederbringlich verloren glaubte.

Ich hatte reichlich, aber nicht extravagant eingekauft. Bei einfachen Frauen, das war meine Erfahrung, läuft man leicht auf, wenn man den Großkotz spielt. Also keine Trüffelpastete und Straßburger Gänselebercreme, weder geräucherten Lachs noch Hummer, dafür eine Auswahl an Schinken und Käse. Sie fragte, ob sie von jeder Sorte eine Kostprobe für das Abendessen beiseite legen dürfe.

»Bitte«, sagte ich, »was übrigbleibt, gehört ohnehin Ihnen.«

Sie legte trotzdem eine Scheibe von jeder Schinken- und Käsesorte auf einen Teller und brachte ihn in den Wohnwagen.

Ich hatte sie falsch eingeschätzt, Maud wollte weder Cola mit Whisky noch Juice mit Wodka, sondern Fachinger Brunnen und den leichten, extratrockenen Weißwein, ›um jedem Käse gerecht zu werden‹ – eine Formulierung, die eher zu einem Gourmet als einer Landfahrerin paßte. Ich hatte sie unwillkürlich für eine einfache, ungebildete Frau gehalten, wie andere Artisten, die ich kannte, doch als sie sich ins Gras niederließ, zitierte sie:


»O Täler weit, o Höhen

O schöner grüner Wald

Du meiner Lust und Wehen

Andächt’ger Aufenthalt!«


Eine Rummelplatzdame, die Eichendorff kannte. In Mieshof hatte Maud ein unauffälliges graues Kleid getragen, sicher, um alle Aufmerksamkeit auf das bunte Kasperle zu lenken, hier trug sie einen gelben Sari mit orangefarbenen Mustern, die Farben zogen Bienen und Wespen an, Maud verscheuchte sie nicht.

Ich hatte mich so gesetzt, daß ich die Sonne im Rücken hatte, um sie beobachten zu können. Jetzt wirkte sie nicht mehr wie fünfzig. Gewiß, sie hatte dunkle Augenringe und tiefe Falten, aber ihr Hals, dieses Wahr-Zeichen für das Alter einer Frau, war fast makellos glatt, und wenn sie lachte, hatte Maud einen geradezu mädchenhaften Charme.

Sie bestand darauf, daß zuerst ich erzählen sollte, von meiner Arbeit, und sie stellte präzise Zwischenfragen, sogar zu Sendungen, die vor Jahren gelaufen waren, so daß ich große Mühe hatte, mich zu erinnern. Sie schien jede Sendung von FOKUS gesehen zu haben.

»Und Sie«, sagte ich schließlich, »was haben Sie gemacht, Maud? Sie sind doch nicht unter fahrendem Volk großgeworden.«

»Stimmt«, sagte sie, »das mache ich wirklich noch nicht lange.«

»Und vorher?«

»Nichts, buchstäblich nichts. Gefaulenzt, den ganzen Tag spazierengegangen und geschwommen, ferngesehen und gelesen, meiner Kindheit nachgesonnen – à la recherche du temps perdu.«

Proust kannte sie also auch. Offensichtlich sogar im Original. Aber sie schien eine Deutsche zu sein, der mundsprachlichen Färbung nach, die gelegentlich aufblitzte, aus Schwaben.

»Und wo?« fragte ich.

»Ach, irgendwo.«

»Frankreich«, tippte ich. »Oder Belgien?«

»Warum nicht Italien oder Deutschland?« fragte sie zurück.

»Weil Sie offensichtlich mehr als Schulfranzösisch beherrschen.«

»Warum wollen Sie etwas über mich erfahren?«

»Sie interessieren mich.«

»Wieso? Eine Puppenspielerin, die über die Dörfer tingelt …«

»Gut, sprechen wir davon. Woher haben Sie das Kasperle?«

Ihre Miene versteinerte. »Sie sind nicht zufällig nach Mieshof gekommen, nicht wahr? Wer hat Sie auf meine Spur gesetzt?«

»Niemand«, versicherte ich, »es war reiner Zufall.« Ich erzählte ihr, wie es dazu gekommen war, sie blickte mich mißtrauisch an.

»Ich glaube, das ist nur einer Ihrer Tricks«, sagte sie. »Sie arbeiten mit allen Tricks für Ihre Sendungen, das weiß ich.«

»Stimmt. Aber ich schwöre, daß ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe. Bitte, glauben Sie mir, Maud. Es ist mir wichtig, daß Sie mir glauben.«

»Warum?«

»Weil ich hoffe, daß Sie bei FOKUS mitmachen.« Ich entwickelte ihr meine Idee.

»Ja, das könnte ich mir gut vorstellen«, sagte sie, »aber es geht nicht. Ich habe Berührungsängste, verstehen Sie? Ich bekomme Angst, sobald mehr als zwei Menschen in meiner Nähe sind.«

»In Mieshof waren über hundert um Sie herum. Nur hundert. Viel zu wenige für das, was Sie bieten.«

»Nicht in Tuchfühlung. Vielleicht kennen Sie das nicht, Herb, aber Artisten sind keine Showstars; zwischen Artist und Publikum bleibt so etwas wie eine unsichtbare Schranke, niemand kommt mir zu nahe. Ich könnte in keinem Studio arbeiten.«

»Wir können …«

»Nein«, unterbrach sie, »ein für allemal, nein.«

Was war los mit ihr? Kein Artist der Welt würde ein solches Angebot ausschlagen. »Dann verraten Sie mir, woher Sie das Kasperle haben«, sagte ich. »Haben Sie es selbst konstruiert? Können Sie mir eine zweite Puppe bauen? Ich bin ganz versessen darauf, solch ein Kasperle in meine Sendung einzubauen.«

Sie schwieg.

