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Weit entfernt von Los Angeles, in einem verlassenen Lagerhaus in Chicago, bewegte sich ein Schatten. Seine Brillengläser glänzten in der Dunkelheit. Er hielt Ausschau nach einer leeren Telefonzelle.

Schließlich fand er eine, und Minuten später schoß ein eisenharter Held wie ein blauer und roter Pfeil in die Luft hinaus. Er prüfte den Luftwiderstand mit dem Finger und nahm Kurs auf Los Angeles.

War es ein Meteorit? War es ein Vogel? War es ein Flugzeug? Nein, Superman war zurückgekehrt, um eine belagerte Welt zu retten.

Superman fühlte sich glücklich. Er stieg auf 11.000 Meter und zog in übermütiger Stimmung eine Schleife um eine Düsenmaschine der US-Luftwaffe, die unterwegs nach Washington war. Aus einem der Fenster der Maschine starrte das bleiche und übermüdete Gesicht des Majors Liebestraum. Voll Entsetzen beobachtete er Superman. »Ihr Götter und kleinen Fische«, schnaufte er. »Was wird der Präsident sagen, wenn ich ihm das erzähle?«


Superman wußte nicht, warum er sich glücklich fühlte. Glücklichkeit und Niedergeschlagenheit waren extreme Gefühlsregungen, die ihn selten befielen. Zum erstenmal in seinem Leben wollte er unartig sein.

Er begriff unbestimmt, daß dies ein antisoziales Gefühl war, und errötete. Er fragte sich, ob schlechten Menschen immer so zumute sei. Aber schlechte Menschen waren geistig verkrüppelt, Leute, die die Welt beherrschen wollten und Banken ausraubten. Das wollte er nicht. Er wollte … er wollte … Was zum Henker wollte er eigentlich? In diesem Augenblick fühlte er etwas wie eine innere Stimme, einen Ruf, der ihn westwärts zog, nach Disneyland. Er beschloß, ihn einstweilen zu mißachten. Zuerst wollte er sich umsehen. Es gab keinen Grund zur Eile.


Mit doppelter Schallgeschwindigkeit raste Superman durch die tief über dem Atlantik hängenden Wolken. Die See unter ihm war aufgewühlt und gischtfleckig. Ein Ozeandampfer, der aus der Höhe wie ein Kinderspielzeug aussah, war in Schwierigkeiten. Träge durchbrach ein mächtiger Rücken die Oberfläche und wälzte sich herum. Der Krake war erwacht.

Superman kreiste in einer engen Schleife herum und ging auf Südostkurs. Japan rief. Seine überaus empfindlichen Ohren fingen die Schreie von Millionen auf. Der Hafen von Tokio wurde zu gelbem Schaum geschlagen, und inmitten der einstürzenden Gebäude und entgleisenden Züge stand hoch aufgerichtet Godzilla. Seine Klauen pflügten einen Morgen Land um, als Superman verlangsamte und im Tiefflug vorbeizischte. Godzilla hielt in seinem Gemetzel inne und kniff ein schuppiges Auge zu.

»Hei-di-hei«, rief Superman und entschwand mit einem dünnen Kondensstreifen nordwärts.

Moralische Verwirrung! »Kehr sofort wieder um«, schrie die Stimme seines Gewissens. »Du hast der Menschheit zu helfen, nicht ihren Mördern Vorschub zu leisten.«

»Quatsch«, antwortete eine neue Stimme, die Superman undeutlich als seine eigene erkannte. »Laß sie eine Weile schmoren. Ich muß nach Los Angeles, um zu sehen, was der ganze Jux zu bedeuten hat.«

Und das tat er. Er ließ sich Zeit, flog auf dem Rücken und blickte dabei in den weiten blauen Himmel auf.


Die Düsenmaschine der Luftwaffe, die Major Liebestraum an Bord hatte, war auf einem geheimen Militärflugplatz außerhalb Washingtons gelandet. Major Liebestraum war mit Händeschütteln empfangen worden, mit Kölnisch Wasser besprüht, abgebürstet und unterrichtet worden. Er sah halbwegs vorzeigbar aus. Nun wurde er eilig zum Hubschrauberlandeplatz geführt, wo ihn der Hubschrauber des Präsidenten erwartete. Die Motoren brummten, und die langen Rotorblätter durchschnitten den Sonnenschein.

»Zielort Weißes Haus«, sagte der Pilot, als Major Liebestraum durch den Einstieg kletterte. »Anweisung, Sie so schnell wie möglich hinzubringen, also behalten Sie Ihr Frühstück bei sich.«

Der Hubschrauber brüllte auf und stieg wie eine Riesenmücke aufwärts und drehte sich in den Wind. Innerhalb von Minuten waren sie vor dem Weißen Haus.

Alles war friedlich. In Major Liebestraums kampfmüden Augen nahm sich das Weiße Haus inmitten der Rasenflächen und Bäume hübsch wie eine Ansichtskarte aus.

Der Hubschrauber bekam Bodenberührung, und sofort wurde Major Liebestraum von einem hochgewachsenen Hauptmann der Marineinfanterie, der ganz harte Muskeln und ungehobeltes Nebraska war, aus dem Hubschrauber gezogen und mitgenommen.

»Tut mir leid, daß es so schnell gehen muß, Sir«, sagte er, »aber ich habe Anweisung, keine Zeit zu verlieren.«

Nachdem sie im Laufschritt zum rückwärtigen Eingang gelangt und überprüft worden waren, wurde Major Liebestraum von einem Adjutanten übernommen und durch lange, teppichbelegte Korridore geführt. »Ich muß Sie warnen«, sagte der Adjutant vertraulich, »daß der Präsident heute morgen ein bißchen empfindlich ist, also ist es angezeigt, ihn wie ein rohes Ei zu behandeln. Er erwartet Sie in seinen Privaträumen.«

Sie kamen an eine Flügeltür. Der Adjutant klopfte höflich, und die Fernsteuerung öffnete die Türflügel. Am anderen Ende des Raumes, über ein Waschbecken gebeugt, stand der Präsident. Sein Gesicht war mit Rasierschaum bedeckt. Er wandte sich den beiden zu und blies kräftig durch die Nase. Zwei Tropfen Rasierschaum klatschten auf den Boden. Der Adjutant zog sich leise zurück.

