Judith Moffett Mausketiere



Die Party war nicht sehr laut; das Piepsen des Telefons war deutlich zu hören. Bill Nash nahm ab und gab den Hörer sofort an die älteste Anwesende weiter, die ihren Teller und ihre Gabel niederlegte, ihr Gelächter über Seth Gibsons Scherz niederkämpfte und sich zum Bildschirm wandte. Sie sagte: »Hi, Gordon.«

»Ich brauch dich jetzt hier unten, Patsy.«

Die alte Frau zuckte zusammen; niemand außer ihrem Chef hatte sie seit der High School Patsy genannt, aber sie konnte es ihm anscheinend nicht abgewöhnen. »Kann das nicht noch eine Stunde warten? Wir feiern hier oben gerade eine Party.«

»Nein, es kann nicht warten«, sagte er knapp. »Tut mir leid.«

So leid schien es ihm gar nicht zu tun. Der Bildschirm war etwas zu klein, um seinen Gesichtsausdruck deutlich zu zeigen, aber Patsy glaubte, daß er erregt schien, und allmählich wurde sie neugierig. »Was ist denn los?«

»Komm runter, dann sage ich es dir. Jetzt gleich.« Er unterbrach die Verbindung, und Pat legte bekümmert auf. Sie machte sich sonst nicht viel aus Parties, aber als Ehrengast an dieser Party teilzunehmen, das hatte ihr Spaß gemacht, und der Kuchen war hervorragend.

Die Party fand aus zwei Gründen statt: einmal, um Pat Livingstons achtundsechzigsten Geburtstag zu feiern, und zum zweiten, weil das Flußwaldbiotop vollendet war, zu dessen Errichtung sie auf den Mars gekommen war. Hatte Gordon in der letzten halben Stunde etwa eine Ungenauigkeit im Ablauf oder einen Fehler in den Berichten gefunden? Die NASA stellte sich bei Berichten immer zimperlich an; das konnte es sein. Kein Grund zur Panik.

Pat sollte bald wieder heimkehren; Leute ihres Alters hatten es auf dem Mars schwer, und sie arbeitete schon zehn Monate an der Biosphäre VII. Sie zählte kaum die Tage – die Arbeit im Dschungelbiotop hatte sie gefesselt wie nichts, was sie bisher getan hatte, einschließlich der zwei Jahre, die sie in der Biosphäre IV in der Wüste von Arizona verbracht hatte. Auf der Erde erwartete sie nur die Langeweile des Rentnerdaseins, aber im Augenblick erschien ihr der Gedanke, auf Gordon Andersons Kommando nicht sofort zu springen, sehr verlockend. Sie legte den Hörer auf, verspeiste mit drei Bissen ihren Kuchen und sagte zu den anderen Gästen: »Hebt mir doch noch ein Stück auf, wenn ihr das schafft.«

Die anderen stöhnten. Ihr Assistent Jake Billington lächelte sie an – die jungen Leute beim Projekt waren Pat gegenüber immer respektvoll und nett, während sie mit dem Chef sehr bissig umgingen. Er sagte: »Wenn ich du wäre, würde ich mir noch ein Stück schnappen, bevor ich ginge. Johnny hat ein Auge auf den Kuchen geworfen. Soll der alte Kettenhund doch noch eine Weile kochen, das wird ihn nicht umbringen.«

»Ja«, stimmte Seth zu. »Wenn er dich so dringend sprechen will, dann kann er ja auch raufkommen.«

Kuchen waren in der Sphäre wirklich Mangelware, und Pat nahm Jackies Rat an. Aber als das Telefon ein paar Minuten später noch einmal piepste, stellte sie mit resignierter Miene ihren Teller auf den Tisch. »Sag der Ratte, daß ich unterwegs bin.«

Der Spaziergang durch den Dschungel mit seinen Bäumen, Ranken, Blumen, Papageien und Kolibris dauerte acht Minuten. Sie ging über ein buschbestandenes Stück Savanne am kleinen ›Ozean‹ und durch das Gitternetz der eingefriedeten Gartenbeete und der bestellten Felder zum Büro. Strukturell war die Biosphäre VII fast identisch mit jener, in der sie auf der Erde gelebt hatte, nur etwas größer und erheblich besser konstruiert (und so mußte es auch sein). Die Wohnstätten in der Wüste Arizonas waren wunderschön gewesen; in den Einöden des Mars aber raubten sie einem den Atem und ließen Tränen in die Augen quellen. Das marsianische Tageslicht, das durch automatisch nachgeregelte Deckplatten genau bemessen eingelassen wurde, glitzerte auf der Wasserfläche, die rhythmisch unter den Impulsen einer Wellenmaschine zitterte. Es war alles so neu, so aufregend und mitreißend, daß Pats Mißmut sich auflöste, noch bevor sie hundert Schritte gegangen war. Sie betrat lächelnd das Büro und strich Krümel von ihrem Pullover. Sie brachte Gordon ein Stück Kuchen mit, ein leicht verbranntes Opfer, das in eine Papierserviette gewickelt war.

Sie fand ihren Chef über einen Datenschirm gebeugt. Er lehnte das Geschenk ab. »Verdammt, Patsy, wenn ich sofort sage, dann meine ich auch sofort.«

Pat zog die Augenbrauen hoch. Gordon war bei seinen Mitarbeitern nicht beliebt, aber er war ein fähiger Leiter mit einem kühlen Kopf. Sie hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen, und sie erkannte, daß die Situation etwas Takt erforderte. Der Mann war fünfzehn Jahre jünger als sie und außerdem viel weniger berühmt. Selbst für einen gelasseneren und selbstsichereren Menschen als Gordon Anderson wäre es schwierig gewesen, Captain zu sein und Pat Livingston als Unteroffizier zu führen. »Nun, jetzt bin ich da«, sagte sie freundlich. »Was liegt an?«

»Das hier, mein Gott.« Er tippte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Sieh dir das an und sag mir, was du davon hältst.«

Pat sah zum Bildschirm. Sie stand auf der anderen Seite des Büros und konnte nicht viel erkennen. Sie trat hinter den Schreibtisch, um sich die Sache aus der Nähe zu besehen. Gordon machte ihr Platz. Schließlich saß sie davor, und ihre Nase berührte fast den Schirm.

Das Bild war verschwommen und unscharf, ein Gemengsel aus Schwarz, Weiß und Grau. Einige Gestalten vor einem leeren Hintergrund. Selbst bei der schlechten Auflösung des Bildes konnte man erkennen, daß es keine menschlichen Gestalten waren. Sie sahen aus wie etwas anderes: Tiere vielleicht – eine Zirkusnummer mit Terriern, die dunkle Hosen oder Röcke und weiße Hemden trugen. Terrier oder Bären; es war nicht möglich, ihre Größe zu schätzen. Auf jeden Fall wirkten sie fremdartig und unbeholfen. Die Gestalten trugen kleine schwarze Hüte mit schwarzen Lappen, die Pat an irgend etwas erinnerten. Aber die schlangenähnlichen, geringelten Dinger an den Seiten ihrer Gesichter – falls es Gesichter waren – sahen überhaupt nicht irdisch aus.

»Das war eine Direktübertragung«, knurrte er zur Erklärung. »Ich habe sie vor einer Stunde aufgezeichnet.«

»Direktübertragung? Woher denn?«

»Aus dem Weltraum, soweit ich es sagen kann. Es war ein Tonfilm.«

Richtig, aus den Lautsprechern drangen leise Geräusche. Gordon tippte auf einige Tasten, und plötzlich richteten sich Pats Nackenhaare auf, als die Wesen auf dem Bildschirm einen spitzen, heulenden Gesang anstimmten.

»Allmächtiger.«

»Yeah«, sagte Gordon.

»Und die Sendung war an uns gerichtet?«

»Wer weiß? Das ist die Frequenz, über die wir mit Houston sprechen.«

»Meine Güte, was kann das sein? Russen, Chinesen, Japaner, Schweden?«

»Patsy, diese Dinger haben Tentakel!« rief ihr Chef, der nun endgültig die Geduld verlor. »Sie könnten direkt nebenan sein, und wir sitzen in der Klemme, falls sie sich entschließen, etwas gegen uns zu unternehmen, weil wir absolut nichts gegen sie unternehmen können!«

Pat richtete sich erstaunt auf. »Nimm dich zusammen, Kumpel! Was glaubst du denn, wer die sind? Wütende Marsianer, die ›Ami go home‹ brüllen?«

Gordon knirschte mit den Zähnen. Es klang schrecklich. Er sah sie wild und haßerfüllt an – selbst in dieser Extremsituation hatte er etwas gegen das Wort ›Kumpel‹. »Die haben Tentakel, Patsy. Sieh doch hin.« Er verdrehte die Augen. Er war kalkweiß. »Und wo du schon dabei bist, benutze auch deine Ohren. Ich hab dieses Band in der letzten Stunde immer wieder abgespielt und mir diese gespenstischen Geräusche angehört. Würdest du das als menschlichen Gesang bezeichnen?«

Pat stemmte die Fäuste in die breiten Hüften und sah ihrem Chef in die Augen. »Und warum, wenn sie keine Menschen sind, singen sie die Mausketier-Hymne?«

Gordon fielen fast die Augen heraus. »Du willst mir doch nicht etwa erzählen, daß du dieses Geheule erkennst!«

»Genau das.« Natürlich war die Tonqualität sehr schlecht – ebenso schlecht wie die Bildqualität, ständig Knacken und Rauschen –, und es brauchte schon jemanden wie Pat, um die Ähnlichkeit zu erkennen. Jemanden, der aufgrund seiner privaten Vorlieben jedes Quiz über den Mickymaus-Club gewonnen hätte. Jemand, der die Nachnamen und das Alter aller Mausketiere, selbst der unbekanntesten, auswendig aufsagen konnte: Billie Beanblossom, 11, Jay-Jay Solari, 12, Bronson Scott, 8. Wahrscheinlich lebte höchstens noch ein halbes Dutzend Menschen, die dies konnten. Man konnte Gordon kaum vorwerfen, daß er das Lied nicht selbst erkannt hatte.