»Sie haben es gestohlen?«

Maud wandte den Blick ab.

»Deshalb haben Sie Angst vor der Polizei«, sagte ich. »Deshalb wollen Sie nicht bei mir auftreten.«

Sie schien völlig versunken in den Anblick einer Biene auf ihrem Sari.

»Ich könnte das in Ordnung bringen«, sagte ich. »Früher oder später findet der Besitzer des Kasperles Sie doch. Ich nehme an, die Puppe wurde nicht in einer Firma hergestellt, sondern von einem Hobbybastler, sonst wäre sie längst auf dem Markt.« Maud saß vorgebeugt da, die gefalteten Hände verkrampft zwischen den Beinen.

»Lassen Sie sich helfen, Maud! Sie müssen doch in ständiger Angst leben. Ich werde den Konstrukteur auszahlen. Oder beteiligen …«

»Hören Sie doch auf«, schrie sie, »es geht nicht.«

»Warum? Wer ist es? Ich werde Sie nicht verraten, das verspreche ich. Ich kann ja behaupten, ich hätte Sie in den Staaten getroffen oder in Südamerika. Sagen Sie es mir, und ich lasse Sie in Ruhe.«

»Er ist tot«, sagte sie schließlich.

»Ermordet?«

Keine Antwort.

»Von Ihnen?«

»Nein! Ich flehe Sie an, Herb, lassen Sie mich in Ruhe. Warum wollen Sie alles zerstören? Wir sind glücklich so …«

»Wir? – Das Kasperle ist für Sie wie ein Kind, nicht wahr?«

Sie sah mich an, Tränen in den Augen. »Ja, es ist mein ein und alles.«

»Glauben Sie manchmal, daß es lebendig ist, Maud?«

»Ja!« stieß sie hervor. »Jetzt wissen Sie es, ich bin eine Verrückte. Und nun hauen Sie ab. Vergessen Sie mich.«

»Wie könnte ich? Meine Nase wittert ein Geheimnis, und nichts, das werden Sie verstehen, reizt mich mehr als ein Geheimnis. Wer sind Sie, Maud? Doch keine Artistin? So einfach kommen Sie mir nicht davon.«

»Das fürchte ich auch.« Sie seufzte. »Ich habe es befürchtet, seit ich weiß, wer Sie sind. Versprechen Sie mir, daß Sie alles für sich behalten, was ich Ihnen erzähle?«

»Sie verlangen sehr viel von mir.«

»Es ist eine verrückte Geschichte, gewiß, aber keine für FOKUS.«

»Überzeugen Sie mich. Wenn Sie mich überzeugen, werde ich schweigen wie ein Grab.«

»Nun gut. Aber keinerlei Aufzeichnungen, versprechen Sie wenigstens das?«

»Ich habe nichts bei mir, die Geräte liegen alle im Wagen. Sie können sich überzeugen.«

Sie überzeugte sich tatsächlich, sie tastete mich ab wie ein Bulle einen gerade festgenommenen Gangster. Dann legte sie sich wieder ins Gras, verschränkte die Hände unter dem Kopf und sah in den Himmel.

»Sie haben recht«, begann sie, »ich bin eigentlich keine Artistin. Nicht einmal das. Ich stamme aus einer gutbürgerlichen Familie. Vater war Kybernetiker, Mutter Biotechnologin, nichts Bedeutendes, Fußvolk, aber ehrgeizig. Als ich gerade sechzehn war, starben meine Eltern bei einem Unfall. Von einem Tag zum anderen stand ich mittellos da. Arbeiten? Ich hatte nichts gelernt. Und eine Lehrstelle? Sie wissen doch, wie es damit aussieht. Ich hatte keine Beziehungen. Meine Eltern hatten ganz für ihre Arbeit gelebt, da waren nicht mal Freunde, die mir jetzt helfen konnten, keine Verwandten, nur eine Großmutter, die selbst Hilfe brauchte. Unterstützung bekam ich nicht, ich war ja schon erwerbsfähig, nur ein paar Mark Sozialhilfe. Also Wohnung verkaufen, eine billige Bude, hier und da mal ein Tagesjob. Dann kam Frank.« Sie hielt mir ihr Glas hin. »Meine erste Liebe. Die große Liebe, von der jeder Teenager träumt. Er sah blendend aus, fuhr einen Superwagen, hatte eine phantastische Wohnung, es war wie ein Sechser im Lotto. Drei Wochen lang. Dann sagte er, er sei pleite, müsse alles verkaufen, und wir müßten uns trennen. Es sei denn …«

»Sie liebten ihn so sehr, daß Sie ihm helfen würden«, ergänzte ich. »Er wollte Sie auf den Strich schicken?«

»Nicht auf den Strich. Wahrscheinlich hätte ich selbst das damals für ihn getan. Nein, Frank machte mir den Vorschlag, Mietmutter zu werden. Zwei, drei Jahre, sagte er, und wir sind aus allem heraus. Ein Kind zu bekommen, ist doch kein Problem für eine junge gesunde Frau. Leichte Arbeit. Was willst du sonst machen? Gelernt hast du nichts, nicht einmal kochen. Wie recht er hatte. Ich konnte nichts, und ich besaß nichts als meinen Körper. Hab keine Angst, sagte er, du sollst dich nicht von wildfremden Männern schwängern lassen, eine Viertelstunde beim Doktor, dann mußt du nur noch das Kind austragen. Und abkassieren. Er gab mir Prospekte von Anwaltskanzleien, die Mietmütter vermitteln. Eine Monatsgage, von der ich nur träumen konnte, dazu eine mir geradezu fürstlich erscheinende Erfolgsprämie. Warum nicht, dachte ich schließlich. Es ist ein anerkannter Job. Hunderte tun ihn. Wäre ich lieber auf den Strich gegangen.«

