Werner Künzel Gottfried Wilhelm Overdrive: Leibniz im Cyberspace



»Der Himmel über Hannover hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt ist.«


Vor zwei Tagen erst war die heißeste Software aus dem Sprawl eingetroffen, die Schloer-Connection brachte den genialsten Eisbrecher der Zunft. Leibniz schob die Diskette in den Schlitz und setzte sich die E-troden auf: Gebannt beobachtete Sophie-Charlotte seine Aktionen. Der Griff zum Ono-Sendai, auf dem Monitor flimmern die ersten abstrakten Muster. Sie will mit, hat ihr Paar E-troden schon am Kopf. Die gemeinsame Reise kann beginnen. Schloers Software zieht voll rein, die Bilder flimmern nicht länger mehr über den Schirm, sie gerinnen zu Raum, innen und außen. Der Horizont wird sichtbar, die Skyline der allmächtigen Vatikan-Archiv-Corporation, Schatzhaus aller Datenmaterialien die je gejagt und gesammelt wurden, drohende Wolkenkratzer im Cyberspace, erratische Blöcke, ein babylonischer Turm, fensterlos …

Doch jetzt öffnet sich das Netz vor ihnen: lichtfunkelnde Bahnen, Mondrian-Crossroad, verlockende Wege zwischen Datenbanken voller Geheimnisse, Highways für Datentransfer und experimentelle Trips. Leibniz hämmert die Zielkoordinaten in die Tastatur, Fingerwirbel auf dem Keyboard, rasender Perspektivenwechsel im Space. Eine neue Skyline beherrscht den Horizont, die mächtige Royal-Academie taucht auf, internationaler Multi der Science-Produktion am Westrand der Kolonie Europa. Kilometerdickes Eis türmt sich auf, Sophie-Charlotte schreit erschrocken. Der Eisbrecher wühlt sich ein, Schloers Deal war ok, das Programm kommt auf Touren, bald ist der erste Code geknackt. User Status, wir brauchen den User Status, um reinzukommen. Simulation berechtigter Zugriffe, Anfragen, Returncodes, hexadezimales Chaos.

Cool bleiben, Sophie-Charlotte, von Angst gepackt, will raus. Leibniz hat jetzt keine Zeit für anderes, er braucht das eine Break. Noch ist er allein im Netz, vom Sys-Op Thurn und Taxis keine Spur weit und breit. Das schwarze Eis scheint plötzlich zu vibrieren, ein Gegenschlag, tödliches Rollback? Hilfe ist nötig; was gäbe er darum, wenn jetzt ein erfahrener Consol-Cowboy an seiner Seite wäre, Athanasius Kircher! Oder besser noch eine ROM-Unterstützung: die AI/KI der Raymundus-Lullus-Flatline (Turing-Nr. 0001) …

Rauschen im Netz, die Royal wankt, nur kein Eingreifen der alten Feinde, Lady Tessier-Ashpool, gefürchtet wegen ihrer unerbittlichen Archive. Leibniz oben auf der Liste ihrer Rache, nachdem er die Verschwörung von ›Freeside‹ aufdecken konnte! Doch Lady 3Jane bleibt fern. Und dann ist er endlich drin, die Royal-Academie liegt vor ihm wie eine geöffnete Konservendose, Campbell Campbell Campbell. Alles da, das Geheimste vom Geheimen, Forschungsergebnisse und Methoden, die Patente von Sendai oder Maass-Biolabs, ein grandioses Angebot, Saison-Schlußverkauf in Chiba-City, alchimistischer Karneval im Sprawl. Einen Schritt noch Cowboy, – Leibniz zittert, wo sind die Zahlenkolonnen, die Funktionen, die er sucht? N wie Newton, das Daten-Labyrinth mit alphanumerischer Ordnung, Topographie des Wissens im Meer von 0 und 1.

