Phillip Mann Die wahre Lehre – nach Mickymaus



1


Der große, ungelenke Mann mit der Jagdmütze kniete auf dem Parkplatz hinter dem zerstörten Streifenwagen nieder und sprach mit dem Polizeibeamten Quin. Der Streifenwagen war ausgebrannt, bot aber noch immer einigen Schutz. Jenseits erstreckte sich der verlassene Parkplatz vor Disneyland, an dessen Rand der Wall von Stacheldrahtrollen lag, den das Militär beim letzten Angriff vorgeschoben hatte. Alles war jetzt ruhig, nur in den Tiefen des Vergnügungsparks leierte ein einsames Orchestrion zum tausendsten Mal Greensleeves. Über den Stacheldrahtrollen waren die noch rauchenden Erkertürme des Dornröschenschlosses und das geborstene Gerüst des Matterhorns zu sehen.

Das Gebiet um Disneyland war vor Tagen evakuiert worden, als der Aufruhr begonnen hatte. Los Angeles war unnatürlich still. Um das abgeriegelte Gelände waren Panzer und Schützenpanzer in Stellung gegangen. Alle Kanonenrohre waren konzentrisch nach innen gerichtet.

»Mein Gott, Mr. Holmes«, sagte Quin. Seine Augen waren geweitet, und die Hand schmerzte ihn noch von dem lähmenden Händedruck. »Wir sind alle sehr geehrt und erleichtert, Sie bei uns zu haben. Seit ich lesen lernte, bin ich ein Verehrer von Ihnen.«

»Ganz recht«, sagte Sherlock Holmes. Seine scharfen grauen Augen spähten über die verrückte Silhouette von Disneyland hin. »Aber ich brauche Tatsachen, Quin. Wann ereignete sich dieser Ausbruch?«

»An Tatsachen ist schlecht ranzukommen, Mr. Holmes«, sagte der Polizist. »Vor drei Tagen fuhren wir durch den Hollywood Boulevard, als der Ruf durchkam. Alle Wagen zum Katastropheneinsatz nach Disneyland. Dieser Befehl kam um 15 Uhr 30. Wir wußten, es mußte eine ernste Angelegenheit sein, denn das Mädchen, das die Anweisungen über Funk ausgibt, war ganz aufgeregt und brachte die Worte durcheinander. Wir waren unterwegs, bevor sie ihre Meldung beendet hatte. Eine Katastrophe in Disneyland – damit ist nicht zu spaßen.«

»Kam Ihnen an dieser Durchsage etwas seltsam vor, Quin?«

»Ja, Sir, Mr. Holmes. Ich meine, alle Wagen. Wir haben in dieser Stadt ziemlich starke Polizeistreitkräfte, und außerdem hat Disneyland seine eigene Polizei. Man will dort keinen Ärger und kein Aufsehen. Schlecht fürs Geschäft. Was dem Geschäft schadet, soll nicht nach außen dringen. Das Letzte, was sie wollen, ist ein ganzer Schwarm von uns, der bei ihnen hereinplatzt.«

»Und was geschah?« fragte Sherlock Holmes.

»Wir gerieten in einen Stau. Anscheinend hatte jeder Streifenwagen südlich von San Franzisko diesem Hilferuf Folge geleistet.«

»Und als Sie schließlich nach Disneyland kamen?«

»Panik, Mr. Holmes. Das reinste Tollhaus. Kreischende Frauen und Kinder. Brüllende Männer. Niedergetrampelte Menschen. Ineinander verkeilte Fahrzeuge. Ich meine, ich war dabei, als diese zwei Jumbos über dem internationalen Flughafen von Los Angeles zusammenstießen, also weiß ich, was eine Schweinerei ist, aber so etwas hatte ich noch nicht gesehen. Das waren keine Menschen mehr. Das waren Tiere, blind und taub vor Angst.«

»Und was sahen Sie noch?«

»Sie.«

»Wen?«

»Mickymaus, Sir. Sie sah riesengroß aus und war auf das Matterhorn gestiegen. Von dort winkte und lachte sie der Menge zu, die in kreischender Panik davonrannte. Wirklich, Sir, sie sah aus wie King Kong in dieser Szene, wo er auf das Empire State Building klettert, mit dem Mädchen in den Händen.«

»Und was tat Mickymaus weiter?«

»Bitte, Sir …«

»Ich brauche die Tatsachen, Quin. Die Tatsachen. Ein zutreffendes Urteil beruht auf zutreffenden Tatsachen, ganz gleich, wie unglaubwürdig sie sich zunächst ausnehmen mögen.«

»Ja, Sir. Verzeihung. Mir war noch nie im Dienst übel, Sir, aber diesmal mußte ich mich übergeben. Mickymaus hatte dieses Mädchen in den Händen und … und biß ihm den Kopf ab.«

Sherlock Holmes holte tief Atem. »Einfach so?«

»Einfach so, Sir. Sie hat ein verdammt großes Maul, und diese Zähne sahen gefährlich aus.« Quin unterdrückte ein Schaudern. »Darauf eröffneten wir das Feuer. Mit allem, was wir hatten. Aber es machte ihr überhaupt nichts aus. Sie stand da und grinste und kaute. Dann kletterte Minnymaus auch hinauf, und beide standen Hand in Hand da und winkten uns zu. Es war grausig.«

Sherlock Holmes nickte und klopfte Quin sanft auf die Schulter.