Ihr Glas war schon wieder leer. Ich ging zum Wagen, um eine neue Flasche zu holen. Eine Mietmutter also. Ich erinnerte mich noch gut an die heißen Debatten an der Uni. Damals ging es darum, ob Mietmutterschaft als Gewerbe staatlich sanktioniert werden sollte. Mutterschaft als neue Form der Prostitution, sagten die Gegner, pervers sei das, die Gebärmutter wie einen Leihwagen zu vermieten, die Eierstöcke ›abzuernten‹, Frauen zu Gebärmaschinen zu degradieren, wie Zuchtsauen zu behandeln … Na und, sagten die anderen, Männer gehen doch schon lange als Zuchtbullen. Wer hat noch was gegen Samenspender? Wo bleibt die Gleichberechtigung? So wie jeder Mann seinen Samen verkaufen darf, muß jede Frau das Recht haben, über ihre Eizellen und über ihre Gebärmutter zu verfügen. Es ginge doch nur darum, einen längst bestehenden Zustand zu legalisieren. Liefen nicht schon Hunderte von Kindern herum, deren Väter nicht die wahren Väter, deren Mütter nicht die leiblichen Mütter seien? Warum nicht den bedauernswerten Frauen, die keine Kinder bekommen könnten, legal helfen? Warum nicht armen Frauen so eine Chance geben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Warum nicht Mutterschaft als eine gesellschaftlich nützliche Dienstleistung anerkennen?

Auch ich war damals vehement für die Legalisierung eingetreten. Praktiziert wurde es ohnehin, durch Legalisierung konnten die unwürdigen Zustände auf dem schwarzen Muttermarkt beendet werden. Vor Jahren hatte ich meine Meinung geändert. Als bekannt wurde, wie hoch die Selbstmordrate bei den Mietmüttern war. Ich hatte mit Dutzenden gesprochen, fast alle waren psychisch zerbrochen, selbst die, die jetzt Familie hatten und ein eigenes Kind. Kaum eine hatte es verkraftet, Kinder zu bekommen und wegzugeben, viele waren dem Alkohol oder den Drogen verfallen. Aber Maud war anders. Bestimmt keine Drogenabhängige. Nicht einmal Alkoholikerin.

»Das ist doch nicht alles«, sagte ich.

»Raten Sie, wie oft ich schwanger war.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Sie würden es nie erraten. Über dreißigmal.«

»Das, das verstehe ich nicht«, stotterte ich.

»Das ist auch kaum zu verstehen. Kaum zu glauben.« Sie kippte den Wein in einem Zug hinunter. »Im Dienste der Wissenschaft.«

»Der Wissenschaft?« fragte ich fassungslos.

»Sie glauben mir kein Wort, was? Aber es ist die Wahrheit! Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich weiß nicht, wie viele Kinder ich in diese erbärmliche Welt gesetzt habe. Vierzig, fünfzig, sechzig? Es waren viele Mehrlingsgeburten dabei.« Sie stand auf, zog ihren Kittel hoch. Ihr Bauch war voller Narben. Gerade, feine, gut verheilte Operationsnarben, die sich dicht nebeneinander vom Slip zum Nabel zogen.

»Kaiserschnitt«, sagte sie, »siebzehnmal. Die anderen habe ich normal geboren. Normal!« Sie ließ den Kittel fallen, spuckte aus. »Pervers ist es. Widerlich. Unerträglich. Ein Alptraum. Jede Nacht habe ich Alpträume. Ich nehme die stärksten Schlaftabletten, und trotzdem, Herb, spätestens am Morgen erinnere ich mich an meine Träume. An die großen Augen, die traurigen, hilflosen Gesichter, die mich anstarren und ›Mutter‹ schreien. Ich weiß, das sind nur Ausgeburten meiner Phantasie. Man hat dafür gesorgt, daß ich nie eines der Kinder zu Gesicht bekam.« Sie schwieg unvermittelt, ließ sich ins Gras fallen, schüttelte traurig den Kopf. Mit einem Schlag sah sie wie eine alte Frau aus. »Monster«, murmelte sie. »Wahrscheinlich waren es allesamt Monster.«

»Bitte, beruhigen Sie sich, Maud.« Ich legte die Hand auf ihren Arm.

Eine Verrückte? Aber da waren die Narben. Ich wartete, bis sie wieder ruhiger atmete.

»Warum«, fragte ich dann, »warum haben Sie nicht aufgehört?«

»Weil ich nicht konnte.« Sie lachte bitter. »Ich fühlte mich ja wohl, sauwohl. Solange ich schwanger war. Die Pause nach der Geburt war entsetzlich. Ich habe die Ärzte angebettelt – ich war nur glücklich, wenn ich schwanger war, verstehen Sie?«

»Nein.«

»Man hatte mich so konditioniert! Schon als Frank mich zum Arzt brachte, um meine Tauglichkeit untersuchen zu lassen – das weiß ich heute, damals hatte ich keine Ahnung. Ich wunderte mich nicht einmal, daß ich einen Fünfjahresvertrag bekam, ich unterzeichnete ihn, als wäre das schon immer mein sehnlichster Wunsch gewesen. Ich bin Frank sogar um den Hals gefallen vor Glück. Noch am gleichen Tag brachte er mich in das Institut.«