Aber für Pat gab es keinen Zweifel. Jedenfalls nicht, was das Lied anging – doch während sie ihre Ansicht bekräftigte, begann sie zu zweifeln. Ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden, tastete sie auf dem Schreibtisch nach dem abgelehnten Stück Kuchen, brach ein paar Krumen ab und aß sie. Es war ein Schokoladencremekuchen mit Schokoladenguß, fast wie daheim und sehr beruhigend. Ganz im Gegensatz zu den Dingen auf dem Bildschirm. »Das muß ein Schwindel sein«, murmelte sie kauend, aber sie war nicht sicher. »Russen in Bärenanzügen. Ein Aprilscherz.«

»Wenn das ein Scherz ist«, sagte Gordon knapp, »dann ist es der teuerste Scherz der Geschichte.« Er stapfte im Raum hin und her, während Pat sich die Finger sauberleckte. Schließlich sagte er: »Was, um alles in der Welt, ist eine Mausketier-Hymne, wenn du mir die Frage verzeihst?«

»Das ist die Hymne oder das Thema des Mickymaus-Clubs, einer Fernsehserie, die ich damals in der Neolithischen Ära als Kind gesehen habe.« Die Hemden und Hosen der Mausketiere mußten hellblau sein. Pat wußte es, weil sie das Mickymaus-Clubheft abonniert hatte. In der Zeitschrift hatte es viele Farbbilder gegeben; im Fernsehen waren die Figuren natürlich immer grau gewesen, denn der Mickymaus-Club war zwischen 1955 und 1958 gefilmt worden, vor der Einführung des Farbfernsehens.

Wenn man Russe oder Chinese war, konnte man sich die alten MMC-Zeitschriften besorgen und nachschlagen, um die Mausketier-Uniformen blau zu färben. Wenn man dagegen im Aldebaran oder so lebte und sich an den greifbaren Informationen orientieren mußte, dann käme man natürlich nicht auf die Idee … »Kommt die Sendung in Farbe?«

»Ja. Das da sind die Farben, soweit man davon sprechen kann.«

Sie verwandelten die Hymne in etwas Beängstigendes, aber das hielt Pat nicht davon ab, sich zu erinnern, wie sie hätte klingen müssen. Das Band war zu Ende. Gordon fluchte, spulte zurück und spielte es noch einmal von vorn ab. Wieder fand sich die Gruppe zusammen, wie es damals die Mausketiere getan hatten, und begannen a capella zu singen. Eigentlich mußte es eine Orchesterbegleitung geben, aber sie bemühten sich, die Zuschauer zu bewegen, in das Lied einzustimmen und sich der Gruppe anzuschließen. Getreu dem Text des Liedes buchstabierten sie den Namen Mickymaus.

Pat sagte nachdenklich: »Wie könnten das keine Menschen sein? Andererseits ist die Frage, was für Menschen das sind.«

Gordon gab ein würgendes Geräusch von sich. »Die klingen wie eine Gruppe Kazoos. Die sehen aus wie eine Truppe dünner, dressierter Bären mit Tentakel-Schnurrbärten. Ich weiß nicht, was sie sind.« Er tastete nach einem Knopf auf der Konsole hinter sich. »Wachdienst sofort zu mir.«

Der Befehl klang viel sinnvoller, als er war. Der ›Wachdienst‹ auf dem Mars hatte die Aufgabe, Lecks in der Biosphäre zu verhindern. Selbst die paranoide NASA hatte einen echten Wachdienst für überflüssig gehalten. Später konnte sich das ändern, aber Schußwaffen waren ohnehin nicht brauchbar, weil man nicht riskieren konnte, die Sphäre zu durchlöchern. Im Augenblick konnte Gordon höchstens ein paar seiner wachfreien Hydraulik-Ingenieure mit Preßlufthämmern bewaffnen, die möglicherweise nützlich waren, falls die Mausketiere eine Invasion begannen, die aber bei einem Angriff aus dem Raum völlig unbrauchbar waren. Gegen einen Raumangriff konnten die Mitarbeiter weder sich selbst noch die Biosphäre schützen – damit hatte Gordon recht.

Pat dachte daran, daß ein Erstkontakt, der mit der Mausketier-Hymne begann, ohne weiteres mit einem Atomkrieg enden konnte, denn letzterer war kaum weniger verrückt als die Art der Kontaktaufnahme.

Die Gruppe der nachgemachten Mausketiere heulte weiter. Ein Geschöpf in der ersten Reihe sang ein Solo und versicherte die Zuhörer einer Freundschaft, die Zeit und Raum überdauern werde. Dann wurde wieder vom ganzen Chor mit gespenstischem Ernst der Name der Mickymaus buchstabiert.

Pat sagte plötzlich: »Fällt dir nicht auf, daß ein Kinderlied über Familie und Freundschaft eine eigenartige Kriegserklärung wäre? Laß uns die Sache mal ruhig angehen und hören, ob sie den Text verändert haben.«

Gordon runzelte die Stirn, aber er war vernünftig genug, sie nicht zu stören. »Ich kenne die Worte nicht«, klagte einer der Wachleute. Pat informierte ihn, und sie lauschten gespannt, während die Aufnahme ein weiteres Mal abgespielt wurde.

»Da«, sagte sie. »Fahr ein Stück zurück. Jetzt noch mal.« Und in der Tat, die Worte klangen etwas anders. Die beiden kleinsten Mausketiere (Cubby und Karen) hatten mit ihren süßen Kinderstimmen die vorletzte Zeile der Hymne immer unisono gesungen. Die Worte besagten, daß es Zeit sei, ihren Gefährten Lebewohl zu sagen. Diesen Teil des Liedes hatten die Eindringlinge verändert. »Kannst du es langsamer abspielen?« Er tat es, und jetzt hörten es auch die anderen.

Sie spielten die Zeile ein Dutzendmal ab. »Eindeutig ›Hallo‹. Eindeutig eine Begrüßung. Viel eher ein Willkommen als eine Kriegserklärung, meinst du nicht auch?«

»Woher sollen wir wissen, was ein Alien mit ›Hallo‹ meint?« maulte Gordon. Pat und die Wachleute hatten sich bereits beruhigt und sich an die Vorstellung gewöhnt, daß da draußen tatsächlich Aliens waren, die mit ihnen Verbindung aufnehmen wollten. Gordon leider nicht.

»Wie wollen wir wissen, was sie damit ausdrücken wollen, daß sie als Mausketiere auftreten?«

Pat gab ihm eine giftige Antwort. »Irgend etwas meinen sie bestimmt, Gordon. Es geht mich ja nichts an, aber solltest du nicht Houston verständigen? Vielleicht sogar die Vereinten Nationen. Allerdings würden die nur eine Sondersitzung einberufen und diskutieren, und ich glaube nicht …«

»Mein Gott, das würde Tage dauern! Was soll ich in der Zwischenzeit tun? Es muß die NASA sein, ob uns das gefällt oder nicht.«

Es gefiel keinem von ihnen. Gordon sah so grau aus wie die Flecken auf dem Bildschirm, die exakt in diesem Augenblick völlig verschwammen und sich in Rauschen auflösten. Eine neue Sendung kam herein.

»Da haben wir’s wieder«, sagte einer der Wachleute mit einer gewissen nervösen Erleichterung, und als Gordon keine Anstalten machte, drückte er auf den Schalter, um das Band abzuschalten. Sofort wurde das Bild klar, oder die Auflösung wurde etwas besser. Es erschien die Nahaufnahme eines einzelnen, kostümierten, bärenähnlichen und eindeutig und unzweifelhaft außerirdischen Wesens. Der Kopf mit den Mickymausohren und das Mausketier-Hemd boten einen, um es milde auszudrücken, beunruhigenden Anblick. Es konnte keinen Zweifel mehr geben: Es war ein Erstkontakt, ob man dazu bereit war oder nicht, ob es surreal schien oder nicht. Die Aliens waren da.

Tentakel wurden ausgerollt, Worte erklangen. »Hallo, Mausketiere. Wir wußten nicht, daß ihre eure Planetenoberfläche verlassen habt. Das ist Spitze!« Die Stimme, unmoduliert und quiekend, schien diese Worte anscheinend unter großen Schwierigkeiten zu bilden; doch nach den schlecht artikulierten Worten der Hymne war das makellose Englisch der fünfziger Jahre einfach verblüffend. Das Wesen näherte sich der Kamera und wurde größer. Sie sahen, daß sein Hemd einen Namen trug: JIMMIE in großen schwarzen Buchstaben mit schwarzen Schnörkeln.

»Mein Gott«, stöhnte Gordon. Niemand sagte etwas.

»Wir sind vierzehn, und wir werden in drei Planetentagen in eurer Nähe landen. Es könnte gefährlich sein, wenn wir uns persönlich treffen – möglicherweise infizieren wir uns gegenseitig –, aber wir brennen darauf, mit euch zu sprechen. Wir können euch jetzt nicht empfangen, während wir im Transit sind, aber wir können sofort nach der Landung die Verbindung aufnehmen. Wir haben viele Fragen.«

Die Tentakel schienen die Geräusche und die Worte zu erzeugen; zumindest blieben sie nur dann still, wenn das Wesen nicht sprach. Nun, da die Rede beendet war, zog sich das Geschöpf zurück und gab den Blick auf die Gruppe hinter ihm frei. Cubby und Karen begannen ihr Lebewohl zu singen – und diesmal lautete das Wort wirklich ›Lebewohl‹. Jimmie, unmoduliert wie immer, versprach, daß man sich bald sehen werde. Dann wurde der Schirm dunkel.