»Was soll nur aus der Welt werden, Mr. Holmes? Sie war immer so friedlich. Ich meine, mit Banküberfällen, Totschlag und gelegentlichen Entführungen konnte man leben. Gehörte alles zum Arbeitstag, sozusagen. Aber dies? Mr. Holmes, ich sage Ihnen, Sir, es ist wie ein Alptraum. Als ob wir in einem Alptraum lebten.«

»Es ist ein Alptraum, Quin«, sagte Sherlock Holmes. »Aber er hat eine logische Grundlage. Dieselbe Kraft, die Mickymaus und ihre Freunde zum Leben erweckte, hat nun, in dieser Stunde der Not, ihre machtvolle Wirkung auf mich gewandt. So seltsam es scheinen mag, diese Mickymaus und ich sind Geschwister. Dennoch sind wir die tödlichsten Feinde. Der Kampf wird gewaltig sein, ehe diese Schlacht endet.«

»Aber was hat das alles zu bedeuten, Sir?«

»Ganz einfach, mein lieber Quin. In Ihrer Welt ist die Wahrheit fremdartiger geworden als die Fiktion. Und nun ist die Fiktion aufgesprungen, der Herausforderung zu begegnen.«

Der Streifenbeamte Quin kratzte sich am Kopf. In diesem Augenblick war ihm zumute, wie Dr. Watson oft zumute gewesen war.

Sherlock Holmes stand auf. Er faßte die Ruinen von Disneyland ins Auge. »Ich zumindest habe nichts von ihnen zu befürchten«, sagte er.

In diesem Moment wurde das Orchestrion lauter und schneller. In wenigen Sekunden raste es in einer wilden Kakophonie durch Greensleeves. Solch lärmendes Tempo war nicht durchzuhalten. Plötzlich brach das Getöse mit einem metallischen Schnarren ab. Stille. Dann bewegte sich etwas.

Zur Verblüffung der beiden Beobachter erstieg Mickymaus, gefolgt von Schneewittchen und Bambi die verbogenen Schienen der Achterbahn und begann zu tanzen. Schwach drangen ihre Stimmen durch die smoggesättigte Luft von Los Angeles: »Heißa! Heißa …«


»Ich muß da hinein. Persönliche Beobachtung ist mehr wert als fünfzig von Ihren Sonderberichten.« So sprach Sherlock Holmes. Er riß ein Streichholz an und hielt die Flamme über den Kopf einer alten und ölig-schwarzen Tonpfeife. Während er paffte, ließ er den Blick über die versammelten Gesichter schweifen.

Es war eine Sitzung der Stabschefs und Einsatzgruppenleiter. Um den Tisch saßen hartgesottene Obristen, stiernackige Majore und narbenbedeckte Hauptleute. Alle hatten Kinnladen wie aus Granit und ernste Mienen.

»Das wird nicht einfach sein, Mr. Holmes«, sagte Major Liebestraum, Held von einhundertfünfundzwanzig Einsätzen hinter den feindlichen Linien in Vietnam. »Wir haben alles eingesetzt, was wir haben, das heißt, ausgenommen Atomwaffen. Panzerfäuste, Raketen, Mörser. Ohne Wirkung. Sie stellten sich entlang dem äußeren Umkreis auf und lachten uns aus. Dann fing dieser große mit den Ohren … wie heißt er noch gleich?«

»Dumbo.«

»Ja, Dumbo. Er fing an mit den Ohren zu schlagen und stieg auf wie ein Ballon. Bespritzte uns aus seinem Rüssel mit Wasser. Da ließ ich das Feuer einstellen. Das einzige, was sie gegenwärtig zurückzuhalten scheint, ist der elektrische Zaun, und ich möchte keine Voraussage wagen, wie lange der ausreichen wird.«

Ein hagerer Mann in einem einfachen braunen Straßenanzug hüstelte höflich in die vorgehaltene Hand und hob die andere.

»Schießen Sie los, Dwight!« sagte Major Liebestraum und setzte sich. Dwight war ein sanftmütig aussehender Mann mit leiser Stimme und einem permanenten Bartschatten. Er wirkte nervös, doch waren die Augen hinter seiner Nickelbrille hell und scharf. Er breitete eine Straßenkarte aus.

»Ich habe die alten Baupläne studiert«, sagte er. »Dieser ist vom Tiefbauamt, Abteilung Kanalbau und Abwasserbeseitigung. Es gibt einen Zugang, an den Sie vielleicht nicht gedacht haben, und den der Feind sicherlich nicht in Betracht gezogen haben wird. Er führt durch den Abwasserkanal des Spukhauses.«

Hinter den glühenden Zigarrenstummeln knitterten und lächelten militärische Gesichter. Die Teilnehmer der Tischrunde beugten sich vor.

»Sie sehen, ich habe den Weg grün markiert. Dieser groß dimensionierte Abwasserkanal hatte meines Wissens den Zweck, bei Unwettern anfallendes Oberflächenwasser aufzunehmen. Soviel mir bekannt ist, hat es nie einen Bedarfsfall gegeben. Wie Sie sehen können, führen vom Hauptkanal Abzweigungen in alle Teile von Disneyland. Für einen Saboteur oder Attentäter ist es ein idealer Zugang.«

»Dwight, Sie sind ein Genie«, sagte Major Liebestraum und schlug ihn auf den Rücken. Zustimmendes Gemurmel kam von allen Seiten.