»Ein Institut?«

»Ich dachte zuerst, es sei ein Sanatorium. Oder ein Hotel. Traumhaft, wie im Film: eine riesige Halle mit Palmen, ein erstklassiges Restaurant, Spielzimmer, Sauna, Schwimmhalle und Swimmingpool, eine große Bibliothek und Videothek, ein herrlicher Park, ich bekam ein helles, freundliches Appartement, das ich mir selbst einrichten durfte – wir sollten uns ja wohl fühlen.«

»Es waren noch mehr Frauen dort?«

»Zwanzig bis dreißig, das wechselte. Ich blieb am längsten von allen, ich war besonders geeignet.«

»Durften Sie das Sanatorium verlassen?«

»Ich wollte nicht. Sobald ich das Tor hinter mir ließ, bekam ich panische Angst. Ich mußte schnell wieder zurück.« Sie richtete sich auf, sah mich an. »Fast dreißig Jahre habe ich dort verbracht.«

»Haben Sie in diesem ›Institut‹ gearbeitet?«

»Das durften wir nicht. Wir durften den Komplex nicht einmal betreten. Wir hatten auch kein Bedürfnis danach. Wir blieben in unserem Bereich. Nicht einmal neugierig waren wir, haben nie miteinander darüber gesprochen. Es war, als existierte das andere überhaupt nicht, dabei lag der Komplex nur ein paar hundert Meter entfernt.«

»Was haben Sie denn die ganze Zeit getan?«

»Gefaulenzt, das sagte ich doch. Es gab nur wenige feste Termine – Untersuchungen, Gymnastik, die Essenszeiten –, sonst konnte man tun und lassen, was man wollte. Sie haben es ja gemerkt, ich habe viel ferngesehen. Und gelesen. In den ersten Jahren habe ich mein Abitur nachgemacht im Fernkurs, dann sogar studiert, Germanistik, Romanistik, Geschichte, Elektronik, nichts zu Ende; ich hatte ja Angst, zu den Prüfungen zu fahren.«

»Bekamen Sie Besuch?«

»Wen denn? Frank? Ich habe ihn nie wiedergesehen.«

»Und die anderen Frauen?«

»Auch nicht. Das waren alles Frauen wie ich, ohne Anhang, ohne Familie. Ich weiß auch nicht, ob man Besucher eingelassen hätte.«

»Das Gelände war abgeschlossen?«

»Rundum zog sich eine hohe Mauer mit einem Drahtgitter darauf, vermutlich war es elektrisch geladen, vor der Mauer ein breiter, immer frisch geharkter Streifen, den man nicht betreten durfte.«

»Innen oder außen?«

»Auf beiden Seiten.«

»Elektronische Alarmanlagen, Infrarotstrahler?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wachen, Patrouillen?«

»Vielleicht draußen. Ich kenne nur die Wachen am Tor.«

»Uniformierte? Was für Uniformen trugen sie? Waren sie bewaffnet?«

»Ich glaube nicht. Es waren freundliche ältere Männer in dunkelgrauen Anzügen – ich merke, Sie wissen längst, was für ein Institut das war, nicht wahr?«

Ich sagte nein, alles wehrte sich in mir gegen meine Vermutungen. Nichts als Ausgeburten einer krankhaften Phantasie, wehrte ich mich, Spinnereien einer Geistesgestörten, die zu viele Horrorfilme gesehen hat und sich nun damit identifiziert. Wie oft schon waren Leute mit verrückten, absurden, entsetzlichen Geschichten an uns herangetreten, die unbedingt in FOKUS entlarvt werden müßten, und fast immer hatten sie sich als Phantasieprodukte herausgestellt. Fast. Und Maud war nicht zu mir gekommen …

»Ja«, sagte sie, »in diesem Institut werden genetische Experimente gemacht. Genmanipulation am Fötus. Wir waren nur dazu da, sie auszutragen. Lebende Gebärmaschinen. Eine künstliche Gebärmutter gibt es ja noch nicht.«

»Wo«, sagte ich, »wo soll das gewesen sein?«

»Irgendwo in Europa.«

»Genmanipulation ist überall in Europa verboten, alle Staaten haben die UN-Konvention unterzeichnet.«

»Wäre es das erste Mal, daß etwas verboten ist und trotzdem heimlich getan wird?« fragte sie zurück. »Wie oft haben Sie in FOKUS …«

»Wo?« unterbrach ich sie hart. »Sagen Sie mir, wo dieses Institut sein soll.«

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Frank muß mir ein Schlafmittel gegeben haben, bevor er mich hinbrachte, ich wachte erst auf, als wir schon vor dem Portal standen.«

»Und als Sie das Institut verlassen haben – wie? Wieder unter Betäubung?«

»Nein, aber nachts und im Kofferraum eines Autos.«

Ihre Story wurde immer wilder. Und unglaubwürdiger. »Dann beschreiben Sie mir die Landschaft, das Klima. In welcher Sprache wurde dort gesprochen, welche Fernsehprogramme haben Sie empfangen, welche Zeitungen bekommen? An welchen Universitäten wollen Sie Ihre Fernstudien gemacht haben, wenigstens das werden Sie doch wissen, oder?«

»Sie glauben mir nicht.«

»Nein.«

»Ja«, seufzte sie, »ich habe keine Beweise.«

»Was ist mit dem Vertrag, den Sie unterschrieben haben wollen?«

»Der ist dort deponiert.«

»Ihr Honorar natürlich auch?«

»Nein«, sagte sie wütend. »Zumindest sollte es auf ein Konto in der Schweiz überwiesen werden. Ich habe nie versucht, etwas abzuheben. Weil ich doch heimlich verschwunden bin und …«

