Vance Aandahl Im Lichte des Heiligen Krauts



Keine Ferne macht dich schwierig.

Kommst geflogen und gebannt,

Und zuletzt, des Lichts begierig,

Bist du Schmetterling verbrannt.

– GOETHE


Das ist verrückt, dachte Mark. Auf was habe ich mich da eingelassen? Er sah auf den Tachometer, dessen Nadel auf über sechzig kletterte.

»Steven«, sagte er, »glaubst du nicht, du übertreibst ein bißchen? Ich meine …«

»Ach was, red keinen Scheiß und genieß die Fahrt! Ich weiß, was ich tue.«

Mark duckte sich, als Steven das Pedal bis unten hin durchtrat. Sie rasten nun noch schneller durch die Dunkelheit, mit einer Geschwindigkeit von fünfundsechzig, siebzig, fünfundsiebzig Meilen in der Stunde auf der kurvigen Bergstraße. Der alte Plymoth hatte weder eine Windschutzscheibe noch sonstige Fenster. Ein ständiger Strom von Nachtluft rauschte durch ihn hindurch und peitschte Marks lange Haare und seinen Bart wild in alle Richtungen und wehte ihm scharf in die Augen, so daß er die Straße vor ihnen nicht sehen konnte.

Warum o warum habe ich mich auf ein so hirnverbranntes Unternehmen eingelassen? Dieser Steven – wer immer er sein mag – muß eine Art Wahnsinniger sein. Und von dem anderen Typen weiß ich nicht einmal den Namen.

Mark warf einen Blick hinüber zu dem Rastafarier, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Der tobende Wind zerrte an den wirren Reggaelocken des Rasta-Mannes, doch seine blutunterlaufenen Augen erschienen unbeeindruckt, unerschütterlich ruhig, uralt und weise. Entweder das, oder er war so high, daß ihm nichts etwas ausmachte.

Schneller und immer schneller preschte der alte Plymoth die Steigung hinauf, fuhr auf zwei quietschenden Reifen durch die Kurven, wobei sein überdrehter Motor heulte und seine Scheinwerfer einen verrückten Tanz über das Dickicht tropischer Büsche zu beiden Seiten der Straße vollführten. Schotter knallte wie Schrot aus einer Flinte gegen den Unterboden des Wagens. Steven nahm gerade so viel Gas weg, daß er den Plymoth durch eine scharfe Haarnadelkurve brachte, ohne sich in den Dschungel zu überschlagen. Gleich darauf wurde die Straße noch schmaler und endete unvermittelt auf einer Lichtung. Mark zuckte zusammen, als Steven mit voller Wucht auf die Bremse trat. Der Plymoth schleuderte seitlich über die erdige Grasnarbe und kam in einem verflochtenen Gestrüpp holpernd zum Stehen.

Einen Moment lang saßen die drei da und ließen die plötzliche eindringliche Stille auf sich einwirken. Der einzige Laut war das schwache Summen eines Moskitos. Die Spitze eines Farnwedels, die durch den leeren Rahmen des vorderen Fensters hereinragte, kitzelte Mark leicht an der Backe.

»Hier isses, Mann«, sagte der Rasta mit sanfter, melodischer Stimme. Er lächelte geheimnisvoll, dann glitt er geschmeidig aus dem Wagen.

Marks Herz pochte wild, während er nach Steven auf der Fahrerseite ausstieg. Er hatte den jungen Mann mit dem Stoppelhaarschnitt früher am Abend kennengelernt, und zwar im ›Blauen Gockel‹ in Trenchtown. Während sie sich unterhielten, hatten sie gemeinsam eine Flasche Rum der Hausmarke geleert. Steven hatte sich immer weiter über den Tisch gebeugt, bis sein jungenhaftes Gesicht fast Marks berührte. Er hatte Mark in einem verschwörerischen, höchst vertraulichen Ganz-unter-uns-Ton in den Drogendeal eingeweiht, den er vorhatte. Benebelt vom Rum, hatte Mark spontan gehandelt und sich nicht nur bereit erklärt, als Partner ins Geschäft einzusteigen, sondern auch die Hälfte des Startkapitals beigesteuert. In dem Moment war er von einem überschwenglichen Hochgefühl wegen seiner unternehmerischen Gerissenheit beseelt gewesen. Jetzt kam er sich wie ein Dummkopf vor. Er saß in der Falle, in einer äußerst mißlichen Lage, die immer übler wurde; er war ihr hilflos ausgeliefert und konnte nichts anderes tun, als sich mitziehen zu lassen und das Beste zu hoffen. Zum Aussteigen war es zu spät.

Die beiden hängten sich an die Fersen des Rasta-Mannes, der durch den Mondschein auf die gegenüberliegende Seite der Lichtung ging. Ihre Schuhe verursachten schmatzende Geräusche im Matsch.

Der Rasta bückte sich, griff unter einen Busch und zog einen großen Seesack aus Segeltuch hervor.

»Echter Blue-Mountain-Stoff, Ganja vom Feinsten, Mann!«

Er stellte den Seesack aufrecht vor sich hin und kniete nieder, um ihn aufzuknüpfen. Der beißende Duft von Marihuana stieg Mark in die Nase.

»Das is’ neue Ernte – nich’ so’n vertrocknetes Zeug, wie ihr’s in den Staaten raucht.«

»Beste Ware, was?« Steven fuhr sich mit einer Hand über die dichten Haarstoppeln und beugte sich vor, um in den Sack zu spähen. Mark stand einfach nur da; er hatte Angst, sich zu bewegen, während sein Herz vor Furcht und Aufregung raste.