Dwight hüstelte in die hohle Hand und lächelte schüchtern.

»Was meinen Sie, Mr. Holmes?« fragte Major Liebestraum. »Glauben Sie, daß Sie es schaffen können? Wir werden unterdessen ihre Aufmerksamkeit mit ausgesuchten Eisenwaren, Überflügen und dergleichen ablenken. Aber jenseits davon sind Sie auf sich selbst gestellt.«

Sherlock Holmes fuhr fort, ruhig an seiner Pfeife zu ziehen. Endlich nahm er sie aus dem Mund und klopfte die Asche in einen großen gläsernen Aschenbecher. Er betrachtete die ernsten Gesichter, die ihn umgaben, und ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, aber seine Augen waren traurig.

»Meine Herren«, sagte er endlich, »wie Sie vielleicht wissen, bin ich in vielen mißlichen Lagen gewesen, darunter manchen, die dem Herrgott selbst Kopfzerbrechen bereitet haben würden. Und doch bin ich heute hier. Wir haben nur ein Leben und müssen es führen, so gut wir es je nach unserer Erleuchtung vermögen, und das Gute mit dem Schlechten hinnehmen. Aber kann man den Ausgang voraussagen? Ich glaube, mein ganzes Leben hat auf diesen Augenblick hingeführt, und ich bin bereit. Niemand kann mit mir in jene Dunkelheit gehen. Sollte ich jedoch nicht zurückkehren, so mögen Sie wissen, meine Herren, daß es innerhalb des Zaunes andere gibt, die für mein Leben teuer bezahlt haben werden.«

Er schwieg, und die Stille wurde nur von Dwight unterbrochen, der zugleich schluchzte und lächelte. Große Tränen sammelten sich in seinen Augen, und er nickte energisch.


So kam man überein, daß Sherlock Holmes allein in Disneyland eindringen sollte. Er trug einen Feldstecher, eine Taschenlampe und seinen treuen Spazierstock bei sich. Major Liebestraum hatte ihm Handgranaten und eine Maschinenpistole angeboten. Dwight hatte sogar eine Krawattennadel zum Vorschein gebracht, die Blausäuregas versprühte. Aber Sherlock Holmes lehnte alle Hilfsmittel ab.

Nun ließ er unter den besorgten Blicken von Dwight, Quin und Major Liebestraum seine lange, ungelenke Gestalt durch ein Einstiegsloch in die dunklen Tiefen des Abwasserkanals fallen. Er landete auf den Zehen. Der Boden war völlig trocken, und seine Füße rührten Staub auf.

Major Liebestraum streckte den Arm durch die Öffnung hinab, gab ihm ein aufmunterndes Zeichen mit aufwärtsgerichtetem Daumen und zog sich zurück. Der schwere Deckel fiel zu. Die Dunkelheit war vollkommen. Er war allein.


Sherlock Holmes verspürte das vertraute Prickeln der Erregung im Rückgrat. Schließlich war er für Abenteuer wie dieses gemacht. Er schaltete die Taschenlampe ein, orientierte sich, wobei ihm zustatten kam, daß er sich den Plan des Abwasserkanals zuvor eingeprägt hatte und machte sich voll Zuversicht auf den Weg zum Spukhaus. Der Staub dämpfte die Geräusche seiner Schritte. Es gab keine anderen Fußabdrücke, und es war offensichtlich, daß er der erste war, der diesen Gang benutzte.

Seine Wanderung verlief ohne Zwischenfall, dauerte jedoch länger als erwartet. Schließlich erreichte er eine Stelle, wo drei Abwasserrohre zusammenliefen. Ohne zu zögern, wählte er das linke, und dort, eingelassen in den Beton, waren die Rungen einer Eisenleiter. Er richtete den Lichtkegel der Lampe auf das obere Ende der Leiter und sah den Deckel eines Einstiegs. Er trug in sauberen Schablonenbuchstaben die Aufschrift: Ausgang 37, Spukhaus.

Nachdem er die eisernen Rungen sorgfältig geprüft hatte, schwang Sherlock Holmes sich die Leiter hinauf und stemmte sich gegen den Deckel über dem Einstieg. Er ließ sich leicht öffnen, allzu leicht, dachte er, als er hinauskletterte.

Seine Augen benötigten einige Sekunden, um sich der Dunkelheit anzupassen, denn er wagte die Taschenlampe nicht zu gebrauchen. Allmählich begann er Umrisse zu erkennen und die Wände ringsum auszumachen. Er atmete gleichmäßig und tief, beruhigte den Pulsschlag, der zu rasen drohte. Der Ursprung der minimalen Helligkeit schien sich zur Rechten zu befinden, und aus dieser Richtung drang auch ein plötzlicher Ausbruch irren Gelächters an sein Ohr. Er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.

Mit eingeübter Lautlosigkeit umging er alte Maschinerien und große Zahnräder und näherte sich der Lichtquelle. Es war eine Tür, die zu einem Viertel offenstand. Hinter ihr bewegte sich etwas.

