Kate Wilhelm O homo, o femina, o tempora



Judson Rowe starrte auf den Bildschirm, wo schwarze Linien und Zahlen und Zeichen einander über den grünen Untergrund jagten wie Fußballspieler auf einem Kunstrasen. Die letzte Gleichung erschien, und der Tanz war zu Ende. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Er drückte die Taste für den Drucker und gaffte weiter dumpf die Gleichung an, die die Schönheit und Eleganz der Wahrheit besaß. Als der Drucker durchgelaufen war, sammelte er seine Disketten und den Ausdruck ein, schaltete das Terminal aus und stand auf; jetzt erst merkte er, daß er steif geworden war und Hunger hatte und seine Müdigkeit die Vermutung zuließ, daß er mehrere Nächte hintereinander nicht geschlafen hatte.

Benommen vor Erschöpfung verließ er das Labor und ging den stillen Korridor des Mathematiktrakts entlang und hinaus in die Kälte.

Plötzlich blieb er stehen. Ein kahler Baum unterbrach das Licht einer Straßenlaterne an der Ecke; kein Mensch war zu sehen. Er hörte Schritte und drehte sich um; ein Wachmann kam auf ihn zu.

»Wie lang steht dieser Baum schon dort?«

»Welchen Baum meinen Sie?«

»Den dort.«

Der Wachmann blickte zu dem Baum, dann zu Judson und wieder zu dem Baum. »Länger als es uns beide gibt, würde ich sagen.«

»Wahrscheinlich ist er mir noch nie aufgefallen«, murmelte Judson.

»So wird’s sein. Wenn er die Blätter verliert, sieht er ganz anders aus, nicht?«

Judson wollte gerade zu der Frage ansetzen, welcher Monat sei, doch er schluckte die Worte hinunter und sagte statt dessen gute Nacht; dann bemühte er sich, den Weg zu seinem Wagen nicht im Laufschritt zurückzulegen. Als er eingestiegen war, sah er auf die Uhr: Zwei Uhr dreißig. Kein Wunder daß der Campus leer war. Er fuhr nach Hause und betrachtete alles, als hätte er es noch nie zuvor gesehen: die kurvige Straße durch den Campus, die Kreuzung, auf der es jetzt keinerlei Verkehr gab, die Vierundzwanzig-Stunden-Hamburger-Bude ohne eine Menschenseele. Er fuhr, ohne über seine Strecke nachzudenken, ohne auf Abbiegungen zu achten, ohne sich zu überlegen, welches Haus das seine war. Er hatte das Gefühl, sehr lange weggewesen zu sein.

Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, hörte er den Fernsehapparat und folgte dem Klang durch die Küche ins Wohnzimmer, wo Millie, eingehüllt in eine Wolldecke, auf der Couch saß.

»Ich bin zu Hause«, sagte er und sah sie an. Sie war hübscher als in seiner Erinnerung. Der Ton ihrer Haare wandelte sich von Gold zu einem hellen Braun, das ihr besser stand, und er hatte ihre Augen nicht so blau in Erinnerung gehabt, außerdem waren sie größer und, zumindest in diesem Moment, betrübter.

»Ich auch«, sagte sie und wandte sich wieder dem Fernsehgerät zu.

»Wie geht’s?«

»Bestens.«

»Bist du böse auf mich?«

»Natürlich nicht. Letzte Woche habe ich dir verkündet, daß ich dich wegen eines anderen Mannes verlassen werde, und weißt du noch, was du gesagt hast? ›Gut, mein Schatz. Tu alles, was du magst, Hauptsache, es macht dir Spaß.‹ Und seither hast du nicht mehr mit mir gesprochen. Du hast nicht nach unserer Tochter gefragt, nicht nach dem Stand unseres Prozesses, nicht nach der Hypothekenzahlung und nicht nach der undichten Stelle im Bad.«

»Du lieber Gott! Was für eine Tochter?«

Sie seufzte und stand auf. »Hast du während der letzten Tage überhaupt etwas gegessen? Hast du geschlafen?«

»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Millie, du nimmst mich auf den Arm, nicht wahr?«

»Na klar, ich nehme dich auf den Arm. Rühreier? Steht deine neue Theorie? Bin ich deshalb wieder sichtbar für dich?«

»Millie, es ist … Ich muß den Präsidenten oder irgend jemanden anrufen.«

»Wie Chicken Little, was?«

»Aber der Himmel fällt uns tatsächlich auf den Kopf!«

»Mit oder ohne Käse und Zwiebeln?«

Er folgte ihr in die Küche; sie nahm seine Hand und führte ihn zu einem Hocker am Eßplatz. Sie mußte ihn sanft hinunterdrücken, damit er sich setzte. Als sie ein Glas Milch vor ihn hinstellte, probierte er es, als ob er etwas Ähnliches in seinem Leben noch nicht gesehen hätte.