Konrad ist plötzlich hinter ihm, ein Bote aus Trysteros’ Reich, Experte für kontinentale Reisen im Netzwerk, kennt alle Tricks und Interfaces. Leibniz greift erleichtert in die Tasten, Konrad summt seinen Standard-Hit:


»… tape my head and mike my brain,

stick that needle in my vein …«


(Die beiden hatten vor langer Zeit einen gemeinsamen Deal für Richard Wharfinger durchgezogen: In der Szene bekannt als die Legende ›The Courier’s Tragedy‹, ein Deal, der absolut erfolgreich verlief, nicht ohne schmerzhafte Spuren im System von Thurn und Taxis zu hinterlassen …)

Jetzt geht’s gemeinsam zum heißen Kern des Speichers: N wie Newton, der Sektor ist markiert, eine hastige Suche beginnt. Infinitesimalrechnung und Fluxionsrechnung, Leibniz muß wissen, was Newton macht, wie weit er schon gekommen ist. Alles verschlüsselt, chiffrierte Formeln, verzerrte Kurven, kryptische Integrale. Anagramme verbergen die Matrix, neu lesen, kombinieren, verwerfen und wieder von vorn beginnen. Lektüre in Schleifenform, ohne Endebedingung, die Lösung ist kein Resultat von Auszählbarkeiten. Konrad wird ungeduldig, er schielt bereits zu anderen Sektoren: P wie Pascal, S wie Schickard, die ersten Rechenmaschinen, hier unter Verschluß: Binäres Museum der Technologien. L wie Leibniz, wo ist der Katalogeintrag? Zerstöre den Katalog und du vernichtest die Bibliothek! L wie Leibniz ist verschwunden, ausradiert – blockiert? Konrad begreift es als Erster (die hohe Schule des Netzes), er gibt Leibniz den entscheidenden Tip: Du selbst! Zu spät. Die Systemabwehr ist ausgelöst, Kontrollvorgänge starten, Sperren verbarrikadieren alle Ausgänge. Kein Entkommen. Das Netz ist dicht, sie zappeln in der Falle. Ein höhnisches Gelächter wabert durch den Raum: Lady 3Jane mit Thurn und Taxis! Die alte Verschwörung, wer regiert das Netz, wer herrscht über die Archive …

Charlotte fliegt als erste raus, widerstandslos, lethargisch. Leibniz kämpft, konzentriert sich auf Abwehrmaßnahmen, probiert schnell wechselnde Strategien, Simulationen von Fluchten, Ausweichmanöver, ägyptische Pläne. Nur weg vom schwarzen Eis, Konrad driftet davon, schnelles Fading, und schon verliert Leibniz seinen Halt. Das hämische Gelächter schwillt an: Kein Gedanke mehr an Newton, Leibniz liefert seine Abwehrschlachten im feindlichen Netz. Dann: Totenstille, Ausbleichen des Raumes, Metamorphose aller Strukturen, Geometrie haltloser Verwandlungen, Kaleidoskop der Farben. Welcher Befehl stoppt das Ganze? Wer ruft das mächtige Halt? Konrad taucht plötzlich ab. Der Raum verwandelt sich zum reißenden Strudel, Leibniz fühlt wachsenden Schwindel, er läßt das Deck aus den Händen gleiten. Dann die Stimme aus dem Off:


»Dieses Interface war nur für Dich da. Es war der Slot Nr. 49. Ich gehe jetzt und sperre ihn. Hinter seinem Port liegt des Ende der Parabel.«


Leibniz spürt einen harten Cut … Fläche … Blackout … Sophie-Charlotte sitzt total erschöpft am Boden, hinter ihren Augenimplantaten von Zeiss-Ikon läuft ein schöner Traum: Tally Isham/Berninis Therese, sie will werden wie diese Frau, der neue Star der barocken SimStim-Welt von Sense/Network.


»… a Silicon chip in her head was switched to overload …«


Copyright © 1990 by Werner Künzel

(erstmals erschienen in Werner Künzel/Peter Bexte,

›Gottfried Wilhelm Leibniz Barock-Projekte.

Maschinenwelt und Netzwerk im 17. Jahrhundert‹,

Verlag Werner Künzel, Holsteinische Str. 37/1, 1000 Berlin 31)

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