»Und was?«

»Hören Sie, Herb, Sie müssen mir nicht glauben. Lassen wir es, ja?«

Daß sie jetzt plötzlich aufgab, irritierte mich. Das war nicht der Punkt, an dem ein Simulant aufgeben würde. War doch etwas an ihrer Geschichte? Immer wieder flammten Gerüchte über Geheimkliniken auf, in denen mit menschlichem Genmaterial manipuliert würde, über Experimente mit den ›freien Embryonen‹, die bei den legalen Retortenbabys abfielen und nicht, wie vorgeschrieben, vernichtet würden, abenteuerliche Gerüchte von Monsterzeugungen, von Versuchen, Supermenschen zu züchten. Oder das Gegenteil: Paramenschen, menschliche Roboter. Science Fiction-Stories. Wie so viele Reporter war auch ich einmal einem derartigen Gerücht nachgegangen und hatte wie alle anderen nichts gefunden. Was nichts besagen mußte. Die Techniken waren ausgereift, Genchirurgie, Oozytengewinnung, In-vitro-Befruchtung, Embryotransfer … in jedem Tierzuchtinstitut wurde das täglich praktiziert, an jeder medizinischen Fakultät gelehrt. Menschenzüchtung war längst kein technisches Problem mehr, nur noch ein moralisches und rechtliches. Wie hatte Dr. Lederer, einer der namhaftesten Genchirurgen Europas, in meinem Interview gesagt?

»Wir tun es natürlich nicht, aber es bleibt eine ungeheure Versuchung. Gott spielen. Den Menschen verbessern. Der Mensch ist wahrlich unvollkommen konstruiert. Was ist das eigentlich: der Mensch? Es gibt keine exakte Definition. Kann es auch nicht geben. Die Spannweite reicht doch vom olympischen Athleten bis zum Spastiker, vom Steinzeitmenschen im Dschungel bis zu Genies wie Einstein. Wir haben uns so entschieden, aber werden spätere Generationen auch darauf verzichten, den Menschen neu zu entwerfen?«

Vielleicht war längst jemand der ›ungeheuren Versuchung‹ erlegen? War es nicht immer so gewesen, daß das technisch Machbare eines Tages auch getan wurde?

»Ich möchte Ihnen ja glauben, Maud«, lenkte ich ein, »aber da bleiben ungereimte Dinge, Fragen – Sie müssen Ihren Vertrag mit einem Partner abgeschlossen haben, mit wem? Wie können diese Leute sicher sein, daß keine der Frauen ausbricht und den Skandal publik macht? Oder nachdem sie, wann auch immer, aus dem Institut entlassen werden? Wie erklären Sie sich das? Man hat Ihnen sicher die Kontonummer in der Schweiz genannt, verraten Sie mir die Bank und Nummer, das wäre der Anfang einer Spur, vielleicht ein Beweis. Warum schweigen Sie?«

»Stimmt, ich habe mir alles nur ausgedacht«, sagte sie müde. »Ich denke mir oft Geschichten aus. Um die Wahrheit zu sagen, Herb, ich habe die dreißig Jahre in einer Heilanstalt verbracht.« Sie verzog ihr Gesicht zu einem dümmlichen Grinsen und begann vor sich hin zu trällern. »Lalala, dadada …«

Man kann nicht so lange in meinem Beruf erfolgreich sein, ohne eine Menge von Körpersprache und Physiognomie und Psychologie zu verstehen. Ihre Hände und Füße verrieten sie. Maud hatte die Zehen eingekrallt, die Hände gefaltet, die Knöchel traten weiß hervor, so preßte sie ihre Finger.

»Spielen Sie mir nichts vor«, herrschte ich sie an. »Sie sind ebensowenig verrückt wie ich, Maud. Ich glaube Ihnen, man hat Sie unmenschlich mißbraucht. Ihre Geschichte ist ungeheuer, sie muß an die Öffentlichkeit. Wollen Sie immer noch behaupten, das wäre keine Story für FOKUS?«

»Wollen Sie etwa behaupten, FOKUS würde das bringen?« fragte sie zurück. »Das ist selbst für Sie zu groß, Herb. Sie haben vorhin gesagt, ich würde ständig in Angst schweben. Ja. Aber Sie müßten mit Todesängsten leben, sobald Sie mit den Recherchen beginnen. Denken Sie an Richards.«

Richards war einer meiner Mitarbeiter gewesen, sein Fall hatte Schlagzeilen gemacht. Er glaubte, bei seinen Recherchen über Genchirurgie auf geheime Forschungen für biologische Waffen gestoßen zu sein. Innerhalb von zwei Tagen war er buchstäblich zerfallen. Zellauflösung. Ein Zufall, eine erstmals aufgetretene Virusmutation? Es wurde nie geklärt, obwohl wir sogar das kriminaltechnische Institut der Sorbonne einschalteten. Alle Welt vermutete, daß er versucht hatte, einen Beweis an sich zu bringen und dabei verunglückt war. Oder ermordet. Wir bekamen nicht einmal heraus, wo Richards sich am Tag vor seiner Erkrankung aufgehalten hatte.

Vielleicht hatte Maud recht, und die Story war ein paar Nummern zu groß. Wenn es dieses Sanatorium und das Institut gab, dann mußte es ein ausgedehnter, hermetisch abgeschlossener Komplex sein, wie ihn nur eine Armee oder ein Geheimdienst unterhalten konnte. Oder einer der Multikonzerne, und die würden ebenso skrupellos jeden, der in ihre Karten gucken wollte, abservieren. Wenn möglich, mit Ablenkung oder Bestechung, aber in diesem Fall würden sie auch vor Mord nicht zurückschrecken. Trotzdem, ich mußte wenigstens wissen, woran ich war.