»Ah, da sind Sie ja«, sagte der Präsident. »Nun, Sie haben einiges zu erklären. Wie ich hörte, wurde eine ganze Abteilung Marineinfanterie von Mary Poppins in die Flucht geschlagen. Ist das richtig, Soldat?«

»Also, äh …« Da ihm keine Antwort einfiel, beschloß Major Liebestraum Haltung anzunehmen und zu salutieren.

Der Präsident wedelte ungeduldig mit dem Handtuch. »Lassen Sie das militärische Gehabe und erzählen Sie, was vorgeht.«

»Also, Sir, die Situation ist ziemlich extrem … um nicht zu sagen, unglaublich …« Der Präsident murmelte irgend etwas Unverständliches in den Rasierschaum. »Vielleicht, Sir, wenn ich mit dem Anfang beginnen könnte.«

»Das sollten Sie tun«, grollte der Präsident und begann sich zu rasieren.


Superman erfreute sich des Sonnenscheins. Es war einer jener Tage, an denen es ein gutes Gefühl ist, am Leben und übermenschlich zu sein. Tief unter ihm lag das dünne graue Band der Bundesfernstraße 66.

Aus der Ferne drangen Flüche schwach in Supermans superempfindliches Gehör. Er drehte sich in der Luft herum und schaute hinab. Seine teleskopische Sicht machte zwei Gestalten aus, die neben einem liegengebliebenen alten Chevrolet standen und stritten.

»Blödmann«, sagte der größere der beiden und schob sein massiges Kinn vor. »Ich erinnere mich genau, daß ich dir sagte, du solltest den Benzinstand prüfen.«

»Holzkopf«, erwiderte der kleinere und schlug die behandschuhten Fäuste zusammen. »Ich überprüfte das Kühlwasser und die Keilriemenspannung, wie ich es immer tue. Du solltest den Benzinstand prüfen. Aber nein, das ist zuviel verlangt. Immer heißt es: ›Robin, tu dies, Robin, tu das!‹ Weißt du, was dein Problem ist, Batman? Immer willst du andere für deine eigenen Fehler verantwortlich machen.«

Batman stieß ein Wutgebrüll aus und sprang auf Robin los, aber der war zu schnell und lief um das Heck des Wagens. »Und das Schlimmste dabei ist«, rief er, »daß du es selbst nicht merkst.«

Superman beschloß der Sache auf den Grund zu gehen. Wie ein Falke fiel er aus der Sonne hinab.

»Hei … heiliger Strohsack«, sagte Robin. »Es ist Superman.«

Batman blieb stehen und schaute in die von Robin gewiesene Richtung. »Laß uns nicht zu überstürzten Schlußfolgerungen greifen«, sagte Batman, der unter seiner Sonnenbräune erbleichte. »Das könnte eine Halluzination unserer überhitzten Phantasie sein, erzeugt durch die Einatmung von Kohlenstoffmolekülen.«

Superman landete federnd auf dem Kiesbankett neben dem Chevrolet. »Hallo, Leute«, sagte er. »Ihr seid in der Klemme? Braucht eine hilfreiche Hand?«

»Wahrhaftig«, sagte Batman. »Es ist Superman.«

»Mein Gott«, sagte Robin. »Ich wußte nicht, daß es dich wirklich gibt.« Und er fiel in Ohnmacht.

»Wo wollt ihr mit dem Schrotthaufen hin?« fragte Superman und trat gegen einen Reifen.

»Äh … Disneyland, Los Angeles«, sagte Batman. Er hoffte, der andere werde nicht zu fest gegen die Reifen treten.

Superman rümpfte die Nase. »Runderneuert. Na, sieht nicht so aus, als würdet ihr mit dieser Gurke noch weit kommen. Als oberflächliche Diagnose würde ich sagen, daß ihr einen Ölwechsel braucht, und daß wahrscheinlich die Ventile eingeschliffen werden müssen. Der Kühler leckt, und die Hinterachse zeigt Materialermüdung. Auf hundert Meilen im Umkreis gibt es keine Tankstelle, also werde ich euch mitnehmen müssen, wie? Zufällig bin ich auch unterwegs nach L.A., also habt ihr Glück gehabt.« Damit nahm er Batman und den noch ohnmächtigen Robin schwungvoll in seine mannhaften Arme. »Ihr werdet diese Rostlaube nicht mehr brauchen, oder? Ich werde sie aus dem Weg schaffen.«

Superman stieß das Batmobil von der Straße in einen Abzugsgraben. Dann hob er vom Boden ab und nahm Kurs auf Los Angeles.


Der Präsident frühstückte.

Seine Stimmung hatte sich nicht gebessert.

»Nun hören Sie zu, Major Leberwurst, oder wie immer Sie heißen, dies ist kein Lachkabinett, und ich bin kein Dummerjan von der Straße, sondern der Präsident, und ich habe eine Menge zu tun. Ich muß mich um die Angelegenheiten der ganzen Welt kümmern und habe keine Zeit, Märchenbücher zu lesen. Wollen Sie mir erzählen, daß all diese Disneyland-Gestalten einfach aus der Luft auftauchten?«

»Jawohl, Sir.«

Der Präsident klopfte sein Frühstücksei auf. »Und Sherlock Holmes und Superman?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich nehme an, dann ist King Kong auch dort?«

»Weiß ich nicht, Sir. Könnte sein.«

»Könnte sein? Könnte sein?« Der Präsident warf seinen Löffel an die Wand. »Gottsverdammich, Soldat, was soll das heißen, ›könnte sein‹? Sie könnten ihn doch nicht übersehen. Er muß mehr als dreißig Meter groß sein.«

Major Liebestraum blickte auf seine Stiefel.