Nach einer Konferenz mit Houston berief Gordon ein Treffen aller Mitarbeiter der Biosphäre ein. Das war nicht zu umgehen, aber weil die Mausketiere ihm schreckliche Angst machten, begann das Treffen unter ungünstigen Vorzeichen. Gordon war ausgebildeter Hydraulikingenieur und teils wegen seiner Fähigkeiten und zum größeren Teil aus Versehen Stationsleiter geworden. Er war kein Militärkopf und besaß keine große Phantasie, es sei denn, es ging in seinem erlernten Beruf darum, den Lauf von Wasser zu verändern. Wahrscheinlich wäre er mit einem Erstkontakt, der etwas konventioneller verlaufen wäre, gut zurechtgekommen, aber die Disney-Version warf ihn aus dem Gleichgewicht.

Die teilweise Lähmung ihres Chefs machte es den anderen zunächst schwer, zu verstehen, was überhaupt passiert war, und es gab viel Verwirrung und Angst. Daheim auf der Erde hätten einige von ihnen diese Entwicklung begrüßt; hier draußen aber waren sie zu wenige. Sie fühlten sich verletzlich.

»Glücklicherweise haben wir eine Expertin für den Mickymaus-Club an Bord. Ich habe sie gebeten, sich zu überlegen, was die Außerirdischen uns mit ihrem Auftritt als Mausketiere wohl sagen wollen«, schloß Gordon und grinste gehässig.

Die Mitarbeiter hatten sich in der Kantine versammelt, dem einzigen Raum, der groß genug war, um sie alle aufzunehmen. Sie hätten auch über Sichtschirme oder sogar telefonisch konferieren können, aber sie wollten beisammen sein. Mit einem Gefühl, als wäre sie auf einer Stadtratssitzung, stand Pat auf und wandte sich an ihre Mitbürger: »Ich sage euch jetzt, was ich weiß, aber ihr müßt mir helfen, die Bedeutung zu ergründen, weil ich in dieser Hinsicht keine Vorstellung habe.

Der Mickymaus-Club war eine sehr kluge Idee von Walt Disney, auf die er in seiner schöpferischsten Phase kam; oder besser, in seiner zweiten schöpferischen Phase. Disney hat seine besten Filme immer anhand ähnlicher Leitlinien entwickelt. Man nehme ein Kind mit bösen oder abwesenden oder ganz ohne Eltern – einen emotionalen Waisen. Man gebe ihm mindestens ein Ersatzelternteil, in jeder Hinsicht besser als die wirklichen Eltern. Dann wird das Verhältnis zwischen Kind und Ersatzeltern durch verschiedene Hindernisse und Mißverständnisse getrübt. Eine Weile geht es allen schlecht, aber schließlich finden die Ersatzeltern und ihr Waisenkind zusammen.

In manchen Filmen wird an Stelle der Ersatzeltern oder zusätzlich ein Tier eingeführt – ein Hund, ein Pferd, ein Lamm oder so; aber das Strickmuster von emotionaler Entbehrung am Anfang und emotionaler Erfüllung am Ende, mit Kampf und Leiden dazwischen, ist immer dasselbe. Ein wichtiger Teil von Disneys Genialität war sein Wissen um den fundamentalen Mythos eines Kindes, das die Eltern seiner Träume bekommt; Eltern, die es um seiner selbst willen verstehen, akzeptieren und lieben, genauso, wie es ist.«

Bill Nash sagte: »Wurden die klassischen Disney-Trickfilme nicht genauso entworfen? Aschenputtel war ein emotional vernachlässigtes Kind, Schneewittchen auch. Beide hatten böse Stiefmütter. Immer dasselbe Strickmuster.«

Pat überlegte. »Ja und nein. Aschenputtel und Schneewittchen waren eigentlich keine Kinder mehr. Die mythische Kraft, die sie rettete, kam nicht in Gestalt guter Eltern, sondern als schöner Prinz.

Wie auch immer, der Mickymaus-Club war eine verkürzte Fernsehversion dieses Mythos. Eine Gruppe völlig glücklicher, normaler Kinder, die singen und tanzen konnten, wurden rekrutiert und bekamen eine Art Pfadfinderoffizier, der sie anführte, ihnen half und sie viele Dinge lehrte. Das war Jimmie Dodd.«

»Jimmie!« rief Gordon, der fast aus dem Stuhl gefallen wäre.

›Jimmie‹ bekräftigte Pat mit einem Nicken. »Ohne ihn wäre die Show nur die Hälfte wert gewesen. Er lieferte den … den spirituellen Unterbau … von mir aus auch die Grundlage oder den Realitätsbezug der Show. Er war der fleischgewordene Mythos. Die Show war nämlich teilweise ziemlich billig. Die Kinder mußten zum Beispiel die ganze Zeit so breit wie möglich lächeln und jubeln und herumhüpfen wie Flöhe – und ihre Mütter waren eifersüchtig und besitzergreifend wie Katzen. Genauso, wie man sich Mütter auf der Bühne vorstellt. Einige Mausketiere wurden nach dem ersten Jahr ausgewechselt, weil sie nicht genug Post von den Zuschauern bekamen. Ich habe selbst ein paarmal einem von ihnen geschrieben, das Studio anzuschreiben und zu sagen: ›Wir lieben Mausketier Soundso‹, weil die Menge der Fanpost bestimmte, wer abgeschossen wurde und wer nicht. Es war also in vielerlei Hinsicht das übliche Showgeschäft; Jimmie Dodd allerdings war real.«

Gordon sagte: »Laß uns zur Sache kommen. Welche Schlüsse sollen wir deiner Meinung nach aus der Tatsache ziehen, daß die … äh … Besucher mit einem Sprecher namens Jimmie auftreten, der von einer Truppe nachgemachter Hollywood-Gören unterstützt wird?«

»Gordon, ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Pat. »Ich finde diese Tatsache so interessant wie ihr alle, aber wie ich schon sagte, weiß ich genauso wenig wie ihr, was ich damit anfangen soll. Wir müssen unsere Ideen zusammenwerfen und sehen, was herauskommt.« Sie setzte sich wieder.

Seth Gibson, der Spezialist für Wüstenpflanzen aus Las Cruces, brach das knisternde Schweigen. »Wenn wir Imitation als die aufrichtigste Form von Schmeichelei betrachten …«

Jackie Billington warf ein: »Dann ist der Mickymaus-Club aus irgendeinem Grund die Lieblingssendung der Aliens. Aber aus welchem Grund?«

»Ich erinnere mich an den Mickymaus-Club«, sagte Clare Hodge, die Meeresbiologin. »Aber ich erinnere mich nicht an Jimmie Dodd oder andere Erwachsene. Nur an Rock ’n’ Roll-Musik und herumspringende Kinder.«

»Das war die Neuauflage in den siebziger Jahren«, erklärte Pat. »Disney war da schon tot, und anscheinend hatte niemand im Studio, zumindest niemand, der was zu sagen hatte, eine Ahnung von dieser Geschichte mit Waisen und Eltern, die ich gerade erwähnte. Sie haben die Neuauflage ohne Jimmie gestartet; nur Kinder, die ständig in Bewegung waren und ein Haufen Zauber im Hintergrund. Es lief nur ein Jahr.«

»Woher weißt du das alles, Pat?« fragte Clare, und im gleichen Augenblick sagte Jackie: »Hätten sie nicht den alten Jimmie holen können?«

Pat entschied sich, Jackies Frage zu beantworten. »Er war inzwischen tot. Gestorben an einer Tropenkrankheit, die er sich in Hawaii bei Filmarbeiten zuzog.«

Jackie kam auf ihre erste Bemerkung zurück. »Aber warum ist von allem, was es gibt, ausgerechnet der Mickymaus-Club die Lieblingssendung der Aliens, falls das stimmt?«

»Mir ist gerade eingefallen, und das bestätigt, was uns immer erzählt wurde«, warf Bill Nash ein, »daß Wesen auf anderen Planeten seit fünfzig Jahren die Wiederholungen von ›I Love Lucy‹ sehen, falls sie Fernseher haben, was für diese Leute offensichtlich zutrifft.«

»Na gut, na schön, sie haben also Fernseher. Aber warum die Mausketiere? Warum treten sie nicht als Lucy und Ricky und Ethel und Fred auf?« Kurz vor dem Aufbruch der Crew zum Mars hatte es ein ›Lucy‹-Fieber gegeben, und alle wußten, welche Personen gemeint waren.

»Oder als Lone Ranger und Tonto oder … wie hießen noch die anderen Serien in den fünfziger Jahren?«

Alle blickten zu Pat, der einzigen, die die fünfziger Jahre aus eigener Erfahrung kannte. »Meine Güte, ich weiß es nicht mehr. Das ist so schrecklich lange her. Nun – ›Superman‹, ›Howdy Doody‹. Meint ihr Kinderserien?«

»Alle. Alles, was beliebt war.«

Pat verlor die Übersicht. »Es gab einen Haufen Western. ›The Lone Ranger‹, glaube ich, und ›Gunsmoke‹, ›Wyatt Earp‹ und, ach ja, etwas über einen Planwagenzug. Aber das meiste war schnell wieder vergessen – ich zumindest habe es vergessen.«

»Aber den Mickymaus-Club hast du nicht vergessen.« Jackie klammerte sich an ihr Argument wie ein Terrier. »Das könnte von Bedeutung sein. Laßt uns darüber nachdenken!«


Pat dachte abends im Bett darüber nach. Wie alle anderen war ihr klar, daß ein Auftritt der Aliens als Marshall Dillon, Chester, Doc und Kitty oder als Verbrecherjäger das eine bedeuten konnte, während der Auftritt als Mausketiere eine andere Bedeutung haben mochte. Sie hatten alles mitbekommen, was die Fernsehsender abstrahlten, und die hyperaktiven Kinder und ihren Anführer absichtlich ausgewählt. Warum? Welche Bedeutung konnte das Verhältnis zwischen Mausketieren und Jimmie für Wesen haben, die keine Menschen waren?

