Ray Aldridge Klick



Das Klicken hallt durch meine Schaltkreise; die Realität strömt herein. Es ist Spätnachmittag. Das Museum ist fast leer, und ich stehe, in verblassendes Sonnenlicht getaucht, in meiner Nische. Es ist die stille Stunde des Tages, in der das leise Klirren der Waffen draußen vor den Festungsmauern erstirbt. Meine Blicke wandern vom Gang zu den beiden Touristen in mittleren Jahren, die meine Schautafel lesen. Ihre Lippen bewegen sich, formen die Worte, die mich beschreiben. Sie tragen leichte Rüstungen, wie es heutzutage fast alle Touristen tun, doch ihre Halfter sind leer; in diesen heiligen Hallen sind keine Waffen gestattet. Die Rüstungen sind modisch geschnitten, doch ein wenig verbeult und zerkratzt, als hätten die Träger eine anstrengende Reise durch den Bezirk hinter sich. Sie haben die Helme nicht abgenommen.

Sie blicken auf, doch ich habe den Blick schon abgewandt. Ich darf sie nicht gleich am Anfang erschrecken.

»Sieh dir das nur an!« sagt der Mann. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß. Seit die Klimaanlage nicht mehr funktioniert, fühle ich mich wohler; die Touristen allerdings nicht. »Man könnte ihn fast für echt halten.«

»Jon.« Sie runzelt die Stirn; sie ist eine kleine Frau, grau und unzufrieden. »Er ist echt. Er hört alles, was du sagst. Hast du denn nicht die Schautafel gelesen?« Sie funkelt ihn zornig an; eine Kunstliebhaberin, die mit einem Ignoranten geschlagen ist. »Ich glaube, du hast überhaupt nicht auf die Dinge geachtet, die wir heute besichtigt haben!«

Er errötet und nimmt aus alter Gewohnheit eine feindselige Haltung ein. »Und ob ich aufgepaßt habe.« Er schürzt empört die Lippen. »Aber du, du bist die Expertin, was?«

Er mustert mich mit kleinen Schweinsaugen und spricht mich mit lauter, aber vorsichtiger Stimme an. »Du kannst reden, oder?«

Ich antworte höflich, wie es mir mein Programm vorschreibt. »Ja, Sir, ich kann sprechen.«

Sie erschrecken, als sie meine Stimme hören. Die dröhnenden Untertöne sind für menschliche Ohren beängstigend. Die Frau weicht ein wenig zurück, ihre Kehle flattert leicht. Dann schiebt sie das Kinn vor, und ich glaube fast ihre Gedanken zu hören. Lächerlich, sagt sie sich; wie kann ich vor einer Statue Angst haben, selbst wenn sie von Nacama ist?

»Woran denkst du gerade?« fragt sie.

Das ist eine der Zwei Fragen. Die andere lautet: Weißt du, daß du eine Statue bist? Ich antworte wahrheitsgemäß, wie ich muß. »Ich dachte an deine Angst vor mir.«

Der Mann zupft die Kunstliebhaberin am Ärmel. »Ich habe genug. Ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn wir wieder im Bezirk sind. Und es ist ein weiter Weg, also laß uns gehen.«

»Bitte, Jon, sei still.« Ich bewundere ihre Entschlossenheit. Sie will einen Gegenwert für ihr Geld bekommen, obwohl sie Furcht und Widerwillen empfindet. »Ich bin nicht den weiten Weg im Panzerbus gefahren, ich habe mich nicht von Verseuchten beschießen lassen, ich habe mich nicht bei der Ankunft hier verhöhnen und ignorieren lassen, nur um umzukehren und wieder zu gehen.«

Aus langer Erfahrung weiß ich, daß sie mich gleich bitten wird, etwas in Afei zu sagen, meiner Muttersprache, wie die Schautafel so phantasielos erläutert. Doch ihre Frage überrascht mich. »Woran«, fragt sie, »denkst du, wenn niemand hier ist?«

Sie dringt bis zum Herzen der Dinge vor. Meine Reaktion ist seltsam. Trotz meiner Programmierung, trotz der Tatsache, daß sie höflicher ist als viele andere, kann ich meinen Zorn nicht völlig verbergen. »An nichts. Ich bin nirgends und denke an nichts.«

Meine Stimme schwillt an. Der Mann erbleicht, und seine zitternden Hände tasten nach dem Knopf.


Das Museum ist dunkel. Im düsteren grünen Schein der Wachlichter sehe ich meinen Freund, Sergeant Bush. Er hat mich angeklickt, wie er es jeden Abend tut. Sergeant Bush ist ein alter schwarzer Mann, der Nachtwächter dieses Gebäudeflügels.

»Wie läuft’s denn so?« fragt er, und seine altmodischen falschen Zähne glänzen fröhlich im Dunkeln. Aus irgendeinem Grund läßt er sich keine Zahnknospen setzen. Sein rundes dunkles Gesicht ist von Alter und Lachfalten tief gezeichnet. Ich bin einen Augenblick von der Zuneigung zu ihm überwältigt, zu meinem einzigen Freund Sergeant Bush.

»Wie immer, Sergeant Bush.« Ich lächle; das ist ein Ausdruck, der leicht mißverstanden werden kann. Sergeant Bush erwidert mein Lächeln. Ich vermute, daß er schon Schlimmeres gesehen hat.

»Tja«, sagt er, während er seinen Waffengurt zurechtrückt, »bleib bloß hier stehen, während ich meine Runde mache, ja?« Er kichert über seinen kleinen Scherz und schlendert den Flur hinunter.

Ich verehre Sergeant Bush mit seiner zu weiten Uniform und seiner altmodischen Prothese. Ich hocke mich auf mein Podest und genieße das Gefühl, mich unbeobachtet bewegen zu können. Ich hoffe, Sergeant Bush muß nicht für seine Freundlichkeit mir gegenüber büßen; allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wie es jemand herausfinden sollte. Er ist nachts immer allein hier; sein Job ist eine Sinekure, ein Überbleibsel aus jener Zeit, als das Museum noch keine Festung war. Das Museum wird durch die Wälle und Verteidigungsanlagen draußen geschützt, so daß in diesen hallenden Gängen keine Wachen notwendig sind.