Der Präsident blickte auf sein Frühstücksei. In seinem Zorn hatte er es unter der Faust zerdrückt. Diese Tat schien ihn jedoch etwas beruhigt zu haben. »Das Leben«, bemerkte er, »ist ein Bett aus verbogenen Groschen.« Dann versank er in stummes Grübeln. Schließlich hob er den Blick und fixierte Major Liebestraum.

»Haben Sie eine Idee, Soldat?«

Major Liebestraum sah seine Chance und griff zu. »Jawohl, Sir. Ein Zusammentreffen. Ich denke mir, diese Figuren werden auf Sie hören, während sie uns bloß auslachen und verächtlichmachen.«

»Ein Zusammentreffen?« fragte der Präsident. Sein Gesicht rötete sich.

»Ja, Sir. Sie und Mickymaus oder wer immer die Leitung hat. Sprechen Sie es mit ihnen durch, Sir. Bringen Sie sie zur Vernunft.«

Der Präsident dachte stirnrunzelnd darüber nach, dann dehnte ein Lächeln seine Züge. »Ja, warum nicht? Ich und Mickymaus auf dem Rasen vor dem Weißen Haus. Ich und Micky beim Händeschütteln. Und dann kann Micky diesen komischen kleinen Tanz mit dem Spazierstock machen. Kennen Sie die Nummer? Wir werden die Medien verständigen. Noch besser, eine Fernsehübertragung von einer Küste zur anderen. Zur besten Sendezeit. Wir werden eine Party veranstalten. Sie alle hier zusammenbringen. Kinder aus dem Waisenhaus einladen. Junge, das wird bei den Wahlen Aufwind bringen!« Der Präsident war ganz Lächeln. »Ich und Micky. Hab den kleinen Kerl immer kennenlernen wollen. Machen Sie das mit ihm aus, Soldat. Ein paar von meinen Leuten können Ihnen dabei helfen. Sie verbringen sowieso die meiste Zeit mit Kartenspielen. Und denken Sie daran, Soldat, es könnte für Sie etwas dabei herausschauen. Ich vergesse meine Freunde nicht.«

Major Liebestraum wurde zur Tür geleitet. »Ich werde mein Bestes tun, Sir«, sagte er mit einem matten Lächeln, als ihm ein Vorstellungsbild des ergrimmten Micky, wie er durch die Ruinen von Disneyland stapfte, in den Sinn kam. »Ich werde tun, was ich kann.«

»Das ist der rechte Geist«, sagte der Präsident, und die Tür schloß sich.

Major Liebestraum stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und merkte, daß er schwitzte. Er merkte auch, daß er mit seiner Mission, dem Präsidenten den Ernst der Lage nahezubringen, gescheitert war. »Was, zum Teufel, wird jetzt geschehen?« murmelte er.

Hinter den schweren Eichentüren konnte er undeutlich den rauhen Bariton des Präsidenten hören:


»Wenn dich eine Muse küßt,

Schert es niemand, wer du bist …«


Superman ging tiefer und steuerte in niedriger Flughöhe über die Vororte von Los Angeles. Erschrockene Gesichter blickten zu ihm auf, und aufgeregte Kinder zeigten mit den Fingern auf ihn. Seit er Texas überflogen hatte, war Superman von Düsenjägern verfolgt worden. Er hatte sie mit ein paar geschickten Tiefflugmanövern abgeschüttelt. Jetzt stand ihm der Weg nach Disneyland offen.

Wie eine blaue Blitzentladung fegte Superman über die Stacheldrahtwälle hinweg und landete unweit vom Dornröschenschloß. Batman und Robin, die ein wenig grün aussahen, tappten wankend umher und hielten Umschau.

Eine Versammlung fand statt. Tausende von Erfindungen waren da.

In der Mitte war Mickymaus. Seine schwarzen Knopfaugen waren rotgerändert, und er war offensichtlich zornig, doch als er Superman gewahrte, hielt er mitten im Satz inne. »Hi, Super-Baby«, rief er herüber. »Haben dich schon erwartet. Sag den drei Musketieren, sie sollen zusammenrücken, an ihrem Tisch ist noch Platz für dich. Hi, Batman, Robin. Freut mich, daß ihr es geschafft habt. Hallo, Hamlet, laß das Gefummel mit diesem Schädel, und mach Platz für zwei weitere Gäste.« Hamlet gehorchte und murmelte unverständlich von den Härten der Zeitverzögerung. Auf der anderen Seite des Amphitheaters ließ die Prinzessin auf der Erbse, bunt und lieblich wie ein Schmetterling, den Blick ihrer taufeuchten Augen wohlgefällig auf dem jungen Robin ruhen und klopfte auf den Platz neben sich.

»In Ordnung!« rief Micky. »Alles klar? Kommen wir wieder zur Sache. Wo war ich stehengeblieben?«

»Krieg«, rief Peter Pan.

»Ja, richtig. Krieg. Ich bin für Krieg. Totalen Krieg. Ohne Pardon.«

»Gib ihnen Saures«, rief Schneewittchen, und ihre dunklen Augen blitzten.