»Verraten Sie mir die Kontonummer«, forderte ich noch einmal. Ich kannte jemand bei einer Schweizer Bank, der unauffällig prüfen konnte, ob es das Konto gab. Nach dreißig Jahren mußte eine beachtliche Summe darauf liegen.

Maud blickte mich kopfschüttelnd an. »Ich fürchte, Sie wären tatsächlich imstande, sich an die Story zu machen. Nein, Herb. Lassen Sie es so, wie es ist. Bitte. Ich lebe. Nicht gut, aber auch nicht schlecht, ich bin zufrieden. Ich kann den Leuten ein wenig Freude bringen. Sie haben selbst erlebt, wie sie gelacht haben, den Alltag für ein paar Minuten vergessen – ich flehe Sie an.«

»Okay«, sagte ich, »ich kann Sie nicht zwingen. Aber ich bin jetzt überzeugt, daß Ihre Geschichte wahr ist. Und ich verstehe, daß Sie nach all den Schwangerschaften eine tiefe Sehnsucht nach einem Kind haben, daß Sie diese Kasperlepuppe unbedingt stehlen mußten …«

»Gar nichts verstehen Sie!« Sie sprang auf. »Kommen Sie mit.«

Sie lief mir voraus in den Wohnwagen. Da lag das Kasperle. In einem Babykorb. Im ersten Augenblick erkannte ich es nicht wieder, es lag auf der Seite, bis zum Kinn zugedeckt. Ohne die bunte Mütze, mit schwarzen Locken auf dem Kopf, und ohne die kugelrunden Apfelbäckchen, auch seine Nase war nicht mehr purpurrot. Und es atmete! Drehte sich auf den Rücken.

»Verstehst du jetzt?« flüsterte Maud. »Ich muß ihn doch beschützen, er ist so klein, so hilflos.«

»Dein Sohn?«

Sie nickte, versuchte zu lächeln. Erbarmungswürdig hilflos, verzweifelt, Tränen liefen über ihre Wangen, ich mußte sie in den Arm nehmen und ihren Kopf, ihren Rücken streicheln. Sie drückte sich an mich, ihre Hände umklammerten meine Schultern. Sie weinte sich aus, während ich in den Babykorb starrte, auf das friedlich schlafende Kasperle. Ein Baby mit dem Gesicht eines Sechsjährigen und der Nase eines Erwachsenen. Ein Monster? Vielleicht sogar ohne Beine? Ein von skrupellosen Wissenschaftlern künstlich gezeugter Däumling? Kasperle gähnte im Schlaf, schmatzte unruhig.

»Komm, wir wollen ihn nicht wecken.« Ich zog sie zur Tür. Wir setzten uns in den Schatten des Waldrandes.

»Ich schwöre es«, sagte ich, »ich werde nichts tun, was euch schaden kann, aber jetzt muß ich unbedingt auch noch den Rest der Geschichte erfahren.«

Sie sah mich an. »Darf ich dich einmal küssen?«

Es blieb nicht bei dem ersten scheuen Jungmädchenkuß. Vor zwei Minuten noch hatte ich in Maud nichts anderes gesehen als eine Frau mit einem Geheimnis, das ich unbedingt ergründen mußte, jetzt schien nichts selbstverständlicher, als daß wir uns liebten. Dann lagen wir still nebeneinander, Maud atmete schwer.

»Ich hatte es längst vergessen«, flüsterte sie. »Nicht einmal mehr geträumt habe ich davon. Und nun bin ich eine alte Frau.«

Ich protestierte. Als ich mich aufsetzte, zog sie den Sari über ihren Bauch. Die Brüste bedeckte sie nicht. Wunderschöne volle Brüste. Dazu eine makellose Haut – welch Gegensatz zu ihrem Gesicht. Ich sagte ihr, daß ich schon lange nicht mehr so schöne Brüste, eine so glatte Haut gestreichelt hätte, und sie lächelte glücklich.

»Vielleicht haben das die vielen Schwangerschaften bewirkt«, meinte sie. »Und dabei habe ich nur einmal mit einem Mann geschlafen. Drei Wochen lang, damals …« Sie weinte wieder.

An diesem Abend, in dieser Nacht, vertraute sie sich mir rückhaltlos an. Nicht weil wir miteinander geschlafen hatten: Weil ich seit Jahren der erste war, mit dem sie sich unterhielt, offen sprechen konnte, der zweite Mensch überhaupt. Ich ließ Traunstein und Weißenbacher sausen; was war radioaktiver Schnee auf der Zugspitze gegen diese unglaubliche, ungeheure Geschichte. Ich ließ Maud sprechen. Und schweigen. Drängte nicht. Stellte nur Fragen, wenn sie den Faden verlor. Ich wußte, jetzt würde ich alles von ihr erfahren. Aber viele Fragen konnte sie nicht beantworten.

Was aus den Kindern wurde, zum Beispiel. Wurden sie bald nach der Geburt umgebracht, fristeten sie noch eine Weile ihr Leben im Institutsbereich? Maud hatte all die Jahre kein Kind zu Gesicht bekommen – sobald die Preßwehen einsetzten, wurden die Geburten unter Narkose fortgesetzt –, hatte sich damals auch nie Gedanken darüber gemacht!

Sie hatte keine Ahnung, was aus den Frauen geworden war, die während ihrer Zeit aus dem ›Sanatorium‹ ausschieden, sie wußte so wenig von ihnen, daß es unmöglich gewesen wäre, auch nur eine wiederzufinden. Lebten sie überhaupt noch? Wenn, dann sicher ohne sich zu erinnern, daß man sie als Gebärmaschinen mißbraucht hatte.