Ich bin dankbar für die Gelegenheit, die Sergeant Bush mir gibt: Ich darf ohne Zuschauer lebendig sein, ohne Fragen und Bemerkungen, ohne ihre Blicke.

Ich denke meine eigenen Gedanken, ich kratze mir die Zehen, ich singe sogar etwas: »… wenn den reifen Früchten Flügel wachsen, will ich zur Wiege meines Volkes wandern …« Ich singe ein Lied vom Heimkehren. Aber ich habe eine schlechte Gesangsstimme, eine der wenigen Unzulänglichkeiten bei Nacamas letztem und größtem Werk. Und doch liebe ich es, ungeschickt die alten Lieder meines Volkes zu brummen. Vielleicht ist das Fehlen einer schönen Stimme doch kein Irrtum. Große Kunst muß paradox sein; das sagen wenigstens manche Kritiker, wenn sie vor mir stehen. Die mutigeren oder zänkischeren Kritiker jedenfalls; die meisten aber, glaube ich, schalten mich aus, bevor sie Nacamas Philosophie oder die tiefere Bedeutung seines Werkes zu begreifen beginnen. Ich verstehe ihre Vorsicht, denn schließlich könnte ich ihnen widersprechen. Doch sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich sie in der Öffentlichkeit bloßstelle. Meine Programmierung verbietet mir strikt jede öffentliche Selbstanalyse. Nacama glaubte, daß man ein Kunstwerk zerstört, wenn man es zu zerlegen versucht, und deshalb bin ich fugenlos glatt.

Sergeant Bush schert sich einen Dreck um Kunst, wie er mir selbst gesagt hat. Er nimmt mich, wie ich bin. Wahrscheinlich glaubt er es einfach, zumindest nachts, wenn er mit mir allein ist; er nimmt einfach die Lüge hin, daß ich von einer anderen Welt gekommen wäre, von einer Welt mit lavendelfarbenen Sandstränden und trägen roten Meeren.

Manchmal reden wir stundenlang, er über seinen nichtsnutzigen Enkel, ich über die Heimat. Die Erinnerungen scheinen so frisch, so real. Natürlich weiß ich, daß die Heimat, an die ich mich erinnere, nur in der fiebernden Phantasie von Paolo Nacama existierte.

Sergeant Bush kehrt gerade von seiner Runde zurück. Er setzt sich schwer auf die niedrige Bank vor meinem Podest. Er zieht ein graues Taschentuch hervor und wischt sich die Stirn ab, die hart ist und glänzt wie ein Schildkrötenpanzer. »Das wird jede Nacht schlimmer, Curly.«

Er nennt mich Curly; warum, das hat er mir nie erklärt. In Wirklichkeit heiße ich Klatu – Klatu der Schnelle.

»Du solltest nicht so schwer arbeiten.« Ich will ihm mein Mitgefühl zeigen, doch er lacht.

»Keine Sorge, Curly. Das ist der leichteste Job, den ich je hatte. Ich habe es mir einfach angewöhnt, mich zu beklagen.« Er zieht liebevoll eine flache, silberne Flasche aus der Hemdtasche und nimmt einen großen Schluck. »Das Zeug wird mich noch umbringen.« Er verkorkt die Flasche und steckt sie weg. »Ich würde dir auch gern einen Schluck anbieten, Curly. Du siehst aus, als könntest du einen vertragen.«

»Deine Gesellschaft reicht mir völlig aus, Sergeant Bush.« Ich warte, bis er wieder das Wort ergreift. Meine Programmierung erlaubt es mir kaum, ein Gespräch zu beginnen. Sergeant Bush meint, daß er genau aus diesem Grund unsere Gespräche besonders genießt. Wenn er will, kann er mich reden hören, oder er kann sich entschließen, nur dem Klang seiner eigenen Stimme zu lauschen. Er meint, ich wäre ein Segen für einen geschwätzigen alten Mann.

»Dafür, daß du so gräßlich aussiehst mit deinen drei Metern Größe und den ganzen Schuppen, dafür bist du gar nicht so übel, Kumpel. Ganz anders als mein verdammter Enkel, dieses Aas. Der ist nicht nach seinen Eltern geschlagen.« Er lacht wieder, ein schweres, fröhliches Geräusch ohne bösen Unterton.

Eigentlich sind es gar keine Schuppen; es sind nur Rillen in meiner Haut. Wenn ich Blut hätte, wäre es warm und rot. In schlechtem Licht könnte ich als ungewöhnlich großer und muskulöser und leicht mißgestalteter Mensch durchgehen, wären da nicht meine harten Panzerschalen und die einziehbaren Krallen an den vier Extremitäten. Meine Gliedmaßen und mein Brustkorb sind größer als bei einem Menschen; ich gehöre einer jagenden Rasse an.

Aber es stört mich nicht, wenn Sergeant Bush einen Scherz macht. Um ihm meine Belustigung zu zeigen, lächle ich und entblöße meine zwölf Zentimeter langen Eckzähne. Ich würde ja lachen, aber Sergeant Bush meint dann, daß sein Hörgerät pfeift. Er benutzt dieses schmutzige alte Ding aus reinem Starrsinn, doch gerade dadurch wird unsere Freundschaft möglich. Das abgenutzte alte Gerät überträgt die Töne so ungenau, daß die furchterregenden Untertöne meiner Stimme herausgefiltert werden. Ich bin dankbar für seine Dickköpfigkeit.

Er nimmt wieder einen großen Schluck aus der Flasche, die wie durch Zauberei erscheint und verschwindet. Dann beginnt er, gemächlich von den letzten Schandtaten seines Enkels zu berichten. Ich lasse mich auf meine Klauen nieder und höre nur mit halbem Ohr zu. Ich grunze in angemessenen Abständen ungläubig, und mehr verlangt Sergeant Bush auch nicht von mir. Ab und zu drückt Sergeant Bush auf meinen Knopf. Das Museum hat die Aktivierungskreise mit einer Zeitschaltuhr versehen, damit ich nicht vorzeitig verschleiße. Wenn der Knopf nicht alle fünfzehn Minuten gedrückt wird, schalte ich mich aus. Meine Stromkreise können nicht mehr repariert werden, wenn sie zerfallen sollten, und das wird eines Tages sicher geschehen. Das Museum will natürlich, daß ich so lange wie möglich funktioniere.