Pat war ziemlich klar, was ihr dieses Verhältnis bedeutete. Als Jimmie und die Mausketiere sie jeden Abend einluden, sich der Gruppe anzuschließen, hatte sie sich nichts auf der Welt lieber gewünscht – so sehr, daß sie die Gruppe in einem verzweifelten Akt der Besitzergreifung verinnerlicht hatte. Sie hatte heimlich einen blauen Faltenrock genäht, ein Paar blaue Socken gekauft und ein Paar alte Kunstlederschuhe in Stepschuhe mit schwarzen Bändern und Metallkappen an Hacken und Spitzen verwandelt. Sie hatte ihr aufgespartes Taschengeld für einen Mausketier-Rollkragenpullover ausgegeben; die größte Größe, die es gab, aber immer noch viel zu eng. Das Ding war heute irgendwo auf der Erde in einem Karton verstaut, mit den Jahren vergilbt, aber immer noch mit der Aufschrift PATSY in großen Buchstaben. Als großes, tolpatschiges Mädchen war sie sogar mühsam herumgehüpft und hatte sich im Steptanz versucht. Wenn irgendein Mensch verstand, welchen Zauber der Besitz dieser Sachen und der Auftritt in ihnen ausüben konnte, dann war es Pat (alias PATSY) Livingston.

Aber das war ihre Privatsache; niemand sonst wußte davon. Wenn es jemand in der Schule herausgefunden hätte, dann wäre es ihr so peinlich gewesen wie einem dreizehnjährigen Jungen, den man mit Make-up und Unterwäsche seiner Mutter erwischt hätte.

Wenn Aliens auf diese Kombination von Sehnsucht und Verzweiflung genauso reagierten wie Menschen, dann mußten sie den Menschen ähnlicher sein als jede andere evolutionäre Entwicklungslinie auf der Erde.

Im Grunde wirkte die Existenz dieser Reaktion sogar noch bedrohlicher, als ihr Fehlen gewirkt hätte. Marshall Dillons sechsschüssige Kanone konnte man wenigstens sehen.

Pat hatte mehrere Jahrzehnte nicht mehr über ihre Mausketier-Verrücktheit und die zu ihr gehörenden Gefühle nachgedacht. Sie wühlte nervös im Bett herum, bis es leise an der Tür klopfte. Sie rollte sich aus dem Bett, streifte ihr Nachthemd über und blinzelte ins Licht auf dem Flur hinaus. »Hallo, Gordon. Du kannst wohl auch nicht schlafen, was?«

»Darf ich reinkommen?«

Pat trat zurück, und er schlurfte an ihr vorbei. Mit ihm zusammen wurde es in ihrer winzigen, provisorischen Behausung eng. Sie schaltete das Licht ein und betrachtete seinen zerknitterten Schlafanzug, seinen Morgenmantel und seine großen, verstörten Augen. Er erwiderte ihren Blick einen Moment lang, doch dann wich er ihr aus. Kein Interesse an Höflichkeit. »Meine Güte, du siehst schrecklich aus!«

»Kein Wunder.« Er rieb unschlüssig sein Gesicht; sie hörte Stoppeln kratzen. »Patsy, kannst du mir einen großen Gefallen tun? Ich möchte zu dir ins Bett kriechen.«

Pat sperrte den Mund auf. Die Bitte kam so unerwartet, daß sie ein paar Sekunden brauchte, bis sie verstand, was er gesagt hatte. Der Gedanke, mit ihrem Chef das Bett zu teilen, stieß sie zwar nicht direkt ab, aber besonders appetitlich fand sie ihn auch nicht. Auf der anderen Seite bekamen Frauen ihres Alters so selten derartige Anträge, daß es nur klug schien, lieber zweimal nachzudenken, ehe sie ablehnte. Während sie noch überlegte, nahm Gordon ihr völlig den Wind aus den Segeln, indem er mürrisch erklärte: »Das hat nichts mit dir zu tun, ich muß mich einfach nur an jemand festhalten, weil ich sonst auseinanderfliege, und die anderen wagte ich nicht zu fragen. Ich hätte auch dich nicht gefragt, wenn ich nicht so verzweifelt wäre.« Er starrte Pat in ohnmächtiger Wut an. »Ich kann kein Schlafmittel nehmen, weil ich früh aufstehen und völlig klar sein muß. Verdammt, Patsy …«

»Jaja, schon gut, natürlich. Und jetzt halt den Mund! Steig rein! Ich verstehe.« Und sie verstand wirklich, mehr oder weniger, oder glaubte es wenigstens. Komisch, sie fühlte sich gleichzeitig erleichtert und abgewimmelt.

Gordon schob die Decken zurück und kroch ins Bett. Er stöhnte wie eine fohlende Stute. Pat schaltete das Licht aus und legte sich neben ihn. Sie hatten ihre Nachtkleider nicht abgelegt, aber Pat hielt ihn trotz des störenden Stoffs so fest wie möglich. Er roch nach Angstschweiß, scharf und abgestanden. Später drehte sie sich mit dem Rücken zu Gordon, und er legte seinen schweren Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich. Er drückte sein Gesicht in ihr krauses graues Haar. Er zitterte heftig. »Mein Gott«, seufzte er. »Ich hatte noch nie im Leben solche Angst.«


Das Beiboot setzte mit drei Landestützen auf und wirbelte den rötlichen Staub hoch – es war ein Landeboot, kein Sternenschiff. Das Mutterschiff umkreiste seit dem vergangenen Abend den Planeten auf einer Parkbahn. Die Mitarbeiter hatten in der Blase von Campsite One Kameras und Bildschirme aufgebaut. Das alte Camp war seit der Fertigstellung der Biosphäre verlassen, und die Mausketiere hatten mit ihren Instrumenten, die offenbar besser waren als alles, was die Menschen besaßen, festgestellt, daß in der Blase keine für sie schädlichen Erreger waren. Alien-Jimmie erklärte, er könne nicht feststellen, ob ihre Mikroorganismen für Menschen unschädlich waren; er versprach jedoch, daß sie vor ihrer Abreise gründlich putzen würden und versicherte Gordon, daß die Luft in der Blase für ihn und seine Gefährten atembar sei.

Hinter versiegelter Luftschleuse sahen alle Mitarbeiter der Biosphäre zu, wie vierzehn Aliens ihre klobigen Druckanzüge ablegten und sich zu ihrem inzwischen vertrauten Gruppenbild aufbauten, in ihren weißen Hemden und grauen Kostümen mit ihren Namen und den Schnörkeln auf den Hemden. Das Bild auf dem großen Schirm in der Kantine war ausgezeichnet, und nun konnten die Menschen endlich eine Vorstellung von ihrer Größe gewinnen. Pat sah einen Alien-Cubby, eine Karen, eine Sharon, einen Lonnie … sie suchte nach Bobby, ihrem Lieblingsmausketier und eine Zeitlang sogar ihr Brieffreund, der später als Tänzer in ›The Lawrence Welk Show‹ aufgetreten war und noch später eine japanische Schnellimbißkette mit dem Namen ›Wunnerful, Wunnerful Suchi‹ aufgebaut hatte. Natürlich, da stand er an seinem Platz in der Mitte der hinteren Reihe. Bobby war damals schon älter gewesen als Pat heute, und er war groß. Der Ersatz-Bobby schien etwa einen Meter vierzig groß zu sein, wenn man sich an den Streben in der Wand hinter ihm orientierte. Die Ersatz-Karen war geradezu winzig.

Am seltsamsten war die Tatsache, daß die Besucher aus der Nähe überhaupt nicht mehr wie Bären wirkten. Sie waren Mäusen fast lächerlich ähnlich: riesige, magere Nagetiere mit einem flauschigen grauen ›Pelz‹. Aus der Ferne erinnerten die aufgerollten Tentakel eher an Schnurrbärte, und ihre Spitzen sahen aus wie Düsen. Glücklicherweise hatten sie nicht die Proportionen von Ratten – keine spitzen Nasen und Zähne, keine glänzenden Knopfaugen, keine langen nackten Schwänze –, aber insgesamt wirkten sie eindeutig wie Nagetiere. So könnte die Erde (dachte Pat unpassenderweise) in ein paar Millionen Jahren aussehen, wenn die Ratten und Schaben unser Erbe antreten, nachdem wir die Bomben abgeworfen haben.

Gordon wartete mit glasigen Augen, während die Aliens sich aufbauten. Sie hatten schließlich doch geschlafen, aneinandergeklammert wie zwei verlorene Kinder im Wald.

Alien-Jimmie sprach, und seine Stimme war jetzt viel deutlicher. »Noch einmal Hallo, ihr Mausketiere. Danke, daß ihr mit uns reden wollt. Wir würden gern mit dem unter euch sprechen, der am meisten über den Mickymaus-Club weiß, wenn’s recht ist.«

Ohne sich anmerken zu lassen, wie ungewöhnlich es war, daß Aliens etwas über den Mickymaus-Club wußten, sagte Gordon: »Aber gern«, und plötzlich stand Pat vor der Kamera.

Der Alien begrüßte sie mit zuckenden Tentakeln. »Mausketier, deine Meldung!« sagte er und wartete.