Er spähte durch die Öffnung. Es war ein Speisesaal. Kleine, gespenstische Erscheinungen mit gräßlich grinsenden Fratzen schwebten durch den Raum und warfen grüne und blaue Schatten. Grausige Gestalten saßen um den Tisch. Zur Linken stand ein Sarg, und als Sherlock Holmes hinsah, kratzte der Leichnam darin mit knochigen Fingern am Deckel und drückte ihn auf. Riesige Kröten hüpften umher, und ein Totenschädel lachte hohl.

Staunend beobachtete Sherlock Holmes das gespenstische Treiben, während sein logischer Verstand auf Hochtouren arbeitete und aufkommende Furcht in Schach hielt. Er bemerkte die Regelmäßigkeit der Bewegungen. Er zählte die Sekunden zwischen den Auftritten des Leichnams und blickte in die Augen der vorbeischwebenden Gespenster. Das Licht der Intelligenz war nicht in ihnen. Er bemerkte die Drähte, welche die Kröten zogen. Sie waren nichts als groteske Marionetten.

»Alles mechanisch«, sagte er aufatmend und trat in den Speisesaal.

Im Licht der Taschenlampe konnte er sehen, daß hoch an einer Wand ein Balkon verlief, der offenbar mit einem Durchgang in Verbindung stand. Er stieß die steifen Tischgäste beiseite, kletterte auf den Tisch und erreichte mit einem Sprung den mit Spinnweben bedeckten Kronleuchter. Die feinen Fäden zupften an seinem Haar und den Händen. Im Nu war er die Kette hinaufgeklettert, an welcher der Kronleuchter hing, und brachte ihn in Schwingungen, bis er abspringen und die Balustrade des Balkons fassen konnte. Ein Zug seiner kräftigen Arme, und er hatte sie überwunden.

Er klopfte sich den Staub von den Kleidern und wandte sich nach einem letzten Blick zu den hüpfenden Kröten und den bleichen Gespenstern zum Durchgang. Er führte ihn gleichmäßig aufwärts. Unterwegs passierte er Statuen, deren Köpfe sich drehten, und Spiegel, aus denen ihn fremdartige Gesichter angrinsten. Er betrachtete sie alle mit Geringschätzung. Dann kam er hinaus ins Tageslicht. In den gesegneten Sonnenschein.

Er verspürte eine leise Enttäuschung und fragte sich, ob das alles sei. Einer seiner eigenen Grundsätze kam ihm in den Sinn: »Je phantastischer eine Sache ist, als desto weniger geheimnisvoll erweist sie sich in der Regel.«

Er schloß die Tür des Spukhauses hinter sich und stand aufatmend im hellen Schein der Nachmittagssonne. Ein riesiger Hund erwartete ihn.

Pluto.

Pluto kratzte sich träge mit einer großen, schwammigen Pfote, und ein Floh von der Größe eines Groschens sprang in die Luft und hüpfte singend davon.

Pluto zwinkerte. »Der Chef will Sie sprechen. Wundert sich schon, was Sie so lange aufhält.«

»Chef?« sagte Sherlock Holmes erschrocken, bedrängt von einer vagen Erinnerung an den Hund von Baskerville.

»Ja. Micky. Das Gehirn, wissen Sie. Er sagt, er will Sie sofort sehen, wenn Sie aus dem Spukhaus kommen. Also kommen Sie am besten gleich mit.«

Bevor Sherlock Holmes sich bewegen konnte, sperrte Pluto die Kiefer auf und nahm ihn wie einen schmackhaften Knochen zwischen die Zähne. Dann trabte er davon.

»Moriarty«, schnaufte Sherlock Holmes in sich hinein, während er auf und nieder wippte. Irgendwie, das war ihm klar, hatte er die Initiative verloren.


Sherlock Holmes fand es nicht allzu unbequem. Pluto hielt ihn hoch und gab acht, daß seine Füße nicht am Boden schleiften. Außerdem biß er nicht allzu fest zu.

Wie er so dahingetragen wurde, fand Sherlock Holmes Zeit, sich für den Fall eines späteren Entkommens die Route einzuprägen. Zu seiner Rechten lag ein Heckraddampfer in seinem künstlichen See. Er war auf eine Insel gelaufen und lag mit Schlagseite halb auf dem Strand, halb im Wasser, ein klaffendes Loch im Heck. Die bunte Bemalung war verbrannt, das Steuerhaus verkohlt. Sherlock Holmes vermutete darin das Ergebnis eines Volltreffers einer von Major Liebestraums Brandraketen.

Es gab noch andere Zeichen der jüngsten Beschießung: Granattrichter in der Straße, zersplitterte Scheiben, eine zusammengebrochene Postkutsche, Pfützen geschmolzenen Speiseeises und unheilverkündende rötlichbraune Flecken. Einmal sah er einen menschlichen Körper, der so in einen Winkel gepreßt war, als wäre er mit großer Gewalt hineingeschleudert worden, aber von dem allgemeinen Massaker, das er erwartet hatte, war nichts zu sehen. Müssen aufgeräumt haben, dachte er bei sich, oder … Er fühlte Plutos rauhe Zunge und seinen heißen Speichel und erschauerte.