Ich denke wie immer an die Heimat. Ich habe das Gefühl, daß ich erst gestern mit meinen Gefährten über die hellen staubigen Ebenen streifte. Wir genossen unsere Bewegungsfreiheit, das große Spiel der Jagd, die Freude des Tötens nach der langen, zehrenden Hatz. In meinen Erinnerungen spüre ich heute noch den süßen, stählernen Geschmack des Blutes unserer Nahrungstiere im Mund. Ich schüttele mich. Künstliche Erinnerungen sind immer frisch und lebendig. Nicht einmal der große Nacama konnte mir die Fähigkeit einbauen, zu vergessen. Das bleibt den wirklichen Lebewesen vorbehalten.

Jetzt erinnere ich mich wie jeden Abend an meine erste Aktivierung.

Ich erwachte, zusammengekauert auf einem Haufen schwarzer Steine, in einer Höhle mit seltsam bleichem Licht und unvertrauten Gerüchen. Ein kleiner, teigig aussehender Zweifüßler stand vor mir und beobachtete mich scharf. Ich wußte nicht, wie ich dort hingekommen war, und ich hatte Angst. Ich versuchte, hinunterzuspringen und zu fliehen. Doch zu meinem Schrecken konnte ich mich nicht über die Kante der Säule hinaus bewegen, obwohl ich keine Barriere spürte. Ich blieb lange erschrocken und zitternd stehen, bis Nacama mich ausschaltete.

Als er mich reaktivierte, war ich ruhiger; es war eine künstliche Ruhe. Nacama erklärte.

Zuerst dachte ich, ich würde verrückt, aber natürlich läßt mein Programm keine anormalen geistigen Zustände zu. Die Kapazität meiner Matrix ist begrenzt, und deshalb bin ich, wie ich bin. Dennoch fällt es mir schwer zu akzeptieren, daß ich nichts weiter bin als ein sehr gutes Produkt der Uhrmacherkunst. Ich konnte damals die Bedeutung des Wortes Kunst nicht verstehen. Ich verstehe es immer noch nicht.

In diesen ersten Tagen begann Nacama sichtlich zu verfallen. Ich selbst fühlte mich natürlich immer irrealer. »Aber das ist nicht wahr«, ermahnte er mich scharf. »Du bist genauso real wie ich, nur daß man dich mit einem Knopf abschalten kann. Du weißt gar nicht, wie sehr ich mir wünsche, auch so einen Knopf zu haben wie du, Klatu.«

Am letzten Abend in der Schmiede wirkte er wie das verblassende Zerrbild eines Mannes. Als er mich aktivierte, saß er in einem alten Schaukelstuhl und hielt einen großen Schallmeißel in der Armbeuge.

»Klatu«, sagte der große Künstler, »ich will dir etwas erklären. Zum Beispiel, warum ich dich gemacht habe, wenn mir das auch selbst nicht mehr ganz klar ist.« Er sank in sich zusammen und schlug die verwirrten, enttäuschten Augen nieder. Für einen Augenblick glaubte ich, er würde weitersprechen, doch dann desaktivierte er mich.

Die Morgendämmerung drang schon durch die hohen Fenster, als er den traumlosen Schlaf meiner Schaltkreise unterbrach. Nacama saß immer noch mit dem Schallmeißel im Stuhl, und er wirkte zugleich verfallen und begeistert. »Als ich dich machte, war ich blind«, sagte er zu mir. »Ich weiß, das bedeutet dir nichts, aber trotzdem, es war nicht böse gemeint.« Er lächelte; ein schrecklicher Anblick. »Und jetzt will ich zum letzten Mal deine Situation zusammenfassen, Klatu. Es gibt keine Heimat. Du kannst nicht hoffen, zu ihr zurückzukehren. Es ist nicht möglich. Die Heimat war meine beste Schöpfung, und nicht du, das muß ich leider sagen. Dich zu erschaffen, eine Puppe aus Plastfleisch und Sensoren, die in einem Druckfeld tanzt; nun, das hätte auch ein geringerer Künstler vermocht. Doch ich, ich habe in deinen Erinnerungen eine Welt erschaffen!«

Ich schwieg. Er hatte mir dies schon auf hundert verschiedene Weisen erklärt. Es war ein Glücksfall gewesen, sagte er, daß meine Schaltkreise flexibel genug waren, um dieses Wissen aufzunehmen, denn sonst hätte ich womöglich mein Leben in einem Zoo verbracht und wäre mir meiner Gefangenschaft nicht bewußt gewesen.

»Ich bitte dich«, fuhr er fort, »mich nicht für das zu hassen, was ich getan habe. Es war nicht böse gemeint, denn mein Ziel war die Schöpfung, und weiter habe ich nicht geblickt. Aber jetzt bin ich müde.«

»Ich hasse dich nicht«, sagte ich, »denn ich würde ohne dich nicht existieren.«

Während ich sprach, machte Nacama eine schmerzvolle und zugleich erfreute Geste, als er die Kraft seines Werkes vernahm. »Ich bin zu stolz darauf, zu stolz, um es zu zerstören«, murmelte er zu sich selbst. Ich zog mich bis zum Rand meines Podestes zurück und betrachtete aus den Augenwinkeln den Meißel. Ich hatte nicht den Wunsch zu sterben, auch wenn dieser Begriff für mich nur bedingt gültig war. Doch Nacamas Aufmerksamkeit richtete sich in diesen letzten Augenblicken seines Lebens nach innen. Er schob sich die Spitze des im Leerlauf summenden Meißels mit der kleinen, wabernden Vakuumblase in den Mund und schaltete den Drehzahlregler auf volle Kraft. Kleine Stücke seines Kopfes klatschten leise auf den Boden, und das Blut, das aus seinem Hals spritzte, trocknete in einem filigranen, roten Muster auf dem Schaukelstuhl. Bis zuletzt ein Künstler.