»Echtes Ganja. Das is’n heiliges Kraut. Die Pflanze hat ’nen lebendigen Geist. Der kann uns was sagen. Der kann uns erleuchten. Der kann uns erfüllen mit der telepathischen Inspiration des Allmächtigen Selassie I Rastafari. Wenn einer, der sich ’ne Dosis von dem Ganja reinzieht, Liebe im Herzen hat, dann is’ Ganja zufrieden mit ihm und macht’n glücklich.«

Der Rasta stand auf und sah über Stevens Schulter hinweg Mark an. Er blickte Mark direkt in die Augen und schenkte ihm ein breites, unschuldiges, kindliches Lächeln.

»Erst nehm’ wer das Ganja und tun’s ins Auto. Dann könnt ihr mich bezahlen.«

»Wir bezahlen dich, klar.« Stevens Hände zitterten. Er zog den Reißverschluß seines Pilotenblousons auf und holte eine Pistole heraus. »Du bescheuerter Nigger!«

»Nein!« schrie Mark. »Tu’s nicht …«

Entsetzt starrte er auf die Waffe in Stevens Hand, die schnell hintereinander dreimal zurückschlug. Es war nicht das geringste zu hören. Verschwommen wurde Mark klar, daß die Waffe mit einem Dämpfer ausgestattet sein mußte. Oder vielleicht stand er auch unter Schock und konnte nichts hören. Sehen konnte er jedoch. Im Licht des Mondes erschienen drei glatte, schwarze Einschußlöcher auf der einen Seite des ausgefransten Bob-Marley-T-Shirt des Rasta-Manns, und – geheimnisvolle Rätsel – der Mann lächelte nur! Seine blutunterlaufenenen Augen blinzelten kein einziges Mal. Sie blieben unbeeindruckt und unerschütterlich ruhig, uralt und weise.

Steven taumelte zurück, den Mund zu einem Schrei geöffnet. Doch schließlich sanken die Augenlider des Rasta-Mannes herab, und er stürzte seitlich zu Boden; als sein Körper mit dem Gewicht des Todes auf dem vom Regen aufgeweichten Dschungelboden aufkam, gab es dumpfes Platschen.

»Mein Gott …«, flüsterte Mark. »Du … du hast ihn umgebracht.«

»Für ’nen bepißten Scheißhippie kapierst du ganz schön schnell.« Steven grinste höhnisch und richtete die Pistole auf Marks Kopf. »Vielleicht sollte ich mit dir auch aufräumen.«

Ein Teil von Mark wollte sich umdrehen und wegrennen. Ein anderer Teil schäumte vor Wut.

»Vielleicht solltest du das«, fauchte er. »Du beschissener, widerlicher Hurensohn.«

Schneller als Mark es für möglich gehalten hätte, machte Steven einen Satz nach vorn und schlug ihm mit dem Pistolenlauf auf den Mund. Mark spürte, wie seine Lippe aufplatzte, ein Zahn zerschmettert wurde, ein spitzer, stechender Schmerz durch seinen Gaumen hinauffuhr und in der Stirn explodierte. Er stolperte zurück, beugte den Kopf tief nach unten und betastete sein Gesicht mit beiden Händen. Sie fühlten sich naß an. Benommen nahm er die Finger von seinem Mund und sah zu ihnen hinunter. Seine Hände waren blutverschmiert. Er hielt sie gewölbt auf, um das Blut aufzufangen, das immer noch aus seinen Lippen quoll und von seinem Bart tropfte.

»Hinlegen, Pisser! Sofort!«

Mit einem heftigen Pochen in der Mundgegend und Schwindel im Kopf sank Mark auf Hände und Knie nieder.

»Ganz runter, Pisser – auf den Bauch!«

Die Stimme klang in Marks Ohren metallisch und unwirklich. Er zögerte. Etwas traf ihn in der Seite und warf ihn mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm.

O mein Gott! Er hat auf mich geschossen! Er hat auf mich geschossen!

»Okay, Pisser, bleib schön so liegen. So ist es brav. Schieb deine Arme unter deinen Körper und behalt sie dort.

Und weißt du, was ich jetzt von dir will, Pisser? Jetzt pack nach unten und drück deine Eier, drück sie richtig fest, weil ich keine Hippies leiden kann, Pisser – ich hab’ Hippies noch nie leiden können, und schon gar keine alten Hippies –, und wenn du dich den Bruchteil eines Zentimeters bewegst oder auch nur heftig atmest, blas’ ich dir dein Scheißgehirn aus dem Kopf.«

Marks Mund war gefühllos geworden, doch der Schmerz in seiner Seite war qualvoll. Er biß die Zähne aufeinander und versuchte stillzuliegen. Als er sich ganz auf diesen Schmerz konzentrierte, kam er zu dem Schluß, daß er nicht von einem Schuß herrührte, sondern von einem festen Fußtritt in die Rippen. Vielleicht waren eine oder zwei seiner Rippen gebrochen, doch er war nicht angeschossen. Noch nicht.