Bald näherten sie sich dem Dornröschenschloß, dem Tor zum Fantasyland. Hier waren die Beschußschäden schlimmer. Jede Wand war von Schrapnellen und Granatsplittern genarbt. Die Schwäne, die auf dem See gelebt hatten, waren alle tot und trieben wie Klumpen schmutziger Watte an der Oberfläche.

Der Ritt endete in einem kleinen Pavillon. Pluto trug ihn ein paar Stufen hinauf und ließ ihn ohne weiteres vor einer Tür fallen, die von bläulich zuckenden Elmsfeuern umgeben war. Sherlock Holmes war froh, denn das ständige Auf und Nieder hatte ihm schließlich Übelkeit verursacht. Er hatte sein Fernglas verloren, das ihm kurz nach dem Verlassen des Spukhauses vom Hals geglitten war. Auch seine Taschenlampe war fort. Sie war ihm aus der Tasche gefallen. Er hatte jedoch noch immer seinen Spazierstock, der eine Kugel verschießen konnte.

»Der Chef wird Sie bald empfangen«, sagte Pluto und zeigte gähnend riesige weiße Zähne. »Versuchen Sie keine Dummheiten, denn Micky sagte, ich soll Sie in einem Stück bringen.« Er leckte sich die Lefzen.

Sherlock Holmes saß bewegungslos, den Blick wachsam auf den riesigen Hund gerichtet, der einzuschlafen schien, sowie seine lange Schnauze auf den Pfoten zur Ruhe kam. Sein lautes Schnarchen bewegte die Blütenblätter der Papierblumen, mit denen der Korridor geschmückt war.

Sherlock Holmes war drauf und dran, eine vorsichtige Bewegung zu machen, als die Tür aufsprang und eine Stimme dröhnte: »Komm rein, Sherlock-Baby. Die Weiber taugen nichts, aber der Bourbon ist gut. Komm rein und mach’s dir bequem!« Sherlock Holmes mutmaßte, daß die Stimme Mickymaus persönlich gehören mußte. Er stand langsam auf. Pluto öffnete ein Auge und zwinkerte ihm zu. »Machen Sie voran!« knurrte er. »Den Chef läßt man nicht warten.«

Sherlock Holmes umfaßte entschlossen seinen Schießspazierstock und marschierte mit aller Würde, die er aufbringen konnte, durch die Tür. Er sah sich in einem großen Raum mit Fenstern, die wie Kleeblätter geformt waren. Der Anblick, der sich ihm bot, brachte ihn jedoch abrupt zum Stillstand.

In einem Winkel lag Peter Pan. Seine Flügel waren zerdrückt und gebrochen, seine gewöhnlich strahlenden Augen trüb vor Schmerz. In seiner Nähe lagen die Reste von Jiminy Cricket verstreut auf dem Teppich. Auch Minnymaus war da. Sie hatte die Tür geöffnet, aber nun war sie auf den Knien und weinte in ein großes, gepunktetes Taschentuch. Auch Schneewittchen war da, sehr ernst aussehend und zurückgelehnt auf einem Sofa. Sie bürstete sich das Haar mit einer großen silbernen Bürste und nahm zwischendurch Trauben aus einer großen Schale, die von zwei der sieben Zwerge hochgehalten wurde.

Ihm gegenüber war Mickymaus vornübergebeugt in einem großen Sessel, eine Hand am Boden und eine Flasche in der anderen. Die großen schwarzen Ohren hingen herab, in den Augen standen Tränen.

»Komm rein, Sherlock! Haben dich schon erwartet. Sahen dich unten auf dem Parkplatz. He, kümmere dich nicht um die Frauen. Ein kleiner Familienkrach, nichts weiter.«

Sherlock Holmes ging näher. Der stechende Geruch von Holzalkohol biß in seine Nase. Micky war augenscheinlich betrunken.

Micky holte tief Atem und richtete sich auf. »Du triffst uns in mieser Stimmung an«, sagte er. »Gott, was haben wir für eine beschissene Welt geerbt! Du sollst eine Art Hirnathlet sein. Was sollen wir tun?«

Sherlock Holmes dachte an das gequälte Gesicht des Streifenpolizisten Quin, der eine ähnliche Frage gestellt hatte.

Er schaute Micky an und zuckte die Achseln. Irgendwo in den noch logischen Winkeln seines Gehirns flüsterte eine Stimme, daß er jetzt eine Chance habe, anzugreifen, solange Mickys Verstand vom Alkohol benebelt und seine Aufmerksamkeit auf die eigenen Probleme gerichtet war. Jetzt.

Sherlock Holmes hob zögernd den Stock und wollte ausholen, um Micky zwischen die Augen zu schlagen, doch aus irgendeinem Grund war er nur halbherzig bei der Sache. Micky brachte ihn mit einem Zwinkern zur Besinnung.

»Laß sein, Baby«, sagte er. »Wir zwei haben keinen Zoff.«

Sherlock Holmes ließ den Spazierstock sinken.