Ich sah vier lange Tage zu, wie das Blut langsam seine Helligkeit verlor, bis seine frühere Gefährtin eine gerichtliche Verfügung erwirkte und die Tür aufbrach und uns fand. Das war die längste Zeit in meinem Leben, die ich je aktiviert und unbeobachtet verbrachte, und heute blicke ich mit einiger Wehmut auf diese Zeit zurück. Als sie mich fanden, hätten sie mich fast erschossen, bevor sie bemerkten, daß man mich ausschalten konnte. Man sagte mir, daß ich danach lange Zeit geschlafen habe und erst erwacht sei, nachdem mich das Gericht trotz der schmerzvollen Proteste der Gefährtin dem Museum übergeben hatte.

Ich zwinge mich, die Erinnerungen zu unterbrechen. Sergeant Bush nähert sich dem Ende seiner nächtlichen Erzählung, und auch das Ende seiner Schicht ist nahe. Die Zeit scheint in den Nächten, in denen Sergeant Bush in meinem Gebäudeflügel arbeitet, sehr schnell zu vergehen. Ich stelle mich wieder in die richtige Position, damit niemand bemerkt, daß ich mich in der Nacht bewegt habe. »Es war mir ein Vergnügen«, sage ich, als er die Hand zum Knopf ausstreckt. Sergeant Bush blinzelt mir fröhlich zu und drückt drauf.


Ich erwache und sehe eine Schulklasse mit Lehrerin. Die Lehrerin ist eine hagere Frau in einem verbeulten Panzer. Sie spielt nervös mit ihrem Lähmstock herum, fest entschlossen, die Kontrolle zu behalten.

Alle beobachten mich. Kinder interessieren mich; in der Heimat gibt es keine Kinder. Diese Kinder können der Furcht widerstehen, und ihr unkritischer Glaube läßt mich manchmal vergessen, was ich bin.

»So, Kinder, habt ihr alle die Tafel gelesen? Möchte jemand Klatu eine Frage stellen? Vergeßt nicht, daß er kein richtiger Mensch ist; aber er denkt wie ein Mensch.« Ein Wald kleiner Arme erhebt sich, helle Raubtieraugen glänzen. Sie ruft einen rothaarigen Jungen nach vorn, der eine Zahnlücke hat.

»Wirst du nicht müde, wenn du den ganzen Tag da stehst?«

»Nein. Normalerweise werde ich nicht müde.«

Ein Kind mit einem verkniffenen, verschlagenen Gesicht fragt: »Wie kommt es, daß du so gut Englisch sprichst, obwohl du von einem anderen Planeten kommst?« Es kichert und sieht sich beifallheischend zu seinen Klassenkameraden um.

Ich grinse und zeige ihnen meine Zähne. Sie weichen etwas zurück, während ich antworte. »Damit ich auf dumme Fragen wie deine antworten kann.« Meine Programmierung erlaubt es mir, auf feindselige oder hinterhältige Fragen auf diese Weise zu antworten, solange ich ehrlich bin. Nacama war kein weltfremder Künstler.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Das weiß ich nicht, aber wenn du mir das heutige Datum sagst, werde ich dir antworten können.« Sie rufen mir das Datum zu, und ich sage es ihnen. »Vierunddreißig Jahre, acht Monate und elf Tage.«

»Fühlst du dich hier sicher? Es soll hier ja keine Freiläufer geben.«

»Ja, ich fühle mich sicher.« Das stimmt auch, aber wenn ich echt wäre, hätte ich vielleicht Angst. Die donnernden Explosionen sind jeden Tag deutlicher durch die dicken Mauern des Museums zu hören.

Sie gewöhnen sich an mich, und sie stellen noch viele weitere Fragen. Sie fragen mich nach der Heimat. Ob das Wetter war wie hier, ob ich sie vermisse? Nacama war ein großer Künstler; nach einer Weile bemerkt niemand mehr, daß sein Werk nur eine komplizierte Illusion ist. Sogar ich vergesse es.

Ich verliere mich in meinen Erinnerungen und lasse mich von den Kindern führen. Als ich über die fleischliche Verbindung in der Meute spreche, werden meine Libidokreise ausgelöst. Bei meiner Rasse sind die Sexualorgane bei beiden Geschlechtern innerhalb des Körpers, bis sie stimuliert werden. Die Lehrerin drückt unter schrillem Kichern auf den Knopf.


Es ist Nacht im Museum. Zum Pulsieren des Stroms in meinen Kreisen kommt nun noch das Zittern der Erregung. Sergeant Bush grinst unverbindlich. Es ist mir sehr peinlich.

»Hmm«, sagt er, »das sieht aus, als brauchtest du eine Freundin. Und ich kann nicht deine Freundin sein, Curly.«

Er lacht und schweigt. Abgesehen von einigen verstohlenen, bedauernden und nachdenklichen Blicken von Sergeant Bush vergeht die Nacht recht angenehm.


Der Strom belebt mich, und ich sehe Sergeant Bush in Zivilkleidung! Ich bin sehr erstaunt über diesen Anblick. Es ist Tag im Museum, und ich habe Sergeant Bush noch nie bei Tageslicht gesehen, in dem kalten Licht, das durch das Oberlicht über mir hereindringt. Er trägt einen karierten Overall, der meines Wissens vor etwa dreißig Jahren in Mode war. In seinem Ohr steckt ein neues, fast unsichtbares Hörgerät. Eine bemerkenswerte Frau hat sich bei ihm eingehakt. Sie überragt ihn, und sie sieht anders aus als alle Frauen, die ich je gesehen habe.

»Lucy«, sagt Sergeant Bush förmlich, »das hier ist Curly. Kümmere dich nicht darum, daß er nackt ist.«

Sie streckt unverkennbar schüchtern eine lange Hand aus. Und ich kann nicht anders, ich nehme sie einen Augenblick sanft und lasse sie wieder fallen.