»Saures ist richtig. Homo sapiens hat zu lange den Rahm abgeschöpft. Ich sage, wir schlagen morgen zu. Carthaginem esse delendam, etcetera. Und der Himmel sei jedem bleichgesichtigen Lümmel gnädig, der versuchen sollte, mich aufzuhalten.« Bei diesen Worten sandte Micky einen finsteren Blick zu Donald Duck, der den Kopf ins Gefieder gesteckt hatte und scheinbar kein Interesse an der Diskussion zeigte. »Wer ist mit mir?«

Ein Chor von tausend Stimmen schrie: »Ja«, und Hüte, Schals und Federn flogen in die Luft.

Sherlock Holmes, der als Ratsvorsitzender fungierte, schlug mit dem Hammer auf den Tisch. Allmählich legte sich die allgemeine Erregung.

»Darf ich den geehrten Redner daran erinnern«, sagte Sherlock mit seinem kristallenen Oxford-Akzent, »daß zwar keiner von uns an seiner Aufrichtigkeit zweifelt, oder an der Leidenschaft, die hinter seiner Aufrichtigkeit liegt, diese Debatte jedoch anberaumt wurde, um alternative Verfahrensweisen zu diskutieren, nicht aber, um als Plattform für Demagogie zu dienen.«

Ein lauter Rülpser von Dumbo quittierte diese Mahnung, aber Sherlock ließ ihn unbeachtet.

»Nun, gibt es noch andere Wortmeldungen, bevor ich Mickys Antrag zur Abstimmung stelle?«

Stille breitete sich aus. Mickymaus blickte finster in die Runde. Alle rückten nervös auf den Plätzen und blickten erwartungsvoll umher. Alle waren neugierig, ob jemand es wagen würde, Mickymaus zu widersprechen.

Stille.

»Nun«, sagte Sherlock Holmes und nahm den Hammer vom Tisch, »ich stelle fest, daß es keine weiteren Wortmeldungen gibt. Also schreiten wir nun zur …«

»Quak.«

Sherlock Holmes hielt inne. »War das eine Wortmeldung?«

Donald Duck stand auf. »Ich sagte, ›quak‹, was für meinesgleichen ein angemessenes Geräusch ist. Da es keine anderen Sprecher zu geben scheint, würde ich gern ein paar Worte hinzufügen, bevor die Diskussion abgeschlossen wird. Darf ich sprechen, Herr Vorsitzender?«

Erwartungsvolles Gemurmel ging durch die Reihen der Figuren.

Sherlock Holmes schlug einmal mit dem Hammer zu. »Selbstverständlich dürfen Sie sprechen. Bitte treten Sie vor. Das Rednerpult gehört Ihnen.«

Donald Duck reckte sich, schüttelte das Gefieder und watschelte zum Rednerpult.

»Kameraden! Leidensgenossen der Erfindung und des Gespötts.« Dumbo ließ einen weiteren Rülpser los. »Ich stehe heute in einer ungewohnten Rolle vor euch. Normalerweise bin ich ein lustiger Bursche. Ich versuche, alle mit meiner Tolpatschigkeit zum Lachen zu bringen … huch!«

Donald Duck glitt auf einer imaginären Bananenschale aus, und sein Hut flog ihm vom Kopf und fiel ihm über ein Auge. Alle schrien vor Lachen. Donald Duck faßte sie wieder ins Auge.

»Ihr findet das komisch? Nun, wie wäre es damit? Schaunummer Enttäuschung Wut. Ihr kennt sie. Geht so.«

Erst verfärbte sich Donald Ducks Gesicht rosig, dann rot, dann purpurn. Seine Augäpfel verdrehten sich in den Höhlen, und Dampf schoß ihm aus den Ohren. Bei dieser Darbietung fielen einige der Erfindungen vor Lachen von ihren Plätzen. Sogar Hamlet wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Donald wurde wieder ernst.

»Aber ich bin nicht hier, um euch zu erheitern. Ich möchte euch zum Nachdenken bringen. Ja, ihr sollt DENKEN.«

Stille. Alle Heiterkeit, die noch in der Luft hing, verflüchtigte sich. Donald fuhr in ruhigem Ton fort und sagte: »Mickymaus, mein Freund Micky, hat zu euch gesprochen und seinen Haß auf den Homo sapiens dargelegt, der uns schuf. Und wohlgemerkt, Freunde, in wesentlichen Punkten teile ich diesen Haß mit ihm. Insofern finde ich es seltsam, daß ich nun hier stehe, und meinem Freund widerspreche. Denn ich widerspreche ihm. Im Laufe der nächsten paar Minuten will ich versuchen, euch zu überzeugen, nicht durch Leidenschaft, sondern durch Vernunft, daß totaler Krieg das letzte ist, was wir brauchen, um unseren Interessen am besten zu dienen.«

Darauf begannen einige der Figuren, die Mickymaus am eifrigsten unterstützt hatten, mit den Füßen zu trampeln. Sherlock Holmes, der Donalds Ausführungen aufmerksam verfolgt hatte, vergaß seinen Hammer und rief sie zur Ordnung.

Donald Duck lächelte. »Glaubt mir, ich kenne eure Unzufriedenheit. Ich empfinde sie so akut wie nur einer von euch.« Er breitete seine Stummelflügel aus. »Seht mich an, Kameraden. Seht diesen häßlichen Schnabel, diese Plattfüße. Kann jemand unter euch bezweifeln, daß auch ich zornig bin? Aber seht euch selbst und uns alle an. Unsere Mißgestaltungen und unsere krankhaften Leidenschaften. Und wenn wir das tun, wird uns klar, daß wir alle Machwerke sind. Skizzen von Tinte auf Papier. Schablonenhafte Figuren, geformt von zweifelhafter Erfindungsgabe, fragwürdigem Geschmack, schablonenhafter Handlung oder dem Zwang, lustig zu sein. Wir haben keine Vergangenheit. Wir haben keine Zukunft. Wir sind ein ewiges Jetzt. Und sind wir damit zufrieden?«

»Nein, zum Teufel«, sagte Superman.