»Laß dir mal was sagen, Pisser. Mit deinem zotteligen Haar siehst du aus wie ein verdammt verlaustes Tier. Wenn ich mir Tiere angucken will, dann geh’ ich in den Zoo – dafür brauch’ ich keine Scheißhippies.« Stevens Stimme überschlug sich und zischte vor Haß, wurde immer schriller. »Ich wette, du fickst deinen Hund von hinten, Pisser. Ich wette, du bohrst dir in der Nase und frißt es auf. Ich wette, du rollst deine Scheiße zu kleinen Kügelchen und spielst damit, oder? Oder? Oder?«

Gott hilf mir, dachte Mark. Ein eisiger Schauder durchfuhr ihn, und mit Entsetzen begriff er vollkommen, was Steven tat. Es war für Steven verhältnismäßig leicht gewesen, den Rasta-Mann zu töten, denn ein Rasta war nur ein Jamaikaner, ein Schwarzer, ein Nigger – ein Nichts in der verzerrten Wertskala eines Mörders. Aber Mark wäre nicht so leicht umzubringen. Mark war Amerikaner, noch dazu ein weißer. Bevor Steven den Abzug betätigen konnte, mußte er sich selbst in eine psychische Raserei steigern, und das erreichte er dadurch, daß er seinem Opfer grobe Schweinereien an den Kopf warf.

»Bitte, bitte … bring mich nicht um!«

Mark sprach in einem heiseren, kläglichen Flüsterton. Die Angst hatte sich ihm auf die Stimmbänder gelegt.

»Ich werde es niemandem verraten … ich verspreche es …«

Er haßte sich selbst wegen seines Flehens. So sehr hatte er sich noch nie im Leben erniedrigt. Doch er konnte es nicht verhindern, daß er die Worte herauspiepste.

»Bitte … ich will nicht sterben …«

Er konnte nicht weitersprechen – sein Kinn hatte eine Sperre. Durch die zertrümmerten Zähne stieß er ein Schluchzen und Wimmern wie ein Baby aus. Unwillkürlich verkrampften sich seine Hände zu Krallen und bohrten sich tief in den Schlamm. Alle Muskeln seines Körpers zogen sich zusammen, strafften sich, bis er sich wie ein Stück Metall vorkam, das einen Belastungstest unterworfen war. Zu seiner Verwunderung merkte er, daß er vor Angst buchstäblich gelähmt war. Wenn die Spannung noch weiter anwuchs, würde seine Wirbelsäule ausrasten.

Er hörte, wie Steven in sich hineinkicherte. Der kleine Metallmund der Pistole wurde fester gegen seinen Schädel gedrückt. Plötzlich ertönte ein lautes Summen im Innern seines Kopfs, schwoll immer mehr an, dröhnte in seinen Ohren, überdeckte Stevens dümmliches Lachen und ließ Mark in Dunkelheit versinken. Im letzten Moment erkannte sein Gehirn in dem schrumpfenden Guckloch seines Bewußtseins, was das Summen war – es war das gleiche Geräusch, das man hörte, wenn man zu schnell aus der Hocke aufstand und ohnmächtig wurde.


Irgendwo heulte ein Motor auf. Marks Sinne tauchten wirbelnd aus der Dunkelheit auf. Er vermutete, daß er nur kurze Zeit ohnmächtig gewesen war, zwanzig oder dreißig Sekunden, höchstens eine Minute lang. Stöhnend bemühte er sich, den Kopf zu heben und sich umzuschauen.

Durch den verschwommenen Widerschein des Mondlichts sah er, wie auf der anderen Seite der Lichtung der alte Plymoth rückwärts aus dem Farn fuhr. Steven saß auf dem Fahrersitz. Während er die alte Kiste wendete, rieb er sich die Stoppelhaare und grinste Mark höhnisch an.

»Viel Glück, wenn du das hier den Bullen von Kingston erklären mußt, Pisser.«

Mit dröhnendem Gelächter ließ er den Motor aufheulen und schoß mit dem Plymoth quer über die Lichtung, wobei er direkt über den Körper des Rasta-Mannes fuhr. Mark sah, wie der Seesack mit dem Marihuana auf dem Rücksitz auf und ab hüpfte. Er drehte den Kopf und blickte den Rücklichtern nach, die sich schlingernd und bebend auf der Straße außer Sichtweite entfernten.

Eine Zeitlang blieb er noch einfach so auf dem Bauch liegen, zu schwach, um aufzustehen. Endlich gelang es ihm mit aller Anstrengung, auf die Füße zu kommen, und mit leerem Blick starrte er in die Richtung, in der der Wagen verschwunden war.

Dieser Verbrecher. Bis ich bei der Polizei Anzeige erstattet habe, wird er längst außer Landes sein. Ich weiß nicht einmal, ob Steven sein richtiger Name ist. Es wird darauf hinauslaufen, daß man mir den Mord in die Schuhe schiebt, und das weiß er ganz genau.

Marks Oberlippe fühlte sich an, als ob sie zur Größe eins Golfballs angeschwollen wäre. Schmerzstöße schossen von seinen zerschmetterten Zähnen in die Nebenhöhlen hoch. Blut und Schlamm hatten seinen Bart verklebt. In seiner Rippengegend pochte ein schrecklicher Schmerz.

Sachte drehte er sich um und ließ den Blick über die Lichtung schweifen. Dort lag der Rasta-Mann, flach auf dem Rücken; sein Körper war teilweise im Schlamm versunken, wo ihn der Plymoth beim Überfahren niedergedrückt hatte.