Nicht nur ihre Körpergröße ist ungewöhnlich; sie ist mehr als zwei Meter groß und würde mir, wenn wir nebeneinander stünden, fast bis zur Brust reichen. Sie ist eine große Frau, aber nicht dick; das Fleisch ist auf ihren langen Gliedern gut verteilt. Sie ist geformt wie jede andere Frau. Nur die Größe ist übertrieben, und ihr Kopf ist kahl. Sie trägt keinen Panzer, nur einen kurzen Umhang aus einem glänzenden schwarzen Material, und ihre ganze Haut ist mit einem Gittermuster bemalt oder tätowiert. Ihre straffe, glatte Haut sieht damit aus wie rosafarbene Froschhaut. Sie duftet nach einem leichten, einfachen Parfüm. Auf der Schulter trägt sie ein leeres Halfter, das dem Umriß nach eine Schockwaffe aufnehmen kann.

Sie hat große grüne Augen und eine häßliche, gezackte Narbe auf dem Kiefer. Sie sieht ganz anders aus als die Frauen meines Rudels; in der Heimat würde man sie als Mißgeburt zerreißen, aber ich bin bezaubert. Meine erste private Begegnung.

»Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sage ich, und Lucy und Sergeant Bush zucken leicht zusammen. Ich stelle fest, daß es schwer ist, Höflichkeiten mit einer Stimme auszusprechen, bei deren Klang die meisten Leute eine Gänsehaut bekommen. Deshalb flüstere ich, was meiner Stimme die unangenehmsten Untertöne nimmt. »Tut mir leid«, zische ich, »es war keine Absicht.«

Sergeant Bush schielt mich an. »Warum hast du nie mit mir geflüstert, Curly?« Er hebt die Augenbrauen.

»Ich dachte, es hätte Ihnen nicht gefallen, wenn ich geflüstert hätte, Sergeant Bush.«

»Tja, du hattest wohl recht. Aber es hat sich geändert, Curly. Wir wollen in Zukunft flüstern, denn dann kann ich mein neues Hörgerät auch bei der Arbeit tragen. Lucy hier ist ein großes Mädchen, was? Und sie hat mir gesagt, daß sie große Männer mag.« Er blinzelt und schlendert davon und tut so, als wollte er sich die Kunstwerke ansehen, die er seit dreißig Jahren kennt. Und ich bin mit Lucy allein, mit der ersten Frau, die mir offiziell vorgestellt wurde.

Sie betrachtet mich ohne Verlegenheit, aber auch ohne jede schreckliche Neugierde, die ich bei jenen armen Menschen sah, die mich sexuell reizen wollten. Ich glaube, einige von ihnen waren nicht im Gleichgewicht, und andere wollten Aufmerksamkeit erregen. Und keinem gelang es, mehr als mein Bedauern zu wecken.

»Bush hat mir erzählt, daß du deine Arbeit nicht magst.« Ihre Stimme klingt voll. »Ich mag meine auch nicht.« Sie hält inne und mustert mich, als fragte sie sich, ob ich ein Streich bin, den Sergeant Bush ihr spielt, oder ob sie verrückt sei, weil sie mit einer Statue spricht.

»Nun«, antworte ich, »es könnte schlimmer sein. Ich will mich nicht beklagen.«

»Warum nicht?«

Ich zögere. »Ich weiß nicht.«

Sie setzt sich bequem auf die niedrige Bank. »Bush meinte, wir würden uns gut verstehen, Curly. Oder soll ich dich lieber Klatu nennen? Klatu der Schnelle …« Sie sagt es, als gefiele ihr der barbarische Klang meines Stammesnamens, der an der Seite meines Podestes eingraviert ist.

»Curly ist schon in Ordnung, Lucy.« Ich lächle, aber Lucy scheint keine Angst zu haben. »Ich will dir von meiner Heimat erzählen, Lucy. Ich kenne viele schöne Legenden. Ich will dir erzählen, wie Bhagg, der Gott der Dürre, die Rudelkönigin Kepela hinters Licht führte.«

Ich gebe mir Mühe, sie gut zu unterhalten. Mein Flüstern paßt gut zur Legende von Bhagg, es klingt trocken und düster und überzeugend. Sie ist eher bezaubert als entsetzt.

Bevor sie geht, bedankt sie sich höflich und verspricht, mich wieder zu besuchen, als wäre ich ein Mensch.


Sie kommt mehrmals in der Woche, und ich bin dankbar, wenn ich auch nicht weiß, warum sie kommt. Sie sitzt eine Weile bei mir, drückt auf meinen Knopf und tut so, als wäre sie eine Kunststudentin. Die Wächter der Tagschicht schicken sie nicht fort, wie sie es früher vielleicht getan hätten. Einmal kommen jetzt weniger Besucher, und außerdem gibt es draußen auf den Wällen immer wieder Notfälle, zu denen die Wächter eilen, um mit neuen Falten in den Gesichtern zurückzukehren.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, wenn sie bei mir sitzt. Ich habe viele seltsame Erinnerungen, genau wie Lucy. Ihre Geschichten sind nach menschlichen Begriffen kaum weniger bizarr als meine. Sie arbeitet in einer Bar mit Namen Slick Pit als Animierdame. Wenn ich sie recht verstanden habe, wird sie dafür bezahlt, daß sie sich auszieht. Ich halte das für einen seltsamen Beruf.

Bei ihrem dritten Besuch macht Lucy eine verblüffende Enthüllung. Sie ist eine Freiläuferin! Auf jeden Fall lebt sie draußen. Als sie mir das sagt, starre ich verblüfft zu ihr hinunter. Ich hatte mir die Freiläufer immer als kaum menschliche Monstren vorgestellt, gewiß nicht als Leute, mit denen man über seine Vorfahren sprechen kann. Sie greifen immer wieder das Museum und die Touristengruppen aus dem Bezirk an.

»Nein«, sagt Lucy, »ich bin unpolitisch.«

»Aber ist es nicht gefährlich, draußen zu leben? Ich habe schreckliche Geschichten darüber gehört, was den Menschen dort geschieht.«

»Nur den Touristen«, sagt sie, »das ist ein wichtiger Unterschied, Curly.«

Ich denke darüber nach.