Pat fing sich. Sie richtete sich auf, zählte bis drei und rief: »Patsy!«

Sofort wurde sie verlegen, aber Alien-Jimmie schien erfreut. »Hallo, Patsy!« (Einen gespenstischen Augenblick lang dachte sie, ihm unwillkürlich das männliche Geschlecht gebend: Er ist wirklich wie Jimmie – wie kann das sein?) »Schön, dich kennenzulernen«, sagte der Alien. »Meine Freunde und ich sind von weit her gekommen, um einige Dinge herauszufinden, die wir unbedingt wissen müssen, und ich bin sicher, daß du uns helfen kannst.«

Die quiekende, unmodulierte Stimme und die sich windenden Tentakel, durch die sie zu entstehen schien, dazu die vollkommene Beherrschung der Umgangssprache jener Zeit, ließen Pat schwindeln. Sie mußte sich an der Konsole festhalten. »Ich will euch alles sagen, das ich weiß. Und ich hoffe, daß auch ihr einige unserer Fragen beantworten könnt.«

»Das werden wir natürlich versuchen. Nun, zuerst möchten wir sehr gern mit Jimmie selbst sprechen. Wie ließe sich das am besten arrangieren?«

Gordon wäre es lieber gewesen, Pat hätte mitgespielt, aber sie hatte nicht die Kraft, einen solchen Pilger anzulügen. »Es tut mir leid, aber das ist nicht möglich. Jimmie Dodd ist tot.«

»Tot?« Als wäre die Stärke herausgespült worden, fielen Jimmies Tentakel schlaff herunter.

»Ja, schon sehr lange, und inzwischen ist sicher auch seine Witwe gestorben. Ein paar der alten Mausketiere könnten noch leben, aber sie sind inzwischen älter als ich – Und das ist für uns wirklich sehr alt. Sollen wir es für euch herausfinden?«

Jimmie hatte sich zu seinen aufgebauten Gefolgsleuten umgedreht. Ihre schlaffen Tentakel und die asymmetrischen Stellungen schienen Entsetzen oder Verwirrung zu verraten. Sie klickten und miauten untereinander. Nun wandte er sich wieder an die Kamera. »Dann würden wir gern ein paar Kinder treffen, die ihn kannten. Aber es muß für die Kinder heute einen anderen Anführer geben. Wir könnten doch mit ihm sprechen, oder? Das wäre auch in Ordnung.« Er strich sich mit einem Vorderglied traurig über das Hemd.

Pat knirschte mit den Zähnen. »Versucht bitte zu verstehen. Es gibt keinen Mickymaus-Club mehr. Die Show wird seit fünfzig Jahren nicht mehr gesendet. Es gibt keine Mausketiere mehr.« Gordon winkte ihr, den Mund zu halten, aber sie wehrte ihn ab. »Wenn ihr wollt, bringen wir euch gern mit Leuten zusammen, die Jimmie Dodd kannten. Aber – warum wollt ihr überhaupt mit ihm sprechen? Könnt ihr uns das sagen?«

Der Alien sagte mühsam: »Jimmie besitzt – besaß – die einzigartige Gabe, junge Menschen zu begeistern. Unser Volk braucht dringend seine Weisheit, und wir hoffen, von seinem Beispiel zu lernen. Wir wollten, daß er unser Lehrer wird.«

An diesem Punkt hörte Gordon auf, Pat Signale zu geben und schob sie einfach weg. »Wir werden die Erde anfunken und darum bitten, daß alle Mausketiere aufgetrieben werden, die noch leben, wenn euch das recht ist. Wir sollten uns in ein paar Tagen wieder sprechen, wenn wir neue Informationen haben.«

»Okay«, sagte Alien-Jimmie, und es schien Pat, als habe seine unmodulierte Stimme irgendwie sehr bekümmert geklungen. Man traf einige Absprachen, während die Mitarbeiter der Biosphäre VII nervös herumfuchtelten und darauf warteten, daß die Begegnung beendet wurde, damit die Nachbesprechung beginnen konnte. Einer der Aliens, wahrscheinlich Alien-Jimmie (was man aber nicht mehr sehen konnte, da sein Raumanzug den Namen auf der Brust bedeckte) sagte zum Abschluß: »Und nun, Mausketiere, noch eine Sache, die ihr nie vergessen dürft.« Er begann zu singen wie ein rostiges Scharnier. Die anderen stimmten in die Hymne ein, die sie den Menschen schon mehrmals dargeboten hatten.

Zu ihrer eigenen Überraschung folgte Pat der Aufforderung und sang mit. Sie sang sogar begeistert, denn es war, wie es schien, immer noch ebenso ihr eigenes Lied wie das der Aliens.


»Tja«, sagte Gordon, »das sieht ganz danach aus, als hätte Jackie recht gehabt.« Die Mitarbeiter hatten sich (nach einer kurzen Unterbrechung, um dringende Wartungsaufgaben durchzuführen) wieder in der Kantine versammelt. Sie taten so, als fände ein Brainstorming statt, aber in Wirklichkeit tauschten sie nur ihre Eindrücke aus, die sich kaum voneinander unterschieden. Pat war zu beschäftigt gewesen, um es sofort zu bemerken. Jetzt sah sie überrascht und etwas verwirrt, daß alle Mitarbeiter der Biosphäre die Mausketiere mochten.

Sie mochten sie sehr. Inzwischen war auch die Antwort von der NASA eingegangen: Seid vorsichtig! Verratet ihnen nichts! Gebt nicht zu erkennen, daß ihr unbewaffnet seid! Wir sind unterwegs!!

Pat und ihre Kollegen waren sehr erleichtert gewesen, als die NASA nach dem Aufbau der Außenhülle ihre Armeeingenieure wieder zur Erde beordert hatte. Obwohl es eher eine leere Drohung war – das Schiff konnte frühestens in einigen Wochen eintreffen –, nahmen sie diese Nachricht mit Entsetzen auf. Pat hatte geglaubt, daß vor der Begegnung mit den Mausketieren zumindest einige Mitarbeiter dankbar waren, daß die NASA sie verteidigen wollte, so symbolisch diese Geste auch war; doch alle Mitarbeiter schienen instinktiv den Aliens mehr Vertrauen zu schenken als ihren Arbeitgebern.

Einige Kollegen trauten ihren eigenen Gefühlen nicht. Sie fürchteten, diese beunruhigenden Erinnerungen an Schneewittchen und Aschenputtel, an Bambi und Dumbo könnten ihre Vernunft und ihre Kampf- und Fluchtreaktionen unterminieren. Aber die Skepsis schien ihren Gefühlen keinen Abbruch zu tun.

Die Aliens waren keineswegs niedlich, wie es Disney-Rehkitze und Kaninchen waren. Sie waren plump und sogar häßlich; aber irgendwie erweckten sie trotz dieses Mangels Vertrauen.

Es war erstaunlich, daß alle so empfanden. Pat bezweifelte, daß es auch nur ein anderes wichtiges Thema gab, von der Biosphäre einmal abgesehen, bei dem alle die gleichen Gefühle hatten und die gleichen Dinge glaubten.

»Einige der alten Mausketiere wurden ausfindig gemacht«, berichtete Gordon. »Annette Funicello – sogar ich erinnere mich an sie – und ein paar andere. Patsy kennt wahrscheinlich ihre Namen. Man wird Video-Interviews zwischen ihnen und den Besuchern ermöglichen, aber, mein Gott, die sind alle über sechzig, und sie sehen überhaupt nicht mehr aus wie die Kinder in der Show.«

»Ich habe den Eindruck«, bemerkte Pat, »daß die Besucher gar nicht an den Kindern selbst interessiert sind – sie wollen nur Zeugen für das Jimmie Dodd-Phänomen haben. Gordon, du könntest noch etwas tun. Ich hatte einmal ein Buch, ein billiges Taschenbuch, von einem zwölfjährigen Jungen geschrieben, der sich aus der Ferne in Annette verliebte. Später wurde er sehr zynisch und enthüllte all die unangenehmen Dinge, die hinter den Kulissen des Mickymaus-Clubs vorgingen, als die Filme gedreht wurden. Er interviewte viele ehemalige Mausketiere und Disney-Angestellte. Das war in den siebziger Jahren, glaube ich, und Disney und Jimmie waren tot, aber nicht einmal er konnte jemand finden, der ein böses Wort gegen Jimmie Dodd sagte, ganz egal, was über Disney oder die anderen zu sagen war, oder darüber, daß sie Annette förderten, obwohl Darlene viel mehr Talent hatte. Die Besucher haben vielleicht Interesse daran. Ich kann mich nicht an den Titel oder den Verfasser erinnern, aber in der Kongreßbibliothek müßte das Buch unter dem Stichwort Disney oder Mickymaus zu finden sein. Ist das einen Versuch wert?«

»Ich kümmere mich sofort darum.« Seit dem Gespräch am Morgen mit den Aliens im Camp war Gordons Entsetzen verschwunden. Er hatte Pat vor der Versammlung gesagt, daß er sicher sei, die Besucher meinten es ehrlich und hätten nicht die Absicht, das Personal der Biosphäre oder die Erde anzugreifen. Ihn schien es genausowenig wie die anderen zu kümmern, ob die Aliens fähig waren, ihnen Schaden zuzufügen.

Das war eine Einstellung, die der NASA nicht gefallen würde. In diesem Augenblick erkannte sie, daß die Mitarbeiter auf eine geheimnisvolle Weise emotional für die Besucher und gegen die NASA eingestellt waren. Wie war das möglich? – Pat hatte keine Ahnung; und doch hielt sie das Vertrauen der Mitarbeiter in die guten Absichten der Aliens für ebenso unvermeidlich und selbstverständlich, wie für sie als Dreizehnjährige das Vertrauen zu Jimmie Dodd gewesen war.

»Wann ist das nächste Treffen mit den Besuchern?« fragte jemand. Es klang begierig und aufgeregt.