»Ich bin unbesiegbar. Ich bin ewig. Versuch nur, es mir mit deinem Stock zu geben. Er würde abprallen. Natürlich würde es weh tun, aber ich würde mich erholen. Und dann wärst du dran. Ich könnte dich wie einen Gummiball gegen die Wände schmeißen. Dann wärst du an der Reihe. Eines Nachts würdest du wiederkommen … und vielleicht würdest du mich für eine Weile kriegen, aber dann … Du siehst, ’s hat keinen Zweck, wenn wir uns streiten, weil wir beide Erfindungen sind. Wir sind Brüder.« Micky strahlte, als die Idee von ihm Besitz ergriff, und er kam wankend auf die Beine. »He, was sagst du dazu? Brüder. Ich und der große Sherlock Holmes. Sherlock Holmes und Mickymaus. Darauf trinken wir.«

Zum erstenmal in seinem langen Leben wußte Sherlock Holmes nicht, was er sagen sollte. Die Logik ließ ihn im Stich. Er fühlte sich alt. Er hatte seine Zeit überlebt. War ein Fossil. Seine Welt war weitaus einfacher gewesen. Verglichen mit den fremdartigen Erscheinungen von Mickymaus oder Minnymaus oder – wie hieß er noch – Pluto schien Professor Moriarty wie ein Kind aus der Sonntagsschule. Nichts in all den Fällen, die er aufgeklärt hatte, konnte ihn auf dies vorbereiten. Er dachte an Quin und Dwight und die Männer der Armee, die in diesem Augenblick hinter ihren Geschützen und Raketenwerfern kauerten, und sie kamen ihm unwirklicher vor als die seltsamen Geschöpfe, denen er sich nun gegenübersah.

Ein Glas wurde ihm in die Hand gedrückt. »Trink!« befahl der unwiderstehliche Micky.

Sherlock Holmes trank.


Peter Pan stöhnte in seinem Winkel und versuchte, sich aufzusetzen.

»Was ist ihm zugestoßen«, fragte Holmes.

Micky zwinkerte. »Er wollte mich behexen, also setzte ich mich auf ihn. In ein paar Tagen wird er wieder in Ordnung sein.« Micky wandte sich ab. »He, Schneewittchen-Baby. Setz deinen Hintern in Bewegung und bring dem Mann ein Kissen! Mach’s ihm gemütlich. Klar?«

Schneewittchen streckte sich, schüttelte das rabenschwarze Haar und schenkte Sherlock Holmes ein sinnverwirrendes Lächeln.

»Mr. Holmes«, sagte sie, »ich möchte Ihnen sagen, daß ich Sie immer schon bewundert habe. Und darf ich Sie um einen ganz besonderen Gefallen bitten? Mm?«

Sherlock Holmes schaute zu ihr hin und dann schnell in sein Glas.

»Ja«, sagte er.

»Würde es Ihnen was ausmachen … Ich meine, seien Sie nicht beleidigt, aber könnte ich Ihre schicke kleine Mütze aufsetzen?«

Sherlock Holmes reichte sie ihr.

Minnymaus schneuzte sich vernehmlich in ihr Taschentuch. Sie kroch zu Mickys Sessel und legte ihm die Hand aufs Knie. »Verzeih. Wollte dich nicht ärgern. Werd’s nicht wieder tun.«

»Laß gut sein«, sagte Micky. »Ich und Schneewittchen sind bloß gute Freunde. Überhaupt sind wir hier alle Brüder. Alle in der Familie.« Dabei beobachtete er Sherlock Holmes aufmerksam.

Sherlock setzte sich neben Schneewittchen aufs Sofa, und sie setzte sich seine Jägermütze schief auf den Kopf. Sie hatte seine Pfeife in den Händen und stopfte sie, drückte mit dem Daumen den Tabak fest.

»Was sagst du, Sherlock?« rief Micky. »Sind wir alle Brüder?«

»Gewiß … äh … Baby«, sagte Sherlock Holmes.

In diesem Augenblick wurde gewaltig gegen die Tür geschlagen. Sie bog sich einwärts und platzte aus den Scharnieren. Pluto kam wie eine Rakete hereingeschossen. Sein Maul schäumte, die Beine ruderten in der Luft, dann landete er in der Mitte auf dem Boden.

»He, Chef«, bellte er. »Das mußt du sehen. Draußen ist was los. Donald meint, es kommt wieder jemand von den Erfindungen. Komm mit!« Seine Beine rührten die Luft auf, und wie der Wind war er wieder draußen. Hinter ihm stürzten Micky und Minny und Schneewittchen und die zwei Zwerge hinaus. Peter Pan erhob sich taumelnd und rief: »Wartet auf mich!«

Sherlock Holmes sah sich allein. »Hilf mir«, rief eine winzige dünne Stimme. Sherlock schrak zusammen und blickte umher. Am Boden zuckten die Stücke von Jiminy Cricket. »Ich will auch sehen«, sagte der Kopf. »Hilf mir! Kehr mich einfach zusammen, ich sortiere mich schon!«

Sherlock Holmes kauerte nieder, nahm die Teile zwischen Finger und Daumen und legte sie aufeinander, und mit einem einzigen krampfhaften Aufbäumen fügten sie sich alle zusammen. Die Arme und Beine waren verkehrt herum, aber das schien Jiminy Cricket nichts auszumachen. »Danke, Bruder«, sagte er und hinkte auf das Loch zu, wo die Tür gewesen war. »Komm mit! Laß dir den Spaß nicht entgehen!« Und auch er war fort.


Sherlock Holmes ging hinaus, wo er eine Menge der Disneyland-Figuren fand. Sie standen im Kreis und spähten alle nach innen, wo ein Lichtschein in der Luft glomm.