»Die Zeit verlangsamt sich, Millie.«

Sie schlug ein Ei auf und ließ es in eine Schüssel gleiten.

»Ich wollte es am Anfang nicht glauben. Ich habe alles sogar dutzendemale nachgeprüft. Sie verlangsamt sich.«

Sie schlug ein zweites Ei auf. »So etwas wie die Zeit gibt es nicht.« Sie schlug das dritte Ei auf. »Hast du deine Jacke im College gelassen?«

Er sah an sich hinab. Deswegen hatte er so gefroren! »Sie verlangsamt sich mit zunehmender Geschwindigkeit, und wir können nichts dagegen tun.«

Sie rührte sachte die Eier um. »Die Zeit ist ein abstrakter Begriff, den wir eingeführt haben, um über Veränderung und Dauer sprechen zu können.« Sie fügte Käse und Zwiebeln zu den Eiern, ließ Butter in einer Pfanne schmelzen, wartete, bis sie anfing zu brutzeln, dann gab sie die Eiermischung hinein. »Zeit«, fuhr sie fort, »existiert nicht als unabhängige Größe. Eine Veränderung kann schneller oder langsamer vor sich gehen, doch die Zeit an sich kann ihren Lauf nicht beschleunigen oder verzögern.«

»Und wenn sie sich in ausreichendem Maße verlangsamt hat«, sagte Judson unbeirrt, »dann wird sie schließlich vollkommen stehenbleiben.«

Sie steckte Weißbrotscheiben in den Toaster und holte die Marmelade. »Wir haben den Begriff Zeit erfunden, um über Jahreszeiten, über einen physikalischen Wandel, das Altwerden und das Sterben sprechen zu können.« Die Eier waren im gleichen Moment fertig, als die Toastscheiben hochhüpften. Es verblüffte ihn immer wieder, wie genau sie abschätzen konnte, wann die Sachen fertig waren. Sie warf beim Kochen niemals auch nur einen einzigen Blick zur Uhr. Instinkt, dachte er mit einem Anflug von Unbehagen; das hatte nichts mit der realen Zeit zu tun.

Sie stellte das Essen vor ihn hin. »Wenn nichts geschieht, gibt es auch nicht so etwas wie Zeit. Zeit ist nicht wahrnehmbar, wenn keine Veränderung stattfindet, wenn sich nichts weiterentwickelt. Sie existiert lediglich als sprachliche Größe. Wie ›Zeit ist Sein‹. Was ist das Sein? Auch so eine sprachliche Größe.«

»Mit Hilfe des Großrechners kann ich genau voraussagen, wenn sie zum Stillstand kommt«, sagte er und begann zu essen.

»Liebling, sag mir nur eins. Hast du die Quadratwurzel aus minus eins gezogen, um zu deinem Ergebnis zu kommen?«

Er nickte, da er den Mund zu voll hatte, um zu sprechen.

Sie lächelte, brach sich ein Stück von seinem Toast ab und knabberte daran herum.

»Du hättest nicht aufbleiben und auf mich warten sollen«, sagte er steif, sobald er dazu in der Lage war.

»Ich wollte aber. Ich wußte ja, daß du irgendwann nach Hause kommen würdest, hungrig, müde, frierend. Außerdem kann ich morgen früh ausschlafen. Samstag, weißt du. Kein Unterricht.« Sie war Lehrerin für englische Literatur des Mittelalters.

»Natürlich weiß ich das.«

Welcher Samstag? fragte er sich. Er blickte auf den Kalender hinter sich und sah, daß der Monat Oktober aufgeschlagen war.

»Der achtundzwanzigste«, sagte sie freundlich. »Dieses Wochenende wird die Zeit umgestellt. Müssen wir die Uhren dann vor- oder zurückstellen? Ich vergesse das immer wieder.«

»Du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen«, sagte er noch steifer.

Sie legte die Arme um ihn und küßte ihn auf die Wange. »Ich liebe dich«, sagte sie.


Eisige Regenfälle setzten ein, dann folgten Schnee und noch mehr Eis und schließlich wieder wärmerer Regen, der alles zum Schmelzen brachte. Die Bäume waren in einen blaßgrünen Schleier gehüllt, der sich langsam in ein dichtes Laubdach verwandelte, durch das das Licht nacheinander grün und golden und rot gefiltert wurde. Und schließlich blieben nur noch kahle Zweige übrig, die die fahle Beleuchtung der Straßenlaternen unterbrachen.