»Es ist wie bei Bush. Bush ist ein Vollbürger, aber er geht oft nach draußen. Das machen viele, und sie haben ihren Spaß, wenn sie sich anpassen können wie Bush. Weißt du, Curly, dein Freund Bush ist ein verwirrter alter Mann. Man sieht es ihm nicht gleich an, aber so ist es. Doch, es ist wahr; wenn ich mich ausziehe, klatscht und brüllt er wie alle anderen alten Trottel.«

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Anscheinend hat Sergeant Bush eine Eintrittskarte für Lucy gefälscht, und ich habe Angst um ihn. Er kann seinen Job und seine Bürgerrechte verlieren, vielleicht sogar sein Leben, wenn man ihn erwischt. Doch er beruhigt mich und sagt, daß er sowieso in Ruhestand gehen will, falls nicht vorher das Museum zerstört wird. Er ist nicht gerade optimistisch. Soll doch der nichtsnutzige Enkel für ihn sorgen, sagt er. Es wäre an der Zeit, sagt er. Manchmal tut mir der Enkel etwas leid, der sich mit einem so störrischen Ahnen herumschlagen muß. In der Heimat war es üblich, die Ahnen aufzuessen, bevor sie dem Altersstarrsinn verfielen. Ich bin froh, daß das hier nicht üblich ist.

»Ich bin Sergeant Bush sehr dankbar, daß er uns bekannt gemacht hat, Lucy«, flüstere ich.

Die weiche menschliche Haut ist mir nicht mehr fremd; Lucy hat unter der weichen, fremdartigen Haut feste Muskeln. Das rosafarbene Muster war nur aufgemalt, eine Modeerscheinung außerhalb des Bezirks, die jetzt einem silberbraunen Spinnennetz gewichen ist. Lucys Vorliebe für Muster auf der Haut gefällt mir. Damit sieht sie weniger menschlich aus.

»Ich auch«, sagt Lucy. Sie lächelt freundlich. »Ich mag große Männer.«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll, denn ich bin kein Mann, und doch weiß ich, daß sie mich meint. Ich glaube, daß die Freundschaft mit Lucy, dem zweiten Menschen, mit dem ich befreundet bin, eine ganz andere Art von Freundschaft ist.

Sergeant Bush trägt nachts sein neues Hörgerät, und ich flüstere, und es geht mir gut.


Vor mir steht Doktor Harvey, der Kurator dieses Museumsflügels. Der Direktor ist bei ihm. Dr. Harvey spricht in dem unterwürfigen, schmeichelnden Tonfall, mit dem er sich immer an seine Vorgesetzten wendet. »Es ist immerhin der letzte Nacama. Viele Besucher kommen nur seinetwegen.«

Sein gleichgültiger Blick streift mich. »Hallo, Klatu«, sagt er abwesend. Ich habe nichts gegen Dr. Harvey, wenn er mich behandelt wie alle anderen; so, als wären alle nur komplizierte Puppen. Sein Desinteresse ist nicht diskriminierend.

Aber den Direktor mag ich nicht. Er hat einen verschlagenen, ungesunden Geruch.

Er ist ein schlanker, gutgekleideter Mann in mittleren Jahren. Er runzelt die Stirn und starrt eine Stelle zwanzig Zentimeter neben meinem rechten Auge an. »Ich sage ja auch nicht, daß wir das Stück beseitigen sollen. So schlecht geht es uns noch nicht. Aber es steht schon sehr lange hier, nicht wahr, John?«

»Nun, da haben Sie natürlich recht.«

Ich lausche mit wachsendem Unbehagen, doch ich kann keine unmittelbare Gefahr wittern.

Der Direktor mustert Dr. Harvey mit einem väterlichen Blick. »Ich will Ihnen was sagen«, sagt er. »Wir lagern das Stück für zwei Jahre ein. Dann werden wir eine Nacama-Retrospektive eröffnen; das wird ohnehin mal Zeit. Und Sie sollen die Leitung übernehmen, John.«

Ich denke nur: werden die Mauern des Museums noch zwei Jahre stehen?

Aber Dr. Harvey ist dankbar, und der Direktor freut sich darüber, wie geschickt er seine Macht ausgespielt hat. Sie haken sich ein und wollen gehen; Dr. Harvey langt nach dem Knopf.


Der Strom durchfährt mich, und ich lebe. Ich bin in einer winzigen Nische mit unverputzten grauen Betonwänden, die von einer einsamen gelben Birne erhellt wird. Ich krümme mich erschrocken. Mein Leben, oder jenen Teil, den ich für real hielt, verbrachte ich unter dem nördlichen Oberlicht im Museum.

Zwei mir nicht bekannte Wartungsarbeiter schieben ihren Gerätewagen durch den Flur. »Also, ich glaube, es ist alles in Ordnung, Bill. Es klang wohl schlimmer, als es war. Hat sich nur ein paar Zentimeter gesenkt. Was meinst du, Bill?«

»Das ist mir egal, Eddie. Ich will nur hier raus, bevor die Verrückten reinkommen. Ich hau ab, bevor es zu spät ist, und das solltest du auch machen.«

»Da hast du recht, Bill. Ich hab gehört, daß es in dieser Woche ein paar Mal sehr knapp war.«

»Und ob ich recht habe«, sagt der andere und drückt auf den Knopf.


Sergeant Bush weckt mich. Ich danke den Göttern – Nacamas falschem Pantheon und den wirklichen Göttern, die es geben mag. Aber ich bin immer noch in der Nische.

»Hey, Curly. Wunderst du dich nicht, mich zu sehen?« fragt er mit einem breiten gelben Grinsen.

Für mich sind seit dem Urteilsspruch des Direktors nur einige Sekunden vergangen. Ich versuche, mich trotz des künstlichen Adrenalinstoßes zusammenzunehmen. Ich richte mich mühsam auf, und mir fallen die Worte der Wartungsarbeiter ein. Aber ich kann keinen offensichtlichen Schaden feststellen.

Sergeant Bush scheint besorgt. »Hey, Curly, du siehst etwas mitgenommen aus. Alles klar?«

»Ich … ich bin schon in Ordnung, Sergeant Bush.« Ich schaudere unter den stimulierenden Impulsen. »Welches Datum haben wir, Sergeant Bush?« Die letzten Worte fallen mir schwer, denn ich muß die Sprechhemmung meines Programms überwinden, doch unter der Spannung des Augenblicks fällt es mir leichter.