Mark schleppte sich über die Lichtung und kniete neben dem Rasta nieder. Das Mondlicht erhellte das Gesicht des Schwarzen. Seine Züge waren gelassen, fast friedlich. Er glich einem liegenden Heiligen. Er hatte sich im Einklang mit sich selbst und der Welt befunden, als er starb, und es war noch zuwenig Zeit vergangen, als daß die Totenstarre seinen Mund zu einem hämischen Grinsen zurückgezogen hätte.

Mark beugte sich näher zu ihm. Er hatte den Eindruck, als ob sich die Lippen des Rastas öffneten. Die Härchen in seinen Nasenflügeln zitterten. Bildete Mark sich das nur ein, oder hob und senkte sich die Brust des Mannes tatsächlich, bewegte sie sich kaum wahrnehmbar in flachen Atemzügen auf und ab?

Du heilige Scheiße! Er lebt noch! Was soll ich jetzt machen?

Mark stand auf, überquerte die Lichtung und machte sich auf den Weg entlang der Straße, so schnell, wie die Schmerzen in seiner Seite es erlaubten. Beeil dich, ermahnte er sich selbst. Du mußt einen Arzt finden oder eine Krankenschwester oder irgend jemand, der dem armen Kerl helfen kann. Flink trugen ihn seine Beine auf der Straße dahin, immer weiter weg von dem Rasta.

Wem machst du eigentlich etwas vor? Du hast doch gar nicht die Absicht, Hilfe zu holen. Dir geht es doch nur darum, so schnell wie möglich den Berg hinunter und in dein Hotelzimmer zu kommen und deine Sachen zu packen und so blitzartig wie der Teufel aus Jamaika hinauszukommen, bevor irgend jemand dir Fragen stellt. Du rennst so, damit du nicht geschnappt wirst, genau wie Steven. Dort hinter dir liegt ein Mensch im Sterben, aber dir ist das gleichgültig. Du hast viel zuviel Angst, um dich noch länger hier aufzuhalten und ihm zu helfen. Steven hat recht. Du bist ein Pisser.

Er zwang sich mit aller Willensanstrengung zum Anhalten. Da stand er nun in der Dunkelheit und wußte nicht, was er tun sollte. Seine Beine zitterten. Die Feigheit in ihm wirkte wie eine physische Kraft. Er spürte, wie sie seine Muskeln anspannte und ihn dazu trieb, sich so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone zu begeben. Das einzige, was ihn zurückhielt, war ein Bild vor seinen Augen – die fließende, mondbeschienene Erinnerung an das Gesicht des Rastas.

Ich kann ihn nicht einfach dort liegenlassen. Er braucht Hilfe. Und er braucht sie sofort.

Zitternd machte Mark kehrt und folgte seinen Fußspuren zurück. Er stand über den Rasta gebeugt da und blickte in hilfloser Verwirrung in dieses heiligenähnliche Gesicht.

Also, was soll ich jetzt tun? Er wurde in die Brust geschossen. Er wurde von einem Auto überfahren. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts mit Erster Hilfe zu tun gehabt. Ich bin auf diesem Gebiet ein vollkommener Idiot. Ich bin nicht einmal in der Lage, einen gottverdammten Verband anzulegen.

Mark kauerte sich neben dem Rasta nieder. Er hatte nicht die blasseste Ahnung, wie er vorgehen sollte. Der Drang, aufzuspringen und wegzulaufen, wuchs in ihm, und er zwang ihn mit Gewalt nieder. Tu etwas! befahl er sich selbst. Statt dessen zögerte er weiter und haßte sich gleichzeitig, daß er so ängstlich war, so unfähig, so vollkommen außerstande zu handeln.

Endlich zwang er sich mit aller Willenskraft dazu, die Hände unter den Rücken des Rastas zu schieben und den Mann aus dem Schlamm zu heben, in dem er versunken war. Der Rasta stöhnte, als Mark seine Brust anhob. Mark stöhnte ebenfalls, und dann krempelte er das blutgetränkte Bob-Marley-T-Shirt hoch, um die Schußwunden des Mannes zu untersuchen.

Es waren drei, genau wie er es in Erinnerung hatte. Die Löcher lagen auf der linken Seite der Brust ungefähr übereinander, weit genug außerhalb der Mitte, um das Herz unversehrt zu lassen.

Sein linker Lungenflügel muß in Fetzen gerissen sein. Ich weiß nicht genau – gibt es noch andere lebenswichtige Organe auf der linken Seite der menschlichen Brust? Vielleicht die Milz? Oder die Niere oder die Leber oder was?

Die Augenlider des Rastas hoben sich langsam. Ernst blickte er in Marks Gesicht, begleitet von einem leisen, blubbernden Ton, und aus einem Mundwinkel troff eine Schaumspur mit blutigen Bläschen.

Mark stand auf und blickte wild um sich. Die Lichtung war nicht sehr groß. Ringsum war sie von dichtem Dschungel umgeben.

Irgendein Farmer oder sonst jemand mußte doch hier in der Gegend wohnen. Warum gäbe es sonst eine Straße? Vielleicht gibt es sogar jemand, der ein Telefon besitzt oder mir sagen kann, wie ich schnell eins erreiche.