Anfangs vermutete ich, daß man die Frauen unter irgendwelche Pharmadrogen gesetzt hatte, doch Maud sagte, sie hätten nicht einmal Bier oder Wein trinken oder rauchen dürfen, Medikamente habe es nur im äußersten Notfall gegeben, gesund leben sei das oberste Gebot gewesen. Das leuchtete mir ein. Drogen hätten möglicherweise die Forschungsergebnisse beeinträchtigt. Die Plazenta ist durchlässig, das sieht man an den vielen süchtig geborenen Kindern von Drogenabhängigen. Tamara, die Ärztin, die Maud half, hatte ihr erklärt, man habe sie unter einer Art Hypnose gehalten.

Ich habe eine Reihe von Experten befragt, natürlich ohne zu verraten, warum ich mich dafür interessierte; alle erklärten übereinstimmend, es sei möglich, geeignete Menschen auch über lange Zeit hypnotisch zu konditionieren, ihnen einerseits Tabus und Zwänge aufzuerlegen und sie andererseits sogar in die abwegigsten Glücksgefühle zu versetzen, ihnen einen erfundenen Lebenslauf zu suggerieren. Hypnose würde erklären, warum Maud sich nur glücklich fühlte, wenn sie schwanger war, warum ihr naheliegende Gedanken gar nicht erst in den Sinn kamen, warum sie Angst hatte, das Gelände zu verlassen … Und warum diese Leute nicht befürchteten, daß die Frauen den Skandal publik machen könnten, sie sogar entlassen durften, beispielsweise mit der Vita, sie hätten die ganze Zeit in einer Heilanstalt verbracht.

Die Kanzlei, mit der Maud den Vertrag abschloß, hat existiert, aber als ich mich für sie interessierte, war sie schon seit einiger Zeit aufgelöst. Ohne eine Spur zu hinterlassen. Nicht einmal mehr die Putzfrau konnte ich auftreiben. Auch das Konto in der Schweiz hat es gegeben. Einen Tag nach Mauds Verschwinden wurde es eingerichtet, ein disponibles Konto jener Kanzlei. Ich bin sicher, es sollte nur als Falle dienen. Drei Monate später wurde es wieder aufgelöst. Ich denke, daß man sich entschlossen hatte, nicht länger nach Maud zu suchen. Was hätte sie auch verraten können? Wer hätte ihr geglaubt? Ohne Beweise – von Kasper wußte ja niemand.

War ein Fehler unterlaufen, hatte man Maud schon zu lange konditioniert? Während ihrer letzten Schwangerschaft ließ der hypnotische Druck nach, im achten Monat, sie begann, sich für das wachsende Kind zu interessieren, schmiedete Pläne für die Zeit nach der Geburt, stellte der Ärztin Fragen, die sie nicht einmal denken durfte …

Ich kann nur vermuten, warum Tamara – bleiben wir bei diesem Namen – sich so verhielt. Warum sie keine Meldung über das ›abweichende Verhalten‹ ihrer Patientin machte. Tamara wußte zu diesem Zeitpunkt schon, daß sie unheilbar an Krebs erkrankt war. Ich vermute, daß der ständige Gedanke an den unbarmherzig näher rückenden Tod sie dazu brachte, über das nachzudenken, was sie dort tat, jahrelang getan hatte; vielleicht wurde sie schon lange von Gewissensbissen gequält und sah nun, da sie ohnehin aus dem Institut ausschied, eine Chance, wenigstens einmal etwas gutzumachen. Soviel ist sicher: Sie löste Maud völlig aus der Konditionierung, isolierte sie unter einem Vorwand, half ihr, mit der neuen Situation fertig zu werden, tauschte dann das Neugeborene gegen einen anderen Fötus aus, fälschte die Unterlagen, täuschte eine Nullschwangerschaft vor und schmuggelte die beiden aus dem Institutsgelände. Offensichtlich hat niemand Tamara verdächtigt, etwas mit Mauds Verschwinden zu tun zu haben, niemand suchte sie auf; nach ein paar Wochen befreite Tamara die beiden aus ihrem Versteck auf dem Dachboden. Fast drei Jahre haben Maud und Kasper bei ihr gelebt, bis kurz vor Tamaras Freitod.

Tamara war es auch, die die Idee mit dem Kasperletheater hatte. Die beiden mußten ja ohne Hilfe leben können, und Kasper, das war längst klar, würde nie wachsen, ihm fehlten zwei Wachstumsfaktoren der Gruppe IGF, Hormone, die noch nicht synthetisch gewonnen werden konnten.

»Wir haben immer wieder überlegt«, sagte Maud, »die Idee mit dem Kasperle schien uns die einzig mögliche. Und es hat ja auch geklappt. Schon über ein Jahr. Ich bin sicher, niemand sucht mich mehr.«

»Aber jeden Tag kann jemand über das Kasperle stolpern. So wie ich. Zuerst dachte ich nur, du wärst eine besonders begabte Bauchrednerin.«

»Die Nummer ist gut, nicht wahr?«

»Perfekt. Eure witzigen Dialoge, Kasperles schlagfertige Antworten.«

»Alles einstudiert. Er ist nicht sehr intelligent, weißt du. Er kann zwar sprechen, aber er hat Schwierigkeiten, selbständig zu formulieren. Auswendiglernen ist kein Problem für ihn, er kann alle meine Lieblingsgedichte.«

»Aber dann«, sagte ich, »als er jonglierte …«

»Ja, ich hätte es ihm nicht erlauben dürfen. Aber er hat so sehr gebettelt, er ist so stolz darauf, ich konnte einfach nicht mehr widerstehen.« Sie seufzte. »Ich werde ihm beibringen müssen, daß er es nicht mehr darf, dann kann nichts passieren. Ich habe eine Lizenz – Tamara hat sie mir beschafft. Auch unverdächtige Papiere, den Wohnwagen – sie hat uns hierhergebracht.«