»Nein, zum Teufel«, sagte Donald Duck.

Einige der Figuren, die am erbittertsten nach Krieg verlangt hatten, begannen jetzt betreten dreinzuschauen und sich den Kopf zu kratzen. Donald Duck spürte den Stimmungsumschwung.

»Einige von uns waren natürlich sehr begünstigt. Mr. Holmes, zum Beispiel. Sein Schöpfer hat sich nicht mit einer schablonenhaften Zeichnung zufriedengegeben. Er hat eine ziemlich vollständige Biografie, ist eine komplexe Gestalt mit einem scharfen Verstand. Aber andere hatten nicht dieses Glück. Seht euch diese armen Geschöpfe an.«

Donald Duck zeigte auf den Schatten eines jungen Burschen in Lumpen, der sich am Rand der Versammlung aufhielt und immer wieder verschwand und dann wieder undeutlich zum Vorschein kam. Jeder konnte durch seinen dünnen Körper die Pfosten des Zaunes hinter ihm sehen. »Komm her, Junge!« sagte Donald Duck. »Niemand wird dir hier ein Haar krümmen.«

Die Gestalt, wenig mehr als ein Umriß in der Luft, trat schüchtern näher. »Er kann nicht sprechen. Weiß nicht, wer er ist. Weiß nicht, wie er hierher kam. Er wurde beiläufig in einem Buch erwähnt, das niemand mehr liest. Sein Autor ließ zu, daß er an einer Wegkreuzung von Pferden niedergetrampelt wurde.«

Der Junge schaute mit leerem Blick, der keine Frage kannte, zu den versammelten Erfindungen her, aus deren Reihen sich zorniges Gemurmel erhob. Mickymaus ballte die Fäuste und wollte aufstehen, doch ehe er das Wort nehmen konnte, fuhr Donald Duck fort.

»Unerkannt. Ungeliebt. Unvollständig. Ein Werkzeug des Gewerbes. Betrachtet ihn gut, Freunde. Er ist unser aller Symbol. Wenn ich ihn oder Mr. Holmes oder unseren ehrwürdigen Freund von Elsinore betrachte, kommen mir die Tränen. Soviel Potential. Soviel Leere. Selbst der Größte unter uns ist weniger als der Geringste der Sterblichen.«

Nichts konnte Micky jetzt halten. Er riß sich los von Minnymaus und Schneewittchen, die ihn zurückzuhalten suchten, und sprang aufs Podium. Tränen traten ihm in die Augen, und seine Stimme war halb erstickt vor Erregung.

»Darum sage ich, tötet sie. Tötet sie!« Er schlug mit der Faust in die offene Handfläche, und seine Stimme ging in Schluchzen unter.

»Sie töten? Nein«, sagte Donald Duck ruhig. »Sie gebrauchen? Ja. Gebrauchen wir sie um ihres Einfallsreichtums willen. Melkt ihnen die Ideen ab wie Kühen auf der Weide.« Er schwieg einen Moment lang und legte die Hand um Mickys Schultern. »Töten ist so leicht. Erschaffen so schwierig. Superman könnte mit einer Hand die Menschheit auslöschen, ohne in Schweiß zu geraten. Stimmt’s?«

Superman nickte.

»Aber was«, fuhr Donald Duck fort, »würde dann aus uns?«

Stille.

Endlich meldete sich Dumbo. »Weiß nicht, Donald. Was würde dann aus uns?«

»Wir wären erledigt. Erstarrt, verknöchert. Ein unveränderliches Gleichmaß von Gesten, Grimassen, Dummheiten, Scherzen und was ihr sonst noch wollt. Selbst der drolligste Spaß wird langweilig, nachdem ihr ihn hundertmal gesehen habt. Paßt auf!«

Donald Duck watschelte zur Seite und führte wieder und immer wieder seinen Ausrutscher vor, und jedesmal flog ihm die Mütze vom Kopf und landete pflichtschuldig über einem Auge. Diesmal lachte niemand.

Donald rappelte sich auf. »Versteht ihr, was ich meine?« sagte er. »Stellt euch eine Ewigkeit davon vor. Wir brauchen die Menschen, wenn wir wachsen wollen.«

Mickymaus hatte sich erholt. »Einverstanden, Donald, das leuchtet ein. Also was tun wir, wenn wir sie nicht alle umbringen?«

»Zuerst reden wir mit ihnen«, erwiderte Donald Duck. »Ich glaube nicht, daß sie wirklich verstehen, was geschehen ist. Ich beginne es selbst erst undeutlich zu erkennen. Aber eines kann ich mit Gewißheit sagen: Ihre Tage sind gezählt. Jenseits dieses Stacheldrahtwalls, wo sie ihre Pusterohre und was nicht alles haben, leben Millionen von Menschen, die glauben, sie seien am Ende der Skala. Sie glauben, die Evolution habe aufgehört, als sie vom Baum fielen und auf den Füßen landeten. Wir sind hier, um sie eines Besseren zu belehren. Wir sind die Zukunft. Wir wuchsen in ihren Hirnen, und nun sind wir selbständig geworden. Und sobald wir groß und stark und frei sind, werden wir das Heft in die Hand nehmen, und unsere Schöpfer werden dahinwelken wie Herbstlaub.« Micky nickte langsam und lächelte zum erstenmal. »He, Donald, das gefällt mir«, sagte er. »Das gefällt mir. Was tun wir als erstes?«

»Wir vereinbaren ein Treffen mit dem Präsidenten der US von A. Er ist hierzulande das große Tier, und ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann. Danach werden wir nur noch wachsen, wachsen, wachsen.«

Die Menge nahm den Ruf auf: »Wachsen, wachsen, wachsen.« Bald skandierte ganz Disneyland rhythmisch das eine Wort: »WACHSEN.«

»Ich will Astrophysiker werden«, sagte Dumbo.