Er schritt den inneren Kreis der Lichtung ab. Gegenüber der Straße fand er den Anfang eines Pfads. Er machte vorsichtig ein paar Schritte auf dem Pfad, hielt sich die Hände gewölbt vor den Mund, sog soviel Luft in seine Lunge, wie sein schmerzender Brustkasten zuließ, und schrie, so laut er konnte: »Hilfe!« Es kam nur halb und so laut heraus, als er beabsichtigt hatte – als jämmerliches Krächzen. Seine Kehle war immer noch wie zugeschnürt, und nicht nur wegen des Schreckens, den er vor wenigen Minuten durchgemacht hatte, sondern auch wegen einer neuen Angst, der Angst, daß er durch seine Hilfeschreie jemanden noch viel Schlimmeres als Steven herbeirufen könnte.

Jetzt fang nicht an, unter Verfolgungswahn zu leiden, ermahnte er sich selbst. Er holte erneut tief Luft und schrie noch einmal »Hilfe!« Diesmal klang seine Stimme sogar noch schwächer.

Lange Zeit blieb er so still wie möglich stehen und lauschte auf Antwort. Er hörte das surrende Flügelschlagen eines Käfers im Flug, und einen Laut, der sich wie das Quaken eines Frosches anhörte. Moskitos schwirrten um einen Tümpel auf der einen Seite der Lichtung. Ansonsten herrschte Schweigen im Dschungel.

Er versuchte es noch einmal, rief das gleiche Wort wieder und wieder, ging auf dem Pfad ein Stück weiter und schrie in alle Richtungen. »Hilfe! Jemand ist verletzt. Wir brauchen einen Arzt!« Jedesmal, wenn er seine Lungen mit Luft vollsog, wurde der Schmerz in seiner Rippengegend schlimmer. Bei jedem Ruf klang seine Stimme dünner und heiserer, und die dichte Dunkelheit um ihn herum weigerte sich zu antworten.

Schließlich löste ein besonders tiefer Atemzug fast so etwas wie einen Erstickungsanfall aus. Statt weiter zu rufen, griff er mit beiden Händen nach unten, um sie wie eine Kompresse auf seine verletzten Rippen zu drücken. Als er jedoch die Stelle berührte, durchfuhr der Schmerz schrill seinen Körper, wie eine tödliche Folterqual, und seine Knie drohten wegzusacken.

Sieh dir deine Finger an! Im Mondlicht glitzern sie vor Feuchtigkeit. Er hielt sie sich dicht vor die Augen, um sicherzugehen.

Das ist frisches Blut. Ich bin dort unten verwundet. Ein Fußtritt würde mich nicht zum Bluten bringen. Steven hat mich also doch angeschossen, wie ich vermutet hatte. Mein Gott, er hat es wirklich getan! Ich bin mit einer Schußwunde herumgelaufen, und wußte es nicht einmal! Wie schlimm ist es? Werde ich sterben, ja?

Er hatte nicht das Gefühl, sterben zu müssen. Die Wunde tat zum Wahnsinnigwerden weh, aber er wußte, daß sie nur oberflächlich sein konnte. Die Kugel hatte wahrscheinlich seine Seite gestreift und dabei die Haut aufgerissen und eine oder zwei Rippen gebrochen, war aber sicher nicht tief eingedrungen.

Du wirst wieder okay sein, tröstete er sich selbst. Beruhige dich doch und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen! Du mußt dir etwas einfallen lassen! Du mußt etwas tun!

Er ging wieder in die Mitte der Lichtung und kniete sich neben dem Rasta nieder. Der Mann atmete immer noch. Mark erhob sich und drehte sich langsam um sich selbst, wobei er die Ränder der Lichtung in Augenschein nahm. Ihm wurde klar, daß das Rufen nach Hilfe ein törichtes Unterfangen gewesen war. Der Dschungel ringsum war zu undurchdringlich, zu wild – ganz bestimmt wohnte niemand innerhalb Rufweite von der Lichtung entfernt. Vielleicht war der Pfad von Tieren gemacht worden, nicht von Menschen. Und die Straße? Welchem Zweck die Straße auch einst gedient haben mochte, jetzt war sie nicht mehr in Gebrauch. Soweit er wußte, wurde sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Während ihrer Fahrt den Berg hinauf hatte sie sich während der letzten Meile oder so weder wie eine Straße angefühlt noch so ausgesehen, sondern eher wie die Trampelspur brünftiger Auerochsen, von der der Dschungel wieder Besitz ergriffen hatte und die er bald vollends überwuchern würde.

Er ging zu der abschüssigen Seite der Lichtung und blickte die Straße entlang. Wie weit müßte er wohl auf ihr wandern, bis er jemanden finden würde? Er erinnerte sich, daß er am Straßenrand einige Hütten gesehen hatte, kurz bevor die kurvenreiche Strecke anfing, aber wie weit war das entfernt?

Verzweifelt über seine Unentschlossenheit ging er wieder in die Mitte der Lichtung. Er sah hinunter zu dem Rasta, dann schaute er wieder auf, hoffte, daß ihn die tropische Düsternis auf eine Lösung bringen würde, dann senkte er den Blick erneut. Er musterte den Rasta eindringlich. Während er mit der Zungenspitze seinen abgebrochenen Zahn befühlte, überlegte er wieder, was er tun sollte. Mit Schrecken stellte er fest, daß er die Hände rang wie eine gereizte Mutter. Seine Zunge berührte einen bloßliegenden Nerv, und den Zahn durchfuhr ein brüllender Schmerz. Ein Schwindelanfall wogte durch seinen Körper und machte ihn benommen. Er starrte den Rasta an.

Du könntest ihn den Berg hinuntertragen. Du kannst ihn so weit hinuntertragen, bis du die Hütten erreichst. Das ist die einzige Chance für den armen Kerl.