»Du wirst dich langweilen«, sagte Judson, während er neben Millie im großen Hörsaal des Konferenzzentrums Platz nahm. »Selbst ich finde Dukweiler langweilig.«

»Ich wollte mir diesen Vortrag um keinen Preis entgehen lassen.«

»Hast du mir wirklich zugehört, als ich meine Arbeit dort oben vorgestellt habe?«

»Du weißt doch, daß ich zugehört habe. Du hast über Ypsilon und Alpha und Omega gesprochen, und das Symbol für unendlich war da und dort auf der Tafel verstreut, und dann hast du das Ganze mit der Quadratwurzel aus minus eins multipliziert, und das Publikum klatschte Beifall. Du warst einfach großartig.«

»Es hat schon einige positive Resonanz gegeben. Man überprüft meine Zahlen noch einmal mit allen möglichen Mitteln, vom Rechenschieber bis zum Großcomputer.«

»Ich habe dir doch schon gesagt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Natürlich schenkt man dir Beachtung.«

Dukweiler wurde vorgestellt, und er begann, seine Theorie darzulegen. Während er sprach, schrieb er Zahlen und Zeichen an die Tafel. Er war kein begnadeter Redner und offensichtlich zu nervös, um seine Zuhörer auch nur anzusehen. Er spulte seinen Vortrag viel zu schnell ab, so daß Judson ihm nicht gleichzeitig folgen und die Zahlen überprüfen konnte.

Judson spürte ein Frösteln im Magen, und er beugte sich eifrig nach vorn. Als Dukweiler geendigt hatte, wandte sich Judson an Millie. »Hast du das gehört? Hast du begriffen, was dieser Idiot behauptet?«

»Es hörte sich sehr ähnlich wie dein Vortrag an, mit all den Ypsilons und Alphas und Omegas, und dann multiplizierte er das Ganze …«

»Ich weiß, was er gemacht hat!«

»Meint er, daß sich die Zeit beschleunigt?«

»Ich kann seine Ergebnisse widerlegen!«

Sie nahm ihr Strickzeug auf. »Ich glaube, die Leute dort kommen, um mit dir zu reden. Ich warte hier.«

Er verließ sie und ging in den hinteren Teil des Hörsaals. Ein Schwarm von Dukweiler-Anhängern strömte zum Podium, und eine andere Gruppe von Leuten bewegte sich langsam in seine Richtung; einige sprachen leise, einige hatten nachdenklich die Stirn gerunzelt, einige waren beim Gehen in die Beschäftigung mit ihren Taschenrechnern vertieft: Halb und halb, dachte er zufrieden, und er versuchte zu sehen, wie sich die Dinge im feindlichen Lager entwickelten. Er nickte Whitcombe zu, der als erster zu ihm kam. Während sich die anderen langsam heranschoben, unterhielten sie sich in gemäßigtem Ton und mit sorgsam ausgewählten Worten; sie standen unerschütterlich auf seiner Seite, seine Beweise und seine schlüssige Logik hatten sie überzeugt. Man mußte unweigerlich zu seiner Schlußfolgerung kommen, darin waren sie sich einig: die Zeit verlangsamte sich eindeutig, und die Entwicklung lief in eine Richtung, deren äußerst schwerwiegende Folgen sich zeigen würden.

Schließlich lösten sich die Gruppen nach und nach auf; die Zeit für Cocktails war gekommen. Die Podiumsbande führte den Zug an die Bar einer nahegelegenen Kneipe an, die andere Gruppe schlenderte etwas gemächlicher hinterher. Als Judson sich aus ihrer Mitte befreien konnte, blickte er zu Millie, die mit der Andeutung eines Lächelns um die Mundwinkel ruhig strickte. Es ist ganz gut, daß sie die durch das Zeitproblem drohenden Gefahren nicht erkennt, dachte er mit plötzlich aufwallender Zärtlichkeit.

»Wollen wir das Experiment einmal auf eine ganz andere Weise angehen?« hatte sie gefragt.

»Mit welcher Bezugsgröße?«

»Nun«, hatte sie gesagt. »Neun Monate werden uns immer noch wie neun Monate vorkommen.« Und mit dieser schlichten Feststellung hatte sie eins der großen Mysterien des Universums abgetan.

»Judson«, sagte Whitcombe in seiner gedehnten Sprechweise neben ihm. »Wir werden Ihnen eine Einladung zukommen lassen, damit Sie Ihren Vortrag drunten in Texas halten. Wir müssen uns noch darüber unterhalten, welche Zeit am besten dafür in Frage kommt, bevor hier der große Tumult losgeht.«

Judson nickte. Die Arbeit eines Lebens lag vor ihm, mehr als eines Lebens. Er lächelte Whitcombe an. »Ich komme mit Freuden«, sagte er, »wenn ich die Zeit dazu finde.«


Originaltitel: ›O homo, o femina, o tempora‹

Copyright © 1985 by Omni International

(erstmals erschienen in ›Omni‹, Mai 1985)

mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Agentur Mohrbooks, Zürich

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Irene Bonhorst

Illustriert von Jobst Teltschik

Загрузка...