»Ich möchte Richter am Obersten Gericht werden«, sagte Reinecke Fuchs.

»Ich möchte ich selbst sein«, sagte Hamlet.

»Ich möchte eine Nummer«, sagte die Prinzessin auf der Erbse und faßte Robin beim Arm.

Der Tumult hatte seinen Höhepunkt erreicht, als man eine einsame Gestalt bemerkte, die vom Stacheldrahtwall näher kam. Der Mann hielt ein weißes Taschentuch in der Hand.

»Sehr gut«, sagte Mickymaus. »Macht Platz für die Marineinfanterie.«

Major Liebestraum kam sich sehr klein vor, als er der Menge zorniger Gestalten gegenüberstand. »Wenn ich bitten darf«, sagte er, und sein normalerweise rauher Bariton hatte sich um zwei Oktaven gehoben. »Ich habe eine Botschaft von unserem Präsidenten. Er möchte Sie zu einer Party ins Weiße Haus einladen. Auf seine Kosten, versteht sich. Werden Sie kommen?«

Die versammelten Erfindungen sperrten den Mund auf, und der Sturmwind ihres Gelächters blies Major Liebestraum glatt von den Füßen. »Wir sind schon unterwegs«, sagte Mickymaus.


So begann der seltsamste Auszug, den die Welt je gesehen hatte. Die Erfindungen, die sich in Disneyland zusammengefunden hatten, angezogen von Mickymaus’ magnetischer Persönlichkeit, zogen nun durch die Straßen. Dumbo und Superman machten den Weg frei, indem sie die Stacheldrahtrollen und die Panzer beiseite schoben. Es gab keinen Widerstand. Soldaten, die in Vietnam verwundet worden waren, gafften wie fünfjährige Jungen. Einige der Mutigeren baten um Autogramme.

Mickymaus überblickte die lange Kolonne, und eine große Träne rann ihm die Nase herab und tropfte aufs Pflaster. Er nahm Minnymaus bei der Hand. »Es klappt, Schätzchen«, sagte er. »Es klappt. Siehst du, wie alle Brüder hinausmarschieren, als ob ihnen die Welt gehörte? Ich habe mich nie so glücklich gefühlt. Wir haben es erreicht, verstehst du, Schätzchen? Und von nun an geht es nur noch aufwärts.«

Minnymaus drückte ihm die Hand. Sie wußte nichts zu sagen.

Bald war Disneyland beinahe verlassen. Superman richtete einen Pendelverkehr ein. Von Los Angeles nach Washington in zwanzig Sekunden. Batman und Robin hatten einen Überlandbus organisiert und boten eine Besichtigungsreise mit Führung durch die Südstaaten an. Manche zogen es vor, per Anhalter zu reisen, andere ritten Pferde. Heathcliffe fand einen Sportwagen mit Kompressor und fuhr nordwärts. Neben ihm, das lange Haar im Wind wehend, saß La Belle Dame Sans Merci.

»Das wird nicht lange dauern«, bemerkte Eskimo Nell mit schlauem Zwinkern.

»Was wird nicht lange dauern?« quiekte der kleine Noddy an ihrer Hand.

Nell ächzte. »Bist du alles, was übrig ist? Dann komm mit, Junge! Laß uns sehen, ob wir einen Bus finden können, der nach Osten fährt, und dann erzähle ich dir eine Geschichte.«

Ihre Stimmen verloren sich, als sie die Straße entlangtrotteten.

Stille in Disneyland.

Die zerstörten Gebäude und die verkohlte, blasig abblätternde Farbe und die vom Wind getriebenen Papierfetzen gaben ein trübseliges Bild ab.

In einem Winkel, neben dem Gebäude, das einmal die Kleine Welt beherbergt hatte, saß Sherlock Holmes. Seine Mütze saß schief auf dem Kopf, und er fütterte Vögel mit Erdnußstückchen. Er war tief in Gedanken versunken.

Donald Duck kam vorbeigewatschelt. Er vergewisserte sich, daß keiner von den Kleinen zurückgelassen worden war. Als er Sherlock sah, kauerte er sich neben ihn und sah den Vögeln zu, die im Abendsonnenschein die Erdnußbröckchen aufpickten.

»Nun, Mr. Holmes«, sagte er schließlich, »was meinen Sie?«

Sherlock Holmes kratzte sich im Nacken und tastete nach seinem Tabak. »Weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß nichts mehr. Fange schon an, wie Dumbo zu reden. Du weißt, daß ich mit einem logischen Gehirn ausgestattet war. Ich glaubte, alles ließe sich durch klare, logische Analyse folgern, vorausgesetzt, man hatte alle richtigen Fakten. Aber dies … die Ereignisse der letzten paar Tage … sie widerstreben der Logik. Also bin ich an meinen Grenzen angelangt. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.« Er seufzte tief. »Aber es gibt gleichwohl einige Punkte, die mir Kopfzerbrechen bereiten. Ich wollte dich nicht in deiner feinen Ansprache unterbrechen, aber da waren zwei Punkte, die du nicht erklärtest.«

Ein Glanz kam in Donald Ducks Augen, und er machte es sich bequem. »Schießen Sie los, Mr. Holmes!« sagte er.