»Übermorgen. Wir rüsten das Camp mit einem Videophon aus, damit die Besucher mit den ehemaligen Mausketieren reden können, und dann besetzen wir rund um die Uhr die Funkgeräte und warten auf Instruktionen von der Erde. In der Zwischenzeit sollten wir ein paar andere Dinge erledigen. Zum Beispiel müssen wir uns um andere Aufgaben hier kümmern; wir sind mit unserem Plan im Rückstand. Zweitens …« – er deutete zum großen Bildschirm am Ende des Speisesaals – »solltet ihr euch ein paar Mickymaus-Filme ansehen, wenn ihr Zeit habt. Wir zeichnen sie im Augenblick gerade auf.«

»Werden wir noch vor dem nächsten Treffen wieder mit den Besuchern reden?«

»Nicht, solange sie nicht uns anrufen. Wir könnten mit Breitband senden und hoffen, daß sie uns empfangen, aber wir wissen nicht, wo sie sind. Höchstwahrscheinlich irgendwo auf dem Mars. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?«

»Eigentlich nicht«, sagte die Sprecherin. Es war Andrea Peaobody, eine Hydro-Agrarierin. »Aber falls sie die Gespräche mit Houston mitgehört haben, sollten wir vielleicht …«

»Hm.« Gordon schien unglücklich. Daran hatte noch niemand gedacht. Wir sind miese Strategen, dachte Pat. Vielleicht haben wir beschlossen, den Aliens zu vertrauen, weil wir so schlecht dazu geeignet sind, ihnen zu mißtrauen. Wir können einfach nicht wie Soldaten oder Polizisten denken. Gordon selbst war da sicher keine Ausnahme. Er sagte achselzuckend: »Eigentlich dürfte es ihnen nicht seltsam vorkommen, daß wir unsere Vorgesetzten über ihre Anwesenheit und ihre Bitten unterrichten.« Er fühlte sich angegriffen. Das war typisch für Gordon. Er fühlte sich immer angegriffen, wenn er nicht mehr wußte, wohin.

»Ich dachte nicht an das, was wir gesagt haben«, antwortete Andrea. »Ich dachte an das, was die NASA gesagt hat.«

»Hör mal Gordon«, sagte Jackie, »egal, was wir senden, Houston wird es hören.« Aus den Gesichtern der Zuhörer schloß Pat, daß sie jetzt begriffen, was ihr schon vorher klargeworden war: Ihr Wunsch, die Aliens zu beschützen, konnte den Leuten auf der Erde, die immerhin ihre Gehälter zahlten, wie Verrat vorkommen.

Der Standpunkt der NASA war nicht unvernünftig. Der Westen hatte gerade eine riesige Summe aufgewendet, um die Biosphäre aufzubauen. Wenn die Mausketiere die Mitarbeiter erledigten, hatten sie eine gemütliche, kostenlose Unterkunft und gleichzeitig eine Basis, um die Erde zu bedrohen.

Andererseits – warum sollten sie nicht aufrichtig sein?


Das Dschungel-Biotop war endlich fertig, und Pat konnte sich die in der Zwischenzeit aufgezeichneten Filme vom Mickymaus-Club ansehen. Sie setzte sich gemütlich zurecht und bereitete sich darauf vor, die Bilder aus ihrer lange vergangenen Jugend wiederzuerleben. Als der Vorspann lief – eine Marschversion der Mausketier-Hymne, wundervoll instrumentiert und reizend gesungen – öffnete sich ihr Mund zu einem breiten Grinsen, und Tränen quollen in ihre Augen. Sie hatte die Melodie seit dreißig Jahren nicht mehr gehört, nicht mehr seit einem Rückblick im Fernsehen in den achtziger Jahren.

In der ersten Viertelstunde trat eine Puppe namens Sooty auf, die von einem Engländer bewegt wurde. Die Vorstellung, die Pat schon mit dreizehn langweilig und blöd gefunden hatte, konnte ihr auch jetzt bei aller Liebe keine Begeisterungsstürme entlocken, doch sie mußte zugeben, daß die Puppe bei sehr kleinen Kindern vielleicht gut ankam. Der Film wurde mehrmals von Werbung unterbrochen (die NASA-Techniker hatten ihn ungeschnitten gesendet): Peter Pan-Erdnußbutter, Mattel-Spielzeug, Davy Crocket-Waschbärenmützen, Ipana-Zahnpasta (mit Bucky Beaver). Die Werbung war besser gemacht als Sooty. Aber Pat war auf die Mausketiere gespannt.

Schließlich teilte sich der Vorhang, und eine Gruppe lebhafter Kinder erschien auf dem Bildschirm. Pats Herz tat einen Sprung; sie rutschte im Sessel zurück, die Arme verschränkt, die Beine weit ausgestreckt. Wie wundervoll war das gewesen, welch himmlisches Geschenk für ein unglückliches Kind, dieses Kostüm zu machen und anzuziehen und zu versuchen, die Tanzschritte zu meistern – und wie schmerzhaft! –, bis sie endlich fähig war, die Bewegungen mitzumachen, die jetzt von den Mausketieren vorgeführt wurden, während sie die Bühne betraten.

Ach, und jetzt! Der Roll Call, die kurze Parade der glücklichsten Kinder der Welt und ihrer zwei erwachsenen Wächter: Cubby! Karen! Tommy! Sharon! Mike! Doreen! Mark! Darlene! Lonnie! Nancy! Bobby! Annette! Roy!

Jimmie!

Pat erlebte den Film in nostalgischer Verzückung. Es war ein Montag: der Musiktag. Jimmie zeigte den Mausketieren, wie man auf einer kleinen Bariton-Ukulele spielte. Pat erinnerte sich genau an diese Nummer; sie hatte die Melodie später im College oft gesummt, als sie versuchte, Gitarre zu spielen.

Darauf folgte eine Episode von ›Spin and Marty‹ über ein paar Jungs im Sommercamp. Es war eine klassische Disney-Geschichte von einem reichen, aber einsamen und unsozialen Jungen, einem Elternersatz (dem Leiter seiner Baracke) und einer großen ›Familie‹, die aus den anderen Jungen im Camp bestand. Es war ein Spiegelbild von den Mausketieren und Jimmie, das damals besonders beliebt gewesen war. Dann kam (nicht sehr lustig) ›Mauscartoon‹. Und schließlich, kurz vor der Mausketier-Hymne, erschien Jimmie selbst vor der Kamera, um eine seiner kleinen Predigten zu halten, die ›Doddismen‹ genannt wurden. Pat hatte sie besonders geliebt und ein Jahr lang alle aufgeschrieben, sehr zum Unwillen ihrer Eltern, die fürchteten, Jimmie sei ein Gegengift gegen manche Unterlassungssünden der Familie.

Andere Mitarbeiter hatten sich zu Pat gesellt, doch sie bemerkte sie kaum. Sie saß gebannt vor den Bildern dieses Menschen, der Wärme und Aufrichtigkeit verströmte wie ein Kamin, der lächerlich hätte sein sollen – ein Mann in mittleren Jahren mit Mickymaus-Ohren – und der es dennoch nicht war. Sie wußte es. Sie war ihm zweimal begegnet. Persönlich war er genauso warm gewesen, genauso schlicht.

Erst als Pat am Ende der Hymne aus ihrer Trance erwachte, bemerkte sie die Reaktionen ihrer Kollegen, die den Mickymaus-Club zum erstenmal gesehen hatten.

»Mein Gott, ich kann’s nicht glauben!« schnaufte jemand hinter ihr. »Ich kann nicht glauben, daß ich so um die neunzig Lichtjahre gefahren bin, um das hier zu sehen. Ich glaub’s nicht.«

»Das war der widerwärtigste, kitschigste faule Zauber, den ich je gesehen habe«, warf jemand anders ein.

»›Kleine Tropfen Wasser‹«, zitierte der erste Sprecher, Ron Abbado, ein Ingenieur. »›Kleine Körner Sand. Kleine gute Taten. Kleines liebes Wort.‹« Er kicherte erstickt.

Zwischen Erstaunen und Verwunderung schwankend fuhr Pat auf ihrem Stuhl herum und starrte sie an. »Fandet ihr es wirklich so schlimm? Was ist so widerwärtig an Liebe und Freundlichkeit?«

Ron erwiderte ihren Blick. Es gab ein peinliches Schweigen; offenbar machte er sich Pats Status klar und nahm sich zusammen. »Also gut, du hast die Filme gesehen, als du noch ein Kind warst. Das ist eine Sache. Aber hör mal – du mußt doch zugeben, daß es heute ziemlich schwer zu schlucken ist.«

»Was meinst du mit ›schwer zu schlucken‹?«

Ron wand sich unbehaglich, aber er blieb bei seiner Meinung. »Ach, hör auf, Pat! So kannst du doch heute nicht mehr mit Kindern reden.«

»Da hat er recht«, warf Johnny Chua ein. »Das ist hoffnungslos.«

»Mann, ich glaube, seit vierzig Jahren wurde kein Kind mehr geboren, das nicht kotzen würde, wenn ein Typ mit seinem Namen auf dem Hemd versuchte, ihm einzureden, daß es jeden Tag eine gute Tat tun muß«, sagte Harry Carlson, der für Feldfrüchte zuständig war.

»Damit meinst du wahrscheinlich vor allem deine eigenen Kinder.« Abgesehen von Gordon war Pat der älteste Mensch auf dem Mars; mindestens zwanzig Jahre älter als die anderen. »Was ist mit Mr. Rogers, Johnny? Ich wette, daß du dich noch an ihn erinnerst. Kam er dir auch ›hoffnungslos‹ vor?«

»Natürlich erinnere ich mich an Mr. Rogers«, sagte Johnny freundlich. »Er hat den Kindern ein gutes Gefühl gegeben. Er glaubte, Kinder seien kleine Heilige oder so.«

»›Und vergeßt nie, Mausketiere, daß die kleinen guten Taten und die kleinen lieben Worte am allerwichtigsten sind‹«, wiederholte Ron frech und verdrehte die Augen. Als er ihren Gesichtsausdruck sah, sagte er: »Ach, komm, Pat, schnapp nicht ein. Damals war es anders, das wissen wir ja. Aber du mußt doch zugeben, daß es eine Sache ist, als Kind von dieser Show begeistert zu sein, und eine ganz andere, wenn ein Trupp erwachsener Aliens einen Kult daraus macht, in ein Raumschiff steigt und ein anderes Sonnensystem besucht, nur um mit Jimmie zu reden, als wäre er eine Art kosmischer Guru.«

Das mußte sie zugeben. Mit dreizehn wäre Pat barfuß quer durch Amerika gewandert, um mit Jimmie Dodd reden zu können; aber wäre sie zum Mars gekommen, um ihn zu sehen, als beschäftigte Erwachsene, die an ihrer Karriere bastelte? Hätte sie ihn über philosophische oder praktische Probleme befragt?