Mark beugte sich hinunter und packte den Rasta in den Achselhöhlen. Doch als er ihn hochziehen wollte, explodierte die Wunde in seiner Seite wie eine Bombe. Er schrie auf und ließ den Rasta fallen. Zusammengekauert nach vorn geduckt, wartete er auf das Nachlassen des Schmerzes.

Du Idiot! Du hirnverbrannter Idiot!

Endlich erlosch das Feuer in seiner Rippengegend fast. Mit unbeschreiblicher Vorsicht reckte er seinen Rücken gerade und stellte sich aufrecht. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und wünschte, er könnte genauso leicht vierzig verheerende Jahre der Zügellosigkeit, der Langeweile und der Verzweiflung wegwischen und sein Leben neu beginnen. Wäre es nicht wundervoll, wieder Kind zu sein wie damals in Omaha, zur Highschool zu gehen und über die Eltern zu maulen und das ganze Taschengeld für die Verabredung am Freitagabend aufzuheben? Wie sehr er sein Leben seit jener Zeit vergeudet hatte!

Plötzlich hörte er etwas. Wenigstens glaubte er, etwas zu hören. Er war sich nicht sicher, doch es klang wie Stimmengemurmel in der Ferne. Es verebbte bis an die Grenze zur Stille. Dann konnte er absolut nichts mehr hören.

Langsam ging er über die Lichtung zu dem Pfad und blieb dort stehen, um angestrengt zu lauschen, ob er die Stimmen wieder aufnehmen konnte. Als er sie schließlich wieder hörte, fast im Unterbewußtsein, erschienen sie ihm noch weiter entfernt.

O Gott, es sind wirklich irgendwo dort Menschen! Doch es hört sich an, als ob sie sich in die entgegengesetzte Richtung entfernten.

»Hilfe! Hier sind wir! Wir sind verletzt!«

Die Worte drangen krächzend als rauhes Flüstern aus seiner Kehle. Er wollte schreien, doch er konnte nicht. Seine Rippen schmerzten zu sehr, und seine Stimmbänder gehorchten ihm nicht.

Niemand wird dieses jämmerliche Gekrächze hören. Du mußt dich schon aufraffen und hinter ihnen herlaufen. Und zwar schnell, sofort, bevor sie zu weit weg sind.

Er setzte sich auf dem Pfad in Bewegung. Das Laub der Bäume schloß sich zu einem Dach über ihm, durch das fast kein Mondlicht drang, so daß er Schwierigkeiten hatte zu sehen, wohin er die Füße setzte. Nach einer oder zwei Minuten wurde der Pfad schmaler. Die Dunkelheit umschloß ihn, und er blieb stehen.

Das ist wahnsinnig! Wenn ich mich verirre?

Doch dann hörte er die Stimmen wieder, irgendwo an dem Hang über ihm. Sie waren immer noch schwach, aber nicht mehr so weit weg wie zuvor. Diesmal konnte er seine Stimmenmelodie mit kleinen Unterschieden in der Lautstärke, im Ton und der Klangfarbe erkennen, und er vermutete, daß es sich mindestens um drei oder vier Sprechende, die sich lebhaft unterhielten, handeln mußte.

Was sind das für Leute? Wenn ich sie nun zur Lichtung führe und sie glauben mir die Geschichte nicht? Wenn sie zu der Überzeugung kommen, ich hätte den Rasta erschossen? Wenn sie seine Freunde sind und er stirbt? Dann bringen sie mich vielleicht um. Vielleicht, das könnte passieren.

Seine Beine zitterten. Der Versuch, den Rasta retten zu wollen, war sinnlos. Der Mann hatte keine Chance. Eine seiner Lungen war zerfetzt. Er erstickte an seinem eigenen Blut. Es wäre wirklich viel vernünftiger, wenn er umkehren und über den Pfad zur Straße wandern würde, und immer weiter, bis zu seinem Hotelzimmer, wo er sich duschen und umziehen und ein Taxi zum Flughafen nehmen und sich ins nächste Flugzeug in die Vereinigten Staaten setzen könnte.

Warum, zum Teufel, soll ich das Risiko eingehen, umgebracht zu werden? Oder noch schlimmer, irgendwo in einem dreckigen jamaikanischen Gefängnis für den Rest meines Lebens dahinzudarben? Ich habe nichts verbrochen.

Da er nicht wußte, in welche Richtung er gehen sollte, blieb er stehen und lauschte auf die Stimmen über ihm am Hang. Ihre Unterhaltung hatte einen schwungvollen Rhythmus, sie glich einer einschmeichelnden Musik.

Komm jetzt, Mark! Das mag dich zwar einiges an Überwindung kosten, aber die Rettung dieses Rasta-Mannes ist das einzig wirklich Anständige, das du je in deinem Leben unternommen hast. Du kannst jetzt nicht kneifen.

Mit einer merkwürdig drängenden Entschlossenheit arbeitete er sich auf dem Pfad voran, schob Farnwedel zur Seite, watete durch Matsch und Flächen mit nassem Moos, tastete sich Schritt für Schritt vorsichtig über verflochtene, knorrige Wurzeln und bewegte sich unablässig und doch langsam genug voran, daß seine Wunde keinen brüllenden Schmerz aussandte. Jedesmal, wenn er einen Halt einlegte, konnte er die Stimmen deutlicher hören – es waren allem Anschein nach Männerstimmen – sechs oder sieben, die lyrisch ineinanderflossen und sich zu etwas vereinten, das sich jetzt mehr wie ein Singsang oder eine Litanei anhörte als nach einer normalen Unterhaltung.