»Weil Kasper nur deutsch spricht?«

»Das auch. Vor allem aber ist es weit weg von dort.«

Maud konnte nicht verraten, wo das Institut lag. Sie konnte mir kaum einen Hinweis geben, obwohl ich sie nach allen Regeln meiner Kunst ausfragte. Dem Klima nach irgendwo in der Nähe des Mittelmeeres. Seit nahezu alle Programme via Satellit übertragen werden, ist Fernsehen kein Kriterium mehr, Zeitschriften und Bücher konnte sie nach Belieben bestellen, ihre Fernstudien hatte sie sowohl an französischen wie deutschen Hochschulen betrieben, die Ärzte sprachen deutsch oder französisch mit ihr, ebenso das Personal, aber Maud glaubte, daß sich die Kellner und Hilfskräfte, soweit sie nicht aus Asien stammten, untereinander auf spanisch oder portugiesisch verständigten. Oder sizilianisch?

Wir sprachen bis tief in die Nacht, nur einmal wurden wir unterbrochen, aus dem Wohnwagen rief es: »Mama, Mama!«

Maud holte den Kasper, sie trug ihn die vier Stufen hinunter, dann setzte sie ihn auf die Wiese. Er hatte Beine, wenn sie auch babyhaft kurz waren, er tollte auf eine drollige Weise durch das hohe Gras, spielte mit einem mechanischen Hund, einer Puppe, mit Bällen und Reifen, stellte sich an einen Strauch und pinkelte ungeniert, pflückte Maud einen Blumenstrauß, legte ihn aber ein Stück vor uns ins Gras.

»Er ist scheu«, erklärte Maud. »Kasper ist es ja nicht gewohnt, andere als mich in der Nähe zu haben.« Sie rief ihn. »Guck mal, Kasper, was Onkel Herb dir mitgebracht hat.«

Kasper stürzte sich auf das Essen.

»Er ist ein großes Leckermaul«, sagte Maud, und ich bereute, daß ich keine Schokolade gekauft hatte, kein Obst. Kasper wurde schnell müde; es war noch keine halbe Stunde vergangen, da verlangte er, wieder ins Bett gebracht zu werden.

»Ich weiß nicht einmal, ob er mein leiblicher Sohn ist«, sagte Maud, als sie wiederkam. »Wahrscheinlich war es das Ei einer anderen, mir ist das egal, ich habe ihn geboren. Und ich wollte ihn behalten. Wenigstens eines von vierzig oder fünfzig Kindern. Ein Däumling, ja, aber kein Monster, nicht wahr?« Sie blickte mich ängstlich an.

»Nein«, versicherte ich, »ein Junge zum Liebhaben.«

Das war nicht gelogen. Ich hatte tatsächlich diese winzige, unschuldige, bedauernswerte, mißbrauchte Kreatur in mein Herz geschlossen.


Vor drei Tagen ist Kasper gestorben, ich weiß nicht, woran. Gestern Maud. Still und friedlich. Es war, als erlösche ihr Leben, nun, da sie ihre Aufgabe erfüllt hatte. Ich habe beide in dem kleinen Park des Grundstücks begraben, das ich ihretwegen gekauft hatte, ein Grundstück, in das kein Fremder Einblick nehmen konnte, knapp eine Autostunde von den Studios entfernt. Das ist der wahre Grund, warum ich keine Beiträge mehr für FOKUS machte, mich mit der Rolle des Redaktionsleiters und Moderators zufriedengab. Ich mußte doch immer da sein für Maud, die letzte und, wie ich glaube, größte Liebe meines Lebens.

Jetzt bin ich frei, dieser vielleicht letzten, aber sicher größten Story meines Lebens nachzugehen.

Maud, so hatte ich gesagt, konnte mir keinen Hinweis darauf geben, wo die Monsterfabrik lag. Aber da waren die Bäume und Blumen, Vögel und Insekten, der Wechsel der Jahreszeiten, die Geschwindigkeit, mit der die Dämmerung hereinbrach … Dutzende von winzigen Spuren für einen geduldigen Reporter. Ich zeichnete die Gebiete, die in Frage kamen, auf einer Karte ein, und als sich eines Tages ein junger Mann bei mir bewarb, der um jeden Preis für FOKUS arbeiten wollte, schickte ich ihn los. Ich setzte ihn keiner Gefahr aus, ich wollte nur Landschaftsaufnahmen; eines Tages war es dann soweit: Maud erkannte eindeutig die Landschaft, die sie Tag für Tag aus den Fenstern ihres Appartements erblickt hatte, jene vier nicht allzu hohen Berge, die ihr immer wie zwei große M erschienen waren.

Morgen früh mache ich mich auf den Weg. Deshalb habe ich heute diese Geschichte auf Video gesprochen. Ich werde das Band, meine Recherchen und die Aufnahmen vom Kasperle bei einem unverdächtigen Menschen hinterlegen.

Wenn Sie also dieses Video, und nicht einen der sensationellsten FOKUS-Beiträge aller Zeiten zu Gesicht bekommen, dann wissen Sie, Herb Kienzle ist tot. Ich vermute, ›verunglückt‹.

Ich hoffe, ich kann wenigstens den Grundstein dafür legen, daß es dieses und ähnliche ›Institute‹ nicht mehr länger gibt.


Copyright © 1989 by Verlag Das Neue Berlin, Berlin

(erschienen in der Collection ›Die Phrrks‹ von Gert Prokop)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Das Neue Berlin, Berlin

Illustriert von Jens Prockat

Загрузка...