Sergeant Bush klopft mir auf die Füße. »Immer mit der Ruhe, Curly, du bist erst seit zwei Wochen hier unten. He, was glaubst du, warum ich mich hier runtergeschlichen habe, obwohl ich nicht hier sein darf?«

Er verdreht die Augen und betrachtet mich amüsiert. »Lucy hat mich darum gebeten. Ich glaube, sie versteht nicht, wie es funktioniert.«

Sergeant Bush interpretiert meine Reaktion auf seine Weise. Er kichert verständnisvoll.

»Ich meine«, fährt er fort, »daß du gar nicht bemerkst, wieviel Zeit vergangen ist, wenn du wieder für die Touristen ausgestellt wirst. Aber Lucy ist ungeduldig.«

Er setzt sich auf eine Holzkiste und angelt nach seiner Flasche. »Du warst dem Mädchen ein guter Freund, Curly. Aber seit sie dich hier runtergebracht haben, hat sie schlechte Laune. Sie meint, das wäre nicht fair gewesen, wo ihr zwei euch doch so gut verstanden habt.« Er nimmt einen großen Schluck von seinem altmodischen Gift. »Ich will dir was von Lucy erzählen. Hat sie dir schon gesagt, daß sie große Männer mag? Tja, sie hat immer nur Männer gefunden, die nicht groß genug waren. Früher oder später haben sie sich alle verdrückt, wenn du weißt, was ich meine.«

»Nein.«

Er sieht mich an. »Spielt keine Rolle«, sagt er. »Es ist nur so, daß sie glaubte, sie hätte endlich einen, bei dem sie immer wußte, wo er war … kannst du mir jetzt folgen?«

»Nein.«

Er sieht mich an. »Macht nichts. Aber Lucy ist ein gutes Mädchen, manchmal wild und etwas eigenwillig, aber treu wie Gold, Curly. Es gefällt uns allen nicht, daß sie so traurig ist.«

Er reibt sich die Stirn und schweigt. Er hat es aufgegeben. Im ausgedehnten Schweigen versuche ich, Sergeant Bushs Worte zu verstehen.

Schließlich sage ich: »Es gefällt mir hier unten nicht, auch wenn ich hinterher nichts mehr davon weiß.«

»Tja«, sagt Sergeant Bush langsam, »eigentlich wollte ich dir nur sagen, daß ich in Rente gehe, Curly. Ohne dich ist es da oben nicht mehr so wie früher, und ich bin müde.« Er nimmt einen großen Schluck aus der Flasche. »Aber ich bin nicht tot, Curly. Wie würde es dir gefallen, hier auszubrechen?«

Ich bin schockiert, aber ich bin bereit.


Diesmal hat Sergeant Bush Lucy mitgebracht. Sie streckt den Arm zu mir hoch, und ich nehme ihre Hand und halte sie vorsichtig, um sie nicht mit meinen Klauen zu verletzen. Sie trägt einen Panzer und hat eine Pistole in der Hand. Sie macht ein entschlossenes Gesicht.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber Sergeant Bush, der ungewöhnlich besorgt aussieht, erklärt mir den Plan. Während er spricht, spüre ich Bewegungen, und ein halbes Dutzend Männer kommen näher und treten in die beleuchtete Nische. Es fällt mir schwer, sie mit den Menschen zu vergleichen, die ich im Museum gesehen habe. Alle haben die Narben des Alters und Narben von Kämpfen. Sie tragen die Uniformen der Wartungsarbeiter des Museums, die ihnen schlecht passen; sie haben sie hastig über ihre eigene Kleidung aus schlecht vernähten Lederfetzen gestreift. Sie sind bewaffnet; unter einem wehenden Mantel sehe ich eine Splitterkanone. Aus irgendeinem Grund tragen alle billige Perücken in dem Stil, der gerade in Mode ist. Die Luft riecht nach Angst und bösen Vorahnungen.

Der Plan ist einfach. Ich soll mit dem Müll hinauskommen. Es ist ein ungeheuer praktischer Plan, versichert Sergeant Bush mir, und ich lasse widerstrebend Lucys Hand los. Ich werde das Haus, in dem ich vierunddreißig Jahre lebte, in einem Plastiksack voller Müll verlassen. Es wird keine Schwierigkeiten geben, erklärt er mir, aber wir müssen uns beeilen. Einige der beherzteren seiner Mitverschwörer nicken ermunternd. Sie warten ungeduldig darauf, daß sie mich zusammen mit einem passenden Haufen Müll in den riesigen Plastiksack stecken können, den sie auseinanderfalten. Ich bleibe aufrecht auf dem Podest stehen, und Lucy langt nach dem Knopf.


Erfolg! Der Überfall der alten Männer auf das Museum war erfolgreich. Ich bemerkte nichts davon, doch ich wurde durch die Gänge unter dem Museum geschleppt und in einen Müllcontainer gekippt. Der Container wurde von älteren Piraten besetzt, und jetzt bin ich außerhalb des Bezirks in Lucys Wohnung untergebracht, die nur zwei Häuser vom Slick Pit entfernt ist. Hier draußen ist es anders. Ich dachte, draußen herrschte schlimmste Verzweiflung, aber dem ist nicht so. Hier tragen nur wenige Panzer, es sei denn, sie wollen den Bezirk überfallen. Diese Überfälle scheinen nicht bösartig, sondern dienen nur der Unterhaltung. Aber sie wollen das Museum niederbrennen, und das ist traurig.

Als erstes suchte Sergeant Bush einen Techniker, der den Zeitschalter meines Knopfes unterbrechen sollte. Der Techniker, ein kleiner, kantiger Mann in einem schmutzigen Overall, kam mit einer riesigen Werkzeugkiste. Er lachte, als er den Zeitschalter sah. Lucy stellte mich ab, während der Schalter entfernt wurde, aber später erklärte sie mir, daß der Techniker nicht mehr als ein paar Klemmen und ein Taschenschweißgerät gebraucht hätte, um mich zu befreien. Dann weckte er mich auf und schweißte über dem Knopf eine Verschlußplatte fest, die nur mit meinem eigenen Handabdruck geöffnet werden kann. Er wunderte sich nicht über die seltsame Situation, und er stellte keine Fragen.