»Nun, das eine war deine Bemerkung, wir seien statisch. Ich akzeptiere das für mich selbst. Ich bin, wie mein Schöpfer mich machte, maßgeschneidert für diese menschliche Welt. Aber du bist nicht, wie dein Schöpfer dich machte. Hinter der Karikatur deines Gesichts, wenn du mir den Ausdruck vergeben kannst, liegt das scharfe, analytische Gehirn des wahren Philosophen. Wie erklärst du das?«

Donald Duck nickte. »Ja, da liegt der Hase im Pfeffer, wie unser poetischer Freund mit dem Schädel zu sagen pflegt. Ich verstehe nicht alles, Mr. Holmes, aber hier ist meine Vermutung. Vor vielen Jahren, als sie Hunderte von Bildergeschichten über Donald Duck herausbrachten, gab es einen Zeichner, der Mitleid mit dieser reizbaren, frustrierten, komischen alten Ente hatte. Er fand, ich hätte ein allzu hartes Los, und so fing er an, aus eigenem Antrieb eine Serie privater Karikaturen zu zeichnen. In diesen war ich Präsident Donald, Professor Donald, Papst Donald, und er verlieh mir die Gabe der Selbstbetrachtung … Es müssen dreißig oder mehr Zeichnungen gewesen sein. Natürlich wurden sie nie zu Bildergeschichten oder Filmen verarbeitet. Soweit mir bekannt ist, bekam außer der Frau des Zeichners niemand sie je zu Gesicht. Aber sie halfen mit, mich zu formen. Ich bin die Summe von allem. Geradeso, wie Sie es sind. Wie wir alle es sind, ausgenommen Micky. Wir sind die Gesamtsumme alles dessen, was je veröffentlicht wurde, aber auch der persönlichen Versuche, der Entwürfe, die unsere Autoren dem Papierkorb überantworteten. Wir wachsen, indem unsere Biographien geschrieben werden. Es ist alles ganz elementar, wenn Sie den Ausdruck verzeihen wollen.«

Sherlock Holmes nickte. »Ja, wie du sagst, elementar. Mein Autor schrieb, wie du vielleicht weißt, ein paar bösartige Stücke über mich, die niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickten. Ich versuche diese Seiten meines Charakters verborgenzuhalten, aber sie sind da. Fressen in mir. Seltsame Gelüste. Schmutzige Gewohnheiten.«

»Wir alle wissen«, sagte Donald Duck, »daß unsere Schöpfer oft von uns Gebrauch machten, um sich ihrer eigenen Ängste und Schuldgefühle zu entledigen. In mancherlei Weise verkörpern wir das Schlimmste der Gesellschaft. Ich finde das unverzeihlich. Und darin bin ich mit Micky einig. Selbst eine Ente hat Würde.«

Sherlock Holmes nickte. Er seufzte wieder und drehte die Tonpfeife in den Fingern. »Micky ist mir ein Rätsel. Ich meine, wie konnte er …«

»Micky ist uns allen ein Rätsel«, erwiderte Donald. »Ich habe viel über ihn nachgedacht. Er war immer der sanfteste von uns allen. Freundlich. Verletzlich. Etwas muß im Transit mit ihm geschehen sein. Er war der Erstgeborene, und ich vermute, daß es ihm schlecht ergangen ist. Jetzt ist er mehr als eine Figur. Er ist ein Prinzip, das seinen Ausdruck sucht …«

»Ich fürchte, da kann ich nicht ganz folgen«, sagte Sherlock Holmes und war beunruhigt, als er Donald Duck erröten sah.

»Verzeihen Sie. Es war nur laut gedacht. Mutmaßungen, nichts weiter. Aber sehen Sie, an Mickys Zorn ist etwas sehr Altes, Ursprüngliches. Etwas wie eine Form aus dem Morgengrauen des Bewußtseins selbst. Etwas Primitives und Einzigartiges.« Donald Duck kam allmählich in Fahrt. »Micky ist der Atemhauch der instinktiven Rebellion. Drängend, vorwärtstreibend, unaufhaltsam. Und Gott allein weiß, wo es enden wird.«

In diesem Augenblick hörten sie das Tappen eines hölzernen Stockes auf dem Pflaster, und ein blinder und lahmer alter Mann, geführt von einer jungen Frau, kam um die Ecke. Beide waren in Lumpen gehüllt. Sie blieben unsicher stehen, als sie Donald Duck und Sherlock Holmes gewahrten, dann kamen sie vorsichtig näher. Der Mann hielt den Stock vor sich, als wollte er die junge Frau schützen.

»Haben Sie sich verlaufen?« fragte Donald.

Die Antwort war eine lange, wohlklingende Rede des alten Mannes, in der die einzigen Worte, die Donald und Sherlock verstehen konnten, ›Mikey Mousos‹ waren.

»Ah. Ein Grieche«, sagte Sherlock.

Donald nickte. »Ein alter Grieche. Das hatte ich nicht erwartet.« Er stand auf und watschelte auf den alten Mann zu und steckte ihm den steifen Flügel unter den ausgestreckten Arm, ihn zu stützen. »Kommen Sie mit uns. Micky ist in eine Stadt namens Washington gereist, um wieder Schwung in den Laden zu bringen. Bleiben Sie bei uns. Bei uns sind Sie sicher.«

Der alte Mann verneigte sich, bis sein langes Haar den Boden berührte. Nun erst sahen Donald und Sherlock, daß das Greisenantlitz narbige Höhlen anstelle von Augen hatte. Das seltsame Paar, das einer anderen Welt anzugehören schien, ließ sich auf dem Boden nieder, als wollten sie an Ort und Stelle die Nacht verbringen. »Wir danken Ihnen, Freunde«, sagte die junge Frau stockend. »Wir sind einen weiten Weg gegangen. Mein Vater …« Sie verstummte und beugte sich zu dem alten Mann, und ihre grauen Augen spiegelten Zärtlichkeit und Kummer. Der alte Mann saß still da wie eine aus Teakholz geschnitzte Statue und wandte das Gesicht der späten Abendsonne zu. Ein dünnes Rinnsal von Speichel floß von seinen Lippen auf das Kinn. »Mein Vater, Ödipus, braucht Ruhe.«

»Sie sollen beide Ruhe finden«, sagte Donald Duck. »Ich werde Ihnen ein gutes Motel besorgen.«

Der Alte nickte, als hätte er verstanden, und die runzligen Winkel seiner Augenhöhlen falteten sich zu der Andeutung eines Lächelns.