Wohl kaum.

Waren dann die Besucher eine Rasse raumfahrender Kinder oder religiöser Fanatiker? Was steckte hinter ihrer Pilgerschaft? Was war dran am Mickymaus-Club und seinem verstorbenen Anführer, daß die Aliens ins Sonnensystem kamen?

Probleme mit ihren eigenen Kindern, hatte Alien-Jimmie angedeutet. Aber es war ein verdammt weiter Weg, um sich einen Rat zu holen.


Die Filme hatten die Mitarbeiter der Biosphäre verwirrt. Alle, die den Besuchern instinktiv vertraut hatten, standen nun vor der Frage, ob sie sie als Lügner oder Geistesgestörte betrachten sollten; es schien nicht mehr möglich, sie ernst zu nehmen.

Dennoch wurden die Videophone von ferngesteuerten Robotern im Camp aufgebaut, und die geplanten Gespräche zwischen den ehemaligen Mausketieren und den Aliens fanden statt.

Danach war die Sphäre an der Reihe. Das Schiff der NASA würde den Mars erst in zwei Wochen erreichen. Die Situation war ebenso verwirrend wie unausweichlich. Houston hatte klare Anweisungen gegeben, was man nicht tun durfte; was man aber tun sollte, blieb im großen und ganzen den Leuten in der Station überlassen.

Als die Schirme am nächsten Tag wieder aufflammten und Alien-Jimmie und seine Gefährten zeigten, trugen sie keine Mausketier-Kostüme mehr.

Gordon trat vor und räusperte sich nervös. »Sind die Interviews zu eurer Zufriedenheit verlaufen? Habt ihr erfahren, was ihr wissen wolltet?«

»In gewisser Weise schon«, antwortete einer von ihnen – wahrscheinlich Alien-Jimmie; bisher hatte es kein Anzeichen dafür gegeben, daß einer der anderen Mausketiere englisch sprechen konnte, abgesehen von den kaum verständlichen Worten der Hymne. »Wir haben mit Annette und Tommy und Doreen gesprochen. Sie haben uns gesagt, daß Jimmie ein wundervoller Mensch war, sehr freundlich, sehr religiös und sehr liebevoll. Das haben wir natürlich erwartet; aber wir hörten auch einige unerwartete Dinge.«

Gordon blinzelte. »Was denn?«

»Daß die richtigen Mausketiere, die Jimmie in ihrer Jugend persönlich kannten – nun, viele, die ihn kannten, wurden anscheinend durch die Bekanntschaft mit ihm und seine Nähe kaum beeinflußt. Später kamen einige dieser Kinder auf die schiefe Bahn – Drogen und Alkohol, Gewalttätigkeiten, Selbstmordversuche.« Er verflocht seine Tentakel zu festen Knoten, dann löste er sie wieder. »Fehlende Freundlichkeit«, krächzte er, als wäre damit alles gesagt.

Der verunsicherte Gordon sah verzweifelt zu Pat, die aufstand und vor die Kamera trat. »Ich möchte etwas fragen, wenn ich darf. Warum tragt ihr heute nicht eure Mausketier-Uniformen?«

Wieder lösten sich die fest verflochtenen Tentakel mit einem Knall. »Weil wir ferngesehen haben«, sagte der Alien. »Wir wußten schon, daß es ein Fehler war, herzukommen, schon vor dem Gespräch mit Annette, Tommy und Doreen.«

Gordon und Pat wechselten einen Blick. Nach einer Weile sagte Gordon: »Wegen des Fernsehens?«

»Genau. Wir konnten auf der Fahrt keine Bilder empfangen, aber in den letzten Tagen hatten wir außer fernsehen nicht viel zu tun. Das Fernsehen ist unser Fenster zur Welt. Wir fanden Jimmie, als wir durch dieses Fenster blickten.« Er wand sich auf eine Weise, die sie noch nicht kannten. Was hatte die Bewegung zu bedeuten? »Es gibt jetzt niemanden mehr wie Jimmie im Fernsehen.«

»Wenn du sagst ›wie Jimmie‹«, fragte Pat vorsichtig, »was meinst du dann? Was genau sucht ihr?«

Der Alien wand sich wieder und beschämte sie mit der Erklärung: »Patsy, du bist von allen die, die es am besten weiß.« Er hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen, dann fuhr er fort: »Wir haben drei oder vier Prediger gehört, die ganz ähnliche Dinge sagten wie Jimmie, aber keiner von ihnen hatte Jimmies …« Er gab ein quiekendes Geräusch von sich, ähnlich einem erschreckten Küken. »Das Wort gibt es in eurer Sprache nicht«, sagte Alien-Jimmie. »Ich glaube, wir hätten uns selbst fragen müssen, ob Leute, die keinen Namen für eine Sache haben, diese Sache überhaupt haben können – aber ihr hattet ja Jimmie, und darauf fielen wir herein.«

»Welche Sache? Könnt ihr sie uns ungefähr beschreiben?«

»Nun …« – er hielt inne, die Tentakel fuhren in seinen Pelz –, »wenn jemand dich sprechen hört, dann sieht er an deinem (Zwitscher-Quiek), ob du meinst, was du sagst. Ich kann dir eins verraten: Eure Prediger haben überhaupt nichts davon.« Der Alien schwankte plötzlich, und seine Tentakel verflochten sich halbherzig, als wäre er betrunken oder verwirrt – eine große weiße Maus, gefangen in einem Orientierungsexperiment. »Jimmie hatte ungeheuer viel (Zwitscher-Quiek)«, bekam er heraus.

In Pats Kopf kam etwas in Bewegung. Schließlich erschien es ihr am einfachsten zu sagen: »Ich weiß.«

»All die Politiker, die Reden halten – wie können sie nur erwarten, daß jemand sie wählt? Wie können die Leute übersehen, wie unaufrichtig sie sind?«

Pat schwieg nachdenklich. Gordon sagte steif: »Wir können es eben nicht. Wir können nicht sicher sein.«

»Genausowenig könnt ihr sicher sein, daß ich euch die Wahrheit sage.«

»Nein.« Obwohl die ganze Sphäre auf seine Aufrichtigkeit reagiert hatte.

»Oder Jimmie.«

»Nein«, sagte Gordon. Pat ließ es ihm durchgehen. Sie hatte gewußt, was Jimmie war, aber nur als verzweifeltes, einsames Kind. Kein Mitarbeiter der Sphäre, kein Erwachsener, hatte in Jimmie das erkannt, was sie fast alle in seinem außerirdischen Namensvetter erkannt hatten.

Nun sagte der Alien: »Vor kurzem hat Tommy uns gesagt: ›Jimmie war der wundervollste Mensch, den ich je kannte. Ich bin sicher, daß ich nie wieder jemand wie ihn kennenlernen werde. Menschen wie ihn gibt es nicht mehr. Wenn man ihn traf, glaubte man, niemand könnte so freundlich oder warm sein, aber er war es.‹ Wir waren von diesen Worten wirklich erschüttert, denn anscheinend konnten die meisten Menschen, die Jimmie trafen, ihn nicht als den wertvollen Menschen erkennen, der er war, als einen sehr klugen, freundlichen Mann.«

Pat öffnete den Mund und wollte protestieren, aber Gordon sagte schwitzend: »Das ist wahr, alles was ihr sagt, ist wahr. Wir erkennen unsere Heiligen meist nicht. Manchmal haben wir große Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen einem Ungeheuer und einem Erlöser zu erkennen – und wenn Jimmie Dodd ein so besonderer Mensch war, dann waren wir einfach nicht in der Lage, es zu sehen. Wir können es einfach nicht. Was erwartet ihr von uns? Wir können doch nichts dafür, wenn wir nicht in Seelen blicken können, oder was ihr da tut.«

»Für uns«, kreischten Alien-Jimmies Tentakel, »ist die Erkenntnis am schlimmsten, daß die Kinder, die tatsächlich in Jimmies Seele blickten, nicht besser dran waren als die Kinder, die nie eine Chance dazu bekamen.« Er schauderte für einen Augenblick, und hinter ihm schauderte Alien-Tommy mit ihm. »Unsere jungen Leute, unsere Kinder – sie müssen alle eine schreckliche Phase durchmachen, ehe sie werden wie wir. Und in der letzten Zeit ist diese schlimme Phase aus Gründen, die wir nicht verstehen, immer länger geworden, und sie wird immer schlimmer. Wir sind sehr verzweifelt … unsere Kinder schließen sich zu Banden zusammen, sie strolchen herum, sie verwüsten Dinge, legen Brände, kämpfen untereinander … irgendwann wachsen sie da heraus, aber vorher richten sie großen Schaden an.«

»Wie Berserker«, sagte Pat interessiert. »Junge Wikinger, die so gewalttätig waren, daß man sie zum Wohle der Gesellschaft in die Schlacht schicken mußte. Gibt es denn nicht eine Richtung, in die diese Aggressivität gelenkt werden kann, so daß sie keinen Schaden anrichtet?«

Alien-Jimmie legte die Tentakel um sich und wiegte sich. »Diese Aggressivität richtet immer Schaden an! Viele Tausende von ihnen sind außer Kontrolle – es gibt keine sicheren Drogen, die wir ihnen geben könnten, es sind zu viele, um sie einzusperren. Nein, das einzige, was überhaupt funktionieren kann, ist, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, bevor ihre gewalttätige Phase beginnt, und die Energie auf das zu lenken, was Jimmie ›die kleinen guten Taten‹ genannt hat. Mit anderen Leuten gut zusammenleben, Dinge aufbauen und nicht zerstören, Dinge bewahren …«