»Wer ist es?« fragte Jiminy Cricket und zupfte an Sherlock Holmes’ Hosenbein. »Ich kann nicht sehen.«

»Ich weiß es noch nicht«, sagte Sherlock. Er hob Jiminy Cricket auf und setzte ihn auf seine Schulter.

Das Licht nahm gleichmäßig an Helligkeit zu, und aus seinen Tiefen drang das Stöhnen einer gewaltigen Baßstimme. Das Licht nahm Gestalt an. Die Umrisse eines Mannes. Plötzlich gab es einen scharfen Donnerschlag, und das Licht explodierte.

Alle Disneyland-Figuren, einschließlich Sherlock Holmes, warfen sich zu Boden. Als sie wieder aufblickten, sahen sie einen Mann. Einen Riesen. Er stand steif und gerade, schwankte auf den dicken Sohlen seiner Stiefel vor und zurück. Er trug einen formlosen schwarzen Anzug, der mehrere Nummern zu klein aussah. Seine Hände waren wie Schaufeln, und seine Schultern erweckten den Eindruck, daß der Kleiderbügel in der Jacke geblieben war, als er sie angezogen hatte. Sein Gesicht …

»Sein Gesicht«, sagte Schneewittchen und drückte sich ein Taschentuch an die Lippen. Sie fiel in Ohnmacht.

Das Gesicht war eine schwielige Masse von Narben, die Augen zwei gelbe Löcher.

»Frankenstein«, hauchte Sherlock Holmes.

»Sein Ungeheuer«, antwortete der Riese.

Er wandte sich langsam und ruckartig um, als bereite es ihm Schwierigkeiten, und betrachtete die Menge. Seine Finger, steif wie gefrorene Handschuhe, zuckten.

»Hallo, Frank«, sagte Micky geistesgegenwärtig. »Willkommen an Bord.« Er nahm eine der steifen Hände und versuchte sie zu schütteln.

»Wo ist Mary?« sagte das Ungeheuer. »Mary Shelley. Sie war bei mir. Sie liebte mich. Sie schrieb. Eine lange Feder auf Papier. Eine brennende Kerze, und kalter Regen, der ans Fenster schlug.«

Micky schaute verständnislos. »Donald!«

Donald Duck kam herbeigewatschelt. Seine Augen glänzten.

»Sag uns, woran du dich erinnerst … äh … Frank.«

Das Gesicht des Ungeheuers knitterte sich langsam zu dem abscheulichsten Lächeln, das man je gesehen hatte. »Ich erinnere mich an … nichts. Dann war Mary da, und Licht und Schmerz, und ich wußte, daß ich häßlich war, weil die Leute vor mir davonliefen. Dann …« Er brach ab.

»Was war dann?« fragte Donald Duck.

»Dann gab es ein gewaltiges Zusammenströmen. Blitze zuckten. Mein ganzes Leben zog an mir vorüber, und ich war hier, wie ich jetzt bin.« Er hielt inne und blickte umher. »Wo bin ich?«

»Bei Freunden«, sagte Micky inbrünstig. Er wandte sich zu Sherlock Holmes. »Siehst du, Sherlock-Baby? Es geht los. Es kommt alles zusammen. Junge, das wird ein Fest.«


Und am selben Abend gab es ein Fest. Viele weitere Erfindungen waren eingetroffen, entweder, indem sie sich aus der Luft materialisierten oder gemächlich über die Stacheldrahtrollen vor den glotzäugigen Militärs kletterten. Sie versammelten sich in der Mitte von Disneyland.

Alice war direkt aus dem Wunderland gekommen und scherzte mit der Herzkönigin, die sich vor Lachen am Boden wälzte. Sindbad der Seefahrer, dem noch der Salzgeruch der See anhaftete, verblüffte mit erstaunlichen Taschenspielerkunststücken und ließ Münzen verschwinden und wieder erscheinen. Mickymaus jonglierte mit Löffeln. Verschiedene Hexen und Zwerge hatten sich zu einer Tanzkapelle formiert und brachten das Dachgebälk zum Vibrieren. Frankensteins Ungeheuer lernte mit Schneewittchen tanzen. Alle sangen, und jeder zeigte seine besonderen Fertigkeiten: Einmal lachte Dumbo so sehr, daß er sich mitten auf der Tanzfläche blamierte und rosarot wurde. Es machte niemandem etwas aus. Alles war guter Dinge.

Abseits in einem Winkel saß Donald Duck für sich allein. Er las Shakespeare und stellte eine Liste zusammen. Die Brille war ihm auf den Schnabel gerutscht, aber das schien er nicht zu bemerken. Gelegentlich hob er den Kopf, um Brauselimonade zu trinken.

Schließlich, als das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, erhob sich ein Ruf und wurde von tausend Stimmen aufgenommen. »Sher-lock. Sher-lock. Sher-lock.« Von irgendwo wurde eine Geige gebracht und Sherlock Holmes von Mickymaus in die Hände gedrückt.