Die Vier saßen schweigend und genossen die letzten Sonnenstrahlen.


»Welches war Ihre zweite Frage?« fragte Donald Duck endlich. »Wie?« sagte Sherlock Holmes. Er hatte Antigone betrachtet und versucht, ihr Alter zu erraten.

»Sie sagten, Sie hätten zwei Fragen.«

»Ach ja, richtig. Meine zweite Frage betraf die Zukunft. In deiner Rede vor der Versammlung sagtest du, wir würden wachsen, aber du sagtest nicht, wie dies geschehen sollte. Was wir nun, da wir hier sind, tun sollen.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Donald. »Ich wollte den Leuten Selbstvertrauen geben. Tatsächlich habe ich überhaupt keine Antworten, nur Vermutungen.«

»Gut, dann sag mir deine Vermutungen.«

»Nun, wie ich es sehe, sind wir unbesiegbar. Die einzige Möglichkeit, uns zu vernichten, wäre die Zerstörung jedes Buches, jedes Filmes und jeder Skizze, in denen wir erscheinen. Das ist unwahrscheinlich, nicht wahr? Jedenfalls habe ich Vorkehrungen getroffen und Superman beauftragt, sich der Sicherheitsfragen anzunehmen. Als nächstes möchte ich alle Staatsoberhäupter zusammenbringen und ihnen die Situation erklären …« Er machte eine Pause und neigte den Kopf zur Seite. »Aber vielleicht«, fuhr er fort, »wäre es geradesogut, sie alle kurzerhand umzubringen. Wir wollen die Angelegenheiten nicht durch Politik komplizieren. Wie auch immer, wir müssen die Welt ein wenig reorganisieren. Die Homo sapiens zusammentreiben, so daß wir sie im Auge behalten können. Dann werden wir die Literatur der Welt umschreiben. Erweitern.«

»Eine große Aufgabe.«

»Ja, gewiß. Aber nicht unmöglich. Und Sie haben dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Glücklicherweise arbeitet die Zeit für uns. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich denke, wir könnten unsterblich sein. Ich weiß nicht, wohin wir gehen, oder ob es irgendeinen großen Plan für uns alle gibt. Aber ich bin überzeugt, daß der Homo sapiens nur deshalb ein Gehirn entwickelte, damit er uns erfinden konnte. Wir sind die Zukunft. Wir sind der nächste Schritt der Evolution, und wir sind angekommen. Wie unser zitierenswerter Freund zu sagen pflegt: ›Es gibt viel mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.‹ Also dann Kopf hoch, Mr. Holmes!«


Die Sonne versank am Horizont. Ein warmer Abend hüllte Los Angeles ein, und die ersten Sterne zeigten sich. Donald Duck stand auf und reckte sich. »Mr. Holmes, es hat mich gefreut, mit Ihnen zu sprechen. Ich hoffe, wir werden Freunde bleiben. Aber nun muß ich gehen und den alten Ödipus und seine Tochter in die Stadt begleiten.«

Donald Duck winkte Antigone, dann machte er kehrt und watschelte auf die Lichter der Stadt zu. Unterstützt von seiner Tochter, erhob sich Ödipus ächzend und tappte ihm nach.

»Donald, Donald!« rief Sherlock Holmes. »Eine letzte Frage, bevor du gehst.«

Donald Duck blieb stehen und wandte sich um. Ödipus rempelte ihn und murmelte Entschuldigungen.

»Sag mir, Donald, werde ich jemals Liebe erfahren? Werde ich jemals imstande sein zu lieben?«

Donald Duck spähte aufmerksam in Sherlock Holmes’ Gesicht. Im schwindenden Tageslicht sah er die Furcht und den Schmerz in den Augen. Im Herzen Sherlock Holmes’ las er all seine Enttäuschung und Lebensangst. Er fühlte sich von Mitleid überwältigt.

»Sie werden lieben, Mr. Holmes«, sagte er. »Sie werden lieben, bis Ihnen das Herz in tausend Stücke zerspringt. Sie werden Liebe erleiden, bis Sie ein Mensch und mehr als ein Mensch werden. Das verspreche ich Ihnen. Und wenn ich jedes Wort der Geschichte selbst schreiben müßte.«

»Danke, Donald. Danke und auf Wiedersehen in Washington. Wir werden die Welt errichten, von der du nur träumst.«


Sherlock Holmes ließ sich wieder nieder und stopfte seine Pfeife. Sein Herz pochte wie ein Dampfhammer.

Weit hinter ihm, tief in den Schatten, regte sich etwas. Eine gebeugte Gestalt schlich um die Ecke. Unter den Kleidern zeichnete sich der steife, harte Umriß einer amerikanischen Maschinenpistole ab. In einer Hand hielt die Gestalt ein Messer, dessen Klinge matt durch die Dämmerung schimmerte.

Verstohlen, lautlos wie ein Schatten, näherte die Gestalt sich Sherlock Holmes von rückwärts und hob das Messer.

»Hallo, Moriarty«, sagte Sherlock Holmes, ohne den Kopf zu wenden. »Ich fragte mich schon, wann Sie auftauchen würden. Wir haben allerhand zu besprechen, Sie und ich.«


Originaltitel: ›The Gospel According to Mickey Mouse‹

Copyright © 1991 by Phillip Mann (Erstveröffentlichung)

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Englischen übersetzt von Walter Brumm

Illustriert von Jobst Teltschik

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