Pat begann zu begreifen. »Und ihr dachtet, eine Rasse, die einen Jimmie Dodd hervorgebracht hat, könnte euch helfen, dies zu tun.«

Der Alien hörte allmählich auf, sich zu wiegen, bis er stand wie ein Stein. »Wir glaubten, Jimmie selbst könnte uns zeigen, wie wir die Aufmerksamkeit unserer Kinder fesseln müssen. Wir hofften sogar, daß er vielleicht bereit wäre, eine Weile zu uns zu kommen. Aber als wir eintrafen, erfuhren wir, daß er tot und vergessen ist, und die Kinder, die ihn am besten kannten, waren nicht besser fürs Leben gerüstet als jene, die ihn überhaupt nicht kannten. Und im Fernsehen nichts als verlogene Prediger, kaltschnäuzige Kriminelle und raffgierige Glücksritter. Wir haben die Reise umsonst gemacht.«

»Hört mal«, sagte Pat mit einer gewissen Strenge, »ihr seid nicht vernünftig und auch nicht fair. Ihr habt Tommy erwähnt – was ist mit ihm? Was ist mit Karen, Jay-Jay oder Cheryl und all den anderen? Sie haben sich doch nicht selbst vernichtet. Und ich kann euch versichern, daß Jimmies Lehren meine Aufmerksamkeit gefesselt haben, denn sie haben mein Leben verändert. Er hat meine frühe Jugend bereichert, und es muß noch viele wie mich geben. Vielleicht war es keine Wunderheilung, aber was will man erwarten?«

Niemand antwortete, aber Alien-Jimmies Tentakel ringelten sich unablässig, als bewegte ein Mensch stumm die Lippen.

»Meine Kollegen haben mir gesagt, daß die Kinder heute nicht mehr so sind wie in meiner Jugend, und das mag stimmen«, sagte Pat. »Das Fernsehen ist mit Sicherheit anders. Aber ich glaube, eure Idee war, ohne daß ihr es wußtet, gar nicht so falsch. Ich glaube, ihr solltet nach Hause fahren und selbst eine Fernsehshow produzieren – genau wie unsere, teilweise Unterhaltung und teilweise Botschaft, aber angepaßt auf eure eigenen Jugendlichen. Die Kinder meiner Generation – viele jedenfalls – erkannten Jimmie sehr wohl als das, was er war, auch wenn es die Eltern nicht wußten. Eure Kinder werden es wissen. Ihr braucht nur den zu finden, der Jimmies Rolle am besten spielen kann, und dann laßt ihr ihn die Botschaft übermitteln. Vielleicht erreicht ihr nicht alle, aber eine Menge werden sich darauf einlassen, wenn sie erkennen können, daß ihr es wirklich zu ihrem Besten tut und nicht nur, um eine lästige Störung zu beseitigen. So hat es im Grunde auch Jimmie gemacht. Er könnte euch keinen besseren Rat geben, wenn er selbst hier wäre.«

Als der kleine Vortrag beendet war, lösten die untergeordneten Aliens ihre Formation auf und unterhielten sich mit fliegenden Tentakeln; vielleicht stritten oder brüllten sie. Pat wußte es nicht, und es war ihr auch egal. »Seht ihr«, sagte sie, »wir haben hier eine Tradition. Wie Gordon schon sagte: Wenn ein Heiliger unter uns erscheint, wird er ignoriert oder für ein Ungeheuer gehalten und getötet. Aber jemand anders – oft genug ein Fremder – versteht die Situation und übernimmt an Stelle des toten Heiligen. Und deshalb geht die Botschaft nicht verloren, weil der, der ihn erkannte, sie zu einem anderen Ort bringt, wo sie vielleicht noch dringender gebraucht wird und wo die Leute bereitwillig zuhören.«

Alien-Jimmie rollte die Tentakel ein. Er konzentrierte sich auf Pat.

»Zufällig waren die Röcke und Hosen und Socken blau.«

Der Alien sagte: »Du kannst kommen und unser Jimmie sein – komm und zeig uns, wie es gemacht wird.«

Der Vorschlag warf Pat fast von den Beinen. Sie öffnete protestierend den Mund, aber sie schloß ihn wieder und dachte nach. Schließlich sagte sie: »Wie würde das gehen?«

»Wir haben für Jimmie einen Platz auf dem Schiff vorgesehen, falls er uns begleitet hätte – dort könntest du leben. Du wirst nicht krank; wir haben Tests durchgeführt. Willst du das tun, Patsy? Willst du Jimmies Rolle spielen und den Fremden seine Botschaft bringen?«


Drei Tage später lag Pat wach im Beiboot der Mausketiere in einer Kabine, die etwa so groß war wie ihr Schlafzimmer in der Biosphäre. Das Schiff hatte den Parkorbit vor drei Tagen verlassen und näherte sich der Grenze des Sonnensystems. Sie lag auf einem Bett, das einer Fernsehkomödie nachempfunden war – wahrscheinlich ›I Love Lucy‹ – mit dicken, weichen Laken und einer dicken grauen Decke. Das Bett war zu kurz; sie mußte quer darin liegen. Sie starrte zufrieden die bleichen, leicht glühenden Wände an. Die freundlichen grauen Aliens hatten sie gefüttert und versorgt und auf ihre Bitte allein gelassen.

Im Schiff herrschte eine künstliche Schwerkraft; Pat fühlte sich etwas schwerer als auf dem Mars, aber nicht ganz so schwer wie auf der Erde.

Sie glaubte, sie würde die Erde nie wiedersehen. Jedesmal, wenn sie daran dachte, war sie überrascht, wie wenig es ihr ausmachte. Doch die Erklärung war nicht schwer zu finden. Ihre einzige Ehe war schon vor vielen Jahren geschieden worden. Die Erinnerungen an das Leben mit ihrem geschiedenen Mann schmeckten schal wie altes Bier. Sie hatte keine Kinder, und die Freunde, die noch lebten, waren auf drei Kontinenten verstreut. Sie stand kurz vor der Rente, nach einem Leben, erfüllt von Arbeit und sonst nicht viel – was, in Gottes Namen, sollte sie auf der Erde mit sich anfangen? Welchen Nutzen hätte sie noch? Vielleicht eine Beratertätigkeit und vor dem Mittagessen acht Löcher Golf? Diese Aussichten fand sie so gräßlich, daß sie lieber gar nicht darüber nachdenken wollte.

Warum, in aller Welt, sollte sie nicht einen Weg gehen, den noch nie ein Mensch gegangen war? Warum sollte sie nicht das Evangelium von Jimmie Dodd zu den jungen außerirdischen ›Berserkern‹ tragen? Vielleicht kam die Botschaft sogar an.

Gordon hatte sie für verrückt gehalten und sich nach Kräften bemüht, sie zurückzuhalten, aber da Pats Vertrag schon vor Wochen ausgelaufen war, hatte er keine juristische Handhabe. (Die NASA hätte sicher einen Weg gefunden, legal oder illegal, wenn das Schiff rechtzeitig eingetroffen wäre; aber es war nicht gekommen, und das Schiff der Außerirdischen war um mehrere Klassen besser, so daß eine Verfolgung sinnlos war.)

»Du bist zu alt, um dich auf so ein Abenteuer einzulassen!« hatte Gordon schließlich gerufen. »Das ist lächerlich und absurd! Du kommst nicht lebend zurück!« Und obwohl die Aliens versprochen hatten, sie bald wieder nach Hause zu bringen, dachte Pat, daß Gordon wahrscheinlich recht hatte. Aber was machte das schon? Ihrer eigenen Ansicht nach war sie zu alt, um nicht zu gehen. Sollte Gordon doch sehen, wie er in zehn Jahren oder so darüber dachte, wenn er selbst aufs Gnadenbrot gesetzt wurde.

Außerdem war der Gedanke, in ihrem Alter noch etwas Nützliches oder gar Heldenhaftes zu tun, einfach unwiderstehlich. Auch der Gedanke an den ewigen irdischen Ruhm, den sie sich sichern konnte, wenn sie als erster Mensch einen anderen Stern besuchte, war äußerst befriedigend, wenn auch nicht ganz so wichtig. Pat hatte es immer genossen, berühmt zu sein.

Sehr zufrieden summte Pat das Lied über das Gitarrespielen ins Halbdunkel ihrer Kabine und dachte an ihre letzte Begegnung mit Jimmie Dodd. Es war zwei Jahre vor seinem Tod gewesen. Er hatte auf einer Werbetournee ihre Stadt besucht, und sie war vom College mit einem Greyhoundbus gekommen, um mit ihm essen zu gehen. Er war trotz des kalten Morgens ohne Mantel durch die Hoteltür gestürmt, das Gesicht gerötet, das rote Haar knisternd, und er hatte seine Mausgitarre und seine Ohren in einer Hand getragen. Er hatte gerade einen Besuch im Kinderkrankenhaus hinter sich, und nun nahm er Pat in die Arme. Und in diesem Augenblick war ihre studentische Reife angesichts einer grundlegenden Wahrheit zu Asche zerfallen. Sie hatte die Gestalt betrachtet, die quer durch die Lobby auf sie zustürmte – und ich habe ihn verstanden, sagte sie sich, ich habe ihn gesehen, ich sah Jimmie an diesem Tag so scharf, wie sein Alien-Ersatz ihn sehen konnteund ich habe bekommen, was ich wollte. Vielleicht würden die Aliens es auch bekommen.


Originaltitel: ›Not Without Honor‹

Copyright © 1989 by Judith Moffett

(erstmals erschienen in: ›Isaac Asimov’s Science Fiction Magazine‹, Mai 1989)

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Langowski

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