Wer immer sie sein mochten, offenbar führten sie irgendeine Zeremonie oder etwas Ähnliches durch. Es gibt doch keine primitiven Stämme mehr in Jamaika, oder? Mark hatte die Vision eines großen schwarzen Suppentopfes, umringt von Kannibalen mit tätowierten Gesichtern und zugespitzten Zähnen, bis er dieses absurde Witzbild aus seinem Kopf verbannte. Du Blödmann! Was glaubst du eigentlich, wo du bist – in einem Tarzan-Comic?

Er wich einem dicken, mit Pilzen bewachsenen Baumstumpf aus, kletterte einen kleinen Damm hinauf und stellte fest, daß er auf einer ebenen Fläche stand. Hier wurde das Mondlicht nicht von Bäumen abgehalten. Eine Vielfalt von Laubgewächsen umgab ihn, keins unter zwei Meter vierzig hoch. Ein schwerer Duft stieg ihm in die Nase. Er untersuchte eine der Pflanzen genauer und erkannte sofort das vertraute Muster ihrer Blätter, die schmale elliptische Form, die Anordnung in Fünfergruppen, die üppige Pracht der Knospen, die kurz vor dem Aufbrechen zur Blüte standen.

Ganja. Ein ganzes tolles Feld voller Ganja! Ich werde verrückt!

Er war noch nicht nah genug herangekommen, um zu verstehen, was sie sagten, aber er konnte die Stimmen jetzt deutlich hören. Eine Stimme bestritt den größten Teil des Gesprächs, während die anderen mit kurzen, doch häufigen Zwischenbemerkungen reagierten.

Um sich den Stimmen weiter zu nähern, mußte Mark sich zwischen den Stengeln der Ganja-Pflanzen hindurchschlängeln, da es hier keinen Pfad mehr gab. Er hielt sich beide Hände vors Gesicht, um sich gegen die Zweige abzuschirmen, und drang in die dichte Vegetation ein. An manchen Stellen war der Bewuchs so dicht, daß er das Gefühl hatte, durch eine Hecke zu brechen. Wenn es noch dichter würde, könnte er ohne Messer nicht weiterkommen.

Dies ist kein kultivierter Anbau. Die Pflanzen stehen viel zu dicht beisammen. Es ist ein Dschungel, ein ganzer gottverdammter natürlicher Dschungel mit Pot!

Während er sich weiter einen Weg durch ein Gewirr von herabhängenden Zweigen bahnte, stoben Wolken aus Pollen von den Blütenknospen auf, kitzelten ihn in der Nase und reizten seine Augen. Er unterdrückte ein Niesen.

Was für ein Duft! Die weiblichen Pflanzen mußten sich auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Wirkungskraft befinden.

Während er sich weiterarbeitete, sah er Abermillionen von mondbeschienenen Pollen, die in der Luft rings um ihn schwebten. Er schmeckte sie auf der Zunge und spürte, wie sie bei jedem Einatmen seine Nasenflügel auskleideten. Sie klebten auf dem Schweißfilm seiner Haut fest. Aber vor allem erfüllten sie seinen Kopf mit einem drückend schweren und trunken machenden Duft.

Ihm fiel ein, daß er einmal in einem Buch über den Anbau von Marihuana gelesen hatte, daß die Erntearbeiter in Algerien beim Pflücken von indischem Hanf sich Tücher vor die Gesichter binden, damit sie die Pollen nicht einatmen. Wenn ein Arbeiter sein Tuch abnimmt, wird er so ungeheuer high – so high, daß er vergißt, wo er ist und was er tut, so high, daß er sich hinlegt und auf dem Feld einschläft, so high, so high, daß er davonschwebt, davonschwebt wie die Pollen, gleitet durch weiches Mondlicht, dessen Strahlen durch das Laub fallen und träge Arabesken und Schnörkel zeichnen und ihn in ein wogendes silbernes Meer aus Licht einhüllen, und wirklich, es stimmte, er rauchte seit dreißig Jahren Joints, doch niemals war er so schnell so high geworden, und er wurde immer noch mehr high, er schwebte hoch und höher und höher, und jeder neue Atemzug wogte durch seine Lunge in seinen Blutstrom und in sein Gehirn wie eine Flutwelle psychedelischer Energie.

Er machte einen Schritt, und der schien endlos zu dauern. Er war sich ganz genau bewußt, wie sich sein Fuß vom Boden abhob und nach vorn ausschwenkte. Jede mikroskopische Weiterführung des biomechanischen Vorgangs des Laufens enthüllte sich ihm in Ultra-Zeitlupe.

Während des nächsten Schrittes konzentrierten sich seine Augen auf ein einzelnes Ganjablatt an der Spitze eines Zweigs. Er erforschte die Blattdecke, das Glitzern des Harzes auf seiner Oberfläche, das feine Spitzenmuster der Adern und Rippen, die Zartheit seiner gezackten Ränder, und ihm schien, als durchschaute er mit einemmal alle Geheimnisse botanischer Konstruktionen, die Rätsel der Photosynthese und Transpiration klärten sich für ihn in einem Augenblick göttlicher Offenbarung.