Nach der Sterilität des Museums ist dies für mich eine seltsame Welt. Ich freue mich über Lucys Gesellschaft, aber abends muß sie meist arbeiten, und diese langen Abende mag ich nicht. Aber trotzdem, ich lebe.

Die Veränderung meiner Umgebung ist so gewaltig, daß ich sie erst noch begreifen muß. Tag wird zur Nacht und wieder zum Tag, und ich bin immer noch da. Allein das ist für mich schon ungeheuer wichtig.

Sergeant Bush kommt oft zu Besuch. Er ist hier draußen ein anderer Mann, aber ich bewundere ihn nach wie vor. Er sagt, das Museum hätte mein Verschwinden aus dem Lagerraum noch gar nicht bemerkt, und ich glaube, daß sie es auch nicht bemerken werden, weil das Museum irgendwann sowieso von den Freiläufern eingenommen werden wird.

Die Leute, die außerhalb des Bezirks leben, sind ganz anders als die Menschen, die mich im Museum besuchten. Viele von ihnen sind erbärmliche Geschöpfe, aber es gibt auch mächtige und starke Männer, die außerhalb des Bezirks leben, weil sie lieber frei herumstreifen. Und zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine größere Bandbreite von Menschen, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich bin keineswegs der bizarrste der Menschen hier draußen.

Manchmal sehne ich mich nach dem Vergessen, das der Knopf gebracht hat. Das geschieht aber nur, wenn Lucy arbeitet. Ich bitte sie, noch einmal den Techniker zu rufen und den Zeitschalter wieder anzuschließen und so zu verändern, daß ich ihn selbst bedienen kann, so daß ich schlafen und wach sein kann, wie ich es will.


Ich habe eine Anstellung bekommen. Das Slick Pit brauchte einen Türsteher; der letzte hat sich einer Sekte angeschlossen. Die Arbeit entspricht meinen Fähigkeiten, denn um einzutreten, müssen sich die Gäste in dem engen Flur einer nach dem anderen an mir vorbeidrängen. In meiner Schicht kommt niemand umsonst hinein.

Für ein Wesen mit meinen Behinderungen ist die Bezahlung nicht schlecht. Um die Kunden nicht zu erschrecken, hat Lucy Reißverschlüsse auf meine Haut geklebt und mich bunt angemalt und mir Schuhe und Handschuhe gegeben. Ich gelte als etwas mundfauler Werbegag. Die Besitzer des Slick Pit glauben, daß ich ein sehr großer Mann bin, der seine Kostümierung liebt. Sie fragen sich, warum ich nie das Podest mit den Maschinen verlasse. Auch hier hat der Mechaniker sehr geholfen, denn er hat mein Podest mit einem Schweber verbunden. Jetzt kann ich mich frei bewegen. Wieder ein Stück Freiheit. Lucy erzählt überall, daß ich künstliche Beine habe und daß das Podest eine Art ausgefallene Prothese sei. Sie kann hervorragend improvisieren. Niemand ist mißtrauisch geworden.

Die alten Männer, die mich aus dem Museum retteten, sind Lucy treu ergeben, und kein Sterbenswörtchen über das, was in dieser Nacht geschah, kam über ihre Lippen. Sie sind alle Stammgäste im Slick Pit; die meisten Gäste dort sind schmächtige ältere Männer, die ihr Haar in ungewöhnlichen Frisuren und Farben tragen. Sie tanzen miteinander, nicht aufgrund verirrter biologischer Impulse, sondern weil nur wenige schmächtige ältere Frauen in die Bar kommen. Lucy sagt, die Knochen alter Frauen seien brüchiger als die Knochen alter Männer, und deshalb sei das Tanzen zu anstrengend für die Frauen und Gefährtinnen der alten Männer.

Manchmal kommen auch andere in das Slick Pit, vor allem schwere junge Frauen, die ihre Weiblichkeit übertrieben zur Schau stellen. Die meisten dieser Frauen kommen aus Gründen, die ich nicht verstehe, aber ich kenne inzwischen den Geruch einer ähnlichen Gruppe, weniger gut gekleidet und aggressiver. Sie tanzen grob mit den alten Männern, so daß manche zum Knochenflicker müssen. Wenn eine von diesen Frauen vor Aufregung schwitzend an meiner Tür erscheint, dann versperre ich ihr den Weg.

Es gefällt mir, eine Anstellung zu haben. Mein Leben ist jetzt interessanter, und ich kann nach und nach Sergeant Bush auszahlen, der dem Mechaniker das Geld für meine Veränderungen vorgeschossen hat. Und ich bin stolz darauf, daß ich zu unserem Lebensunterhalt beitragen kann.

Meine Zeit mit Lucy ist schön, obwohl sie den Frauen meiner Rasse nur in der Größe entfernt ähnelt. Sergeant Bush hat uns ein Bett gebaut, das an der Wand aufgehängt ist, so daß wir uns, wenn das Podest unter das Bett geschoben wird, hinlegen und uns berühren können. Was wir dort tun, ist seltsam, aber für uns beide befriedigend.


Heute rief ich ein letztes Mal den Mechaniker. Ich will den Knopf nicht mehr haben; ich ließ ihn einen festen Deckel darüberschweißen.

Ich habe gelernt zu schlafen. Lucy wollte es mir ausreden, weil ich ein paar Jahrzehnte früher verfalle, wenn ich ständig aktiv bin. Aber einmal will ich sie nicht überleben, und zweitens habe ich gelernt zu schlafen, und das ist etwas, was mein Schöpfer nie für mich vorgesehen hatte.

Mit der Zeit werde ich auch lernen zu träumen.


Originaltitel: ›Click‹

Copyright © 1986 by Ray Aldridge

(erstmals erschienen in ›Writers of the Future II‹)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Langowski

Illustriert von Klaus Porschka

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