Während des nächsten Schrittes richtete er seine Augen in Naheinstellung auf ein anderes Blatt. Es bäumte sich ihm aus der Dunkelheit entgegen: gewaltig, bedrohlich, strahlend und mit metallisch glitzernden Lichtreflexen wie ein George-Lucas-Raumschiff oder vielleicht eine intergalaktische Kriegskanone der Maori; oder vielleicht war es auch nur eine große Bronze-Statue, von Grünspan überzogen, eine abstrakte expressionistische Skulptur, die im Wohnzimmer seines Geistes herumstand.

Während des nächstes Schrittes sah er sie alle gleichzeitig, Tausende von kleinen grünen Gebilden, die ihn ihrerseits anblickten, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, was sie waren oder wo er war und was er tat oder wer er war. Er fühlte sich wie eine Motte oder ein Windhauch oder ein entkörpertes Bewußtsein in ständiger Bewegung tiefer hinein in eine fremdartige Traumwelt, unentrinnbar angezogen von den Stimmen der Wesen, die hier lebten.

Die Stengel standen jetzt weniger dicht und gaben einen Weg frei, und schließlich trat er hinaus auf eine Lichtung. Vor langer Zeit war er auf einer anderen Lichtung gestanden, aber er konnte sich jetzt überhaupt nicht mehr daran erinnern. Jetzt gab es nur noch diese Lichtung, und in ihrer Mitte saßen acht Schwarze um ein unruhig flackerndes Lagerfeuer. Sie hatten natürlich lang gewachsene Bärte und Haare, die sich zu weichen Spirallocken gedreht hatten. Einige von ihnen trugen weiße Baumwollunterhemden zu verwaschenen Jeans und Ledersandalen, andere khakifarbene Arbeitshemden mit buntgemusterten Hosen, wieder andere langärmelige T-Shirts, die bis zur Taille aufgeknöpft waren und dazu in den afrikanischen Farben Rot, Grün und Schwarz gestreiften Hosen. Einer der Männer beschäftigte sich neben dem Feuer mit einem kleinen Kochtopf. Ein anderer schlug sanft eine Trommel. Ein dritter stand mit einem Buch in der Hand da. Er war älter als die anderen und trug eine Fahne mit einem Löwen darauf, die er sich um die Brust gewickelt hatte. Er öffnete das Buch und las laut vor.

Und Jahwe sprach: »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe … Und Jahwe sah, daß es gut war.«

Sie reichten eine Bambuspfeife von einem zum anderen, und Rauch kräuselte sich aus dem Pfeifenkopf, bis die Wolken schließlich ihre Gesichter einhüllten. Er stand auf der anderen Seite der Lichtung und beobachtete sie. Er wußte, wer sie waren. Es waren seine Freunde, seine Brüder: Ras Michael und Ras Kwame und Ras Daryl, Bongo Syl und Bongo Jonathon und Bongo Saint-IMcLean, Rasta Herbert und Iya Mortimer.

Ja, er kannte sie, und jetzt fiel ihm auch wieder ein, wer er selbst war und warum er hier war. Die plötzliche Wiederkehr seines Ichs erweckte in ihm ein Gefühl der Leichtigkeit und Luftigkeit, als ob ihm eine große Last von den Schultern genommen worden wäre. Der Schmerz in seiner Seite war verschwunden. Ebenfalls verschwunden war seine Angst. Er trat weiter auf die Lichtung hinaus und ging langsam und vertrauensvoll auf sie zu. Einer nach dem anderen wandte den Kopf in seine Richtung und begrüßte ihn mit einem Lächeln und herzlichen Worten:

»Friede, Rasta.«

»Liebe, Rasta.«

»Friede und Liebe, Rasta.«

»Gelobt seist Du, Selassie I.«

»Ehrfurcht gebührt Dir, Rasta.«

»Willkommen in unserer Mitte, Bruder.«

»Geheiligt seist du, Bruder.«

»Geheiligt seist du, Ras Marcus.«

Ja, jetzt wußte er wieder ganz genau, wer er war und mit welchem Auftrag sie ihn weggeschickt hatten und wie er versagt hatte. Er wußte, daß sie ihm vergeben würden. Er war nicht mit dem Geld zurückgekommen, wie sie es sich erhofft hatten, den vereinbarten Preis für den Sack mit Ganja, aber Geld spielt keine so große Rolle. Das einzige, was wichtig war, war die Tatsache, daß er sicher zu seinen Brüdern und in die Gefilde des Heiligen Hains zurückgekehrt war.

»Der verrückte Glatzkopf«, erklärte er. »Schießt mit Pistole auf mich und nimmt Ganja mit ohne kein Geld nich’ zu zahlen.«

»Ham’s gesehen«, sagte Iya Mortimer.

Sie reichten ihm die Pfeife. Er nahm einen tiefen Zug und füllte seine Lunge mit dem Rauch des heiligen Krauts. Es vertrieb das Böse, das ihn berührt hatte. Es reinigte seine Seele. Er lächelte und ließ sich am Boden nieder. Dem Kochtopf entströmte ein herrlicher Duft nach Linsen, Erbsen und Hirsebrei. Er war glücklich, wieder bei seinen Brüdern zu sein, glücklich, wieder zu Hause zu sein.


Originaltitel: ›In the Light of the Holy Herb‹

Copyright © 1988 by Mercury Press, Inc.

(erstmals erschienen in ›The Magazine of Fantasy and Science Fiction‹, Juli 1988)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Irene Bonhorst

Illustriert von Jobst Teltschik

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