»Komm schon, Sherlock«, rief Micky. »Gib eine Nummer zum Besten. Seit du hier bist, wanderst du herum wie eine nasse Wolldecke.«

Sherlock Holmes hielt die Geige ein paar Augenblicke unschlüssig, dann stieß er sie von sich. »Ich kann wirklich nichts spielen«, sagte er. Höhnisches Geschrei war die Antwort. »Ich bin eigentlich ein Beobachter. Tut mir leid. Ich nehme an, es liegt daran, daß ich nicht derselben Welt angehöre wie der Rest von euch, und ich versuche zu verstehen, was geschehen ist. Normalerweise bin ich von ziemlich rascher … äh …« Er blickte wie hilfesuchend umher. »Mit einem Fall wie diesem hatte ich nie zu tun. Ich finde eure Welt ziemlich … hm …«

»Fremdartig?« warf Donald Duck ein, ohne den Blick von seiner Lektüre zu heben.

»Ja, das ist der rechte Ausdruck, nehme ich an. Fremdartig. Ich teile eure Empfindungen nicht. Euren Zorn auf die Welt der Menschen. Ich verstehe ihn nicht.«

Mickymaus schlug zwei Löffel über dem Kopf zusammen, und allmählich kehrte Ruhe ein. »Du verstehst also nicht, wie? Na, dann laß dir erklären. Laß dich von mir belehren, Sherlock-Baby.«

Micky holte tief Atem, und Donald Duck schlug sein Buch zu.

»Siehst du, Sherlock-Baby«, sagte Micky, »so wie wir es sehen, hast du irgendwie Glück gehabt. Ich meine, der alte Conan Doyle hat sich um dich gekümmert. Er machte dich zu einer geachteten, sogar bewunderten Figur.«

»Er versuchte auch, mich umzubringen«, sagte Sherlock Holmes.

»Das ist bei vielen Künstlern so, daß sie ihre populärsten Schöpfungen schließlich hassen«, bemerkte Donald Duck. Mickymaus runzelte die Stirn. »Verzeihung, Micky. Bloß ein Gedanke. Wollte nicht unterbrechen.«

»Ja, gut«, sagte Micky, »abgesehen davon hielt der alte Conan Doyle dich sauber. Pfuschte nicht mit dir herum. Niemand gebraucht deinen Namen, um Sonnenschirme zu verkaufen, oder Puzzlespiele. Du wirst respektiert. Wir nicht. Vielleicht mag man uns, aber niemand achtet uns. Wir sind kaum mehr als ein kommerzieller Artikel. Wir sind der niedrigste gemeinsame Nenner des Geschmacks. Wir sind nett. Wir sind zahm, wir sind süß. Wir sind lustig. Wir … wir sind …« Micky suchte nach dem richtigen Wort.

»Wie wär’s mit ›hygienisch‹?« sagte Schneewittchen.

»Ja. Hygienisch. Hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Baby. Und was, zum Kuckuck, ist der Sinn einer erfundenen Figur, wenn sie hygienisch gemacht worden ist?«

Sherlock Holmes zuckte die Achseln.

»Na, ich will’s dir sagen. Wir sind ausgenutzt worden. Und deshalb bin ich zornig. Deshalb habe ich diese Revolution angefangen. Und ich bin noch nicht fertig. Ich werde böse sein. Niederträchtig. Richtig gemein. Ich sage dir, ich werde ihnen in die Ärsche treten, bis sie nicht mehr sitzen können.«

Alle hatten sich um sie versammelt und kauerten still im Kreis und lauschten.

Mickymaus nahm einen Zug aus der Flasche und fuhr fort: »Siehst du, im Grunde mag ich Kinder. Aber ich hasse das, was aus ihnen wird. Erwachsene. Etwas geht schief mit ihnen. Sie kotzen mich an. Sie bringen mich dazu, daß ich Blut sehen will. Sie haben uns lange genug ausgelacht. Jetzt sind wir an der Reihe. Ich werde alles ändern. Und nichts wird mich aufhalten, aber auch gar nichts!«

Schneewittchen nahm das Thema mit blitzenden Augen und geröteten Wangen auf. »Also werden wir ihnen zeigen, was es mit der Phantasie auf sich hat, was, Micky?«

»Richtig. Wir werden ihnen zeigen, daß Phantasie kein Kinderspielzeug ist. Sie ist wirklich. Sie ist alles, wovor sie immer Angst gehabt haben. Sie ist alles, was in ihnen steckt, und sie ist das herrlichste Ding auf diesem weiten Erdenrund. Das ist die wahre Lehre, nach Mickymaus. Und wenn ein paar Homo sapiens bei der Gelegenheit niedergetrampelt werden, nun, dann haben sie Pech gehabt. Laßt uns darauf trinken!«

Flaschen machten die Runde, und alle füllten ihre Gläser und hoben sie. »Auf die Phantasie, für den Anfang«, sagte Mickymaus.

»Auf die Phantasie«, wiederholten die Erfindungen und leerten ihre Gläser. Micky tat einen raschen Zug aus der Flasche und sprang auf einen Tisch. »Gut, einstweilen sind wir ziemlich unter uns«, sagte er und wischte sich den Mund am Ärmel. »Aber das wird nicht so bleiben. Sherlock und Sindbad und ein paar andere, und wer weiß wie viele mehr in diesem Augenblick durch die großen US von A unterwegs zu uns sind? Vielleicht stehen sie in Beirut und Auckland und London Schlange. Vielleicht haben sie kein Geld, aber sie werden es kriegen. Stellt euch vor: Tarzan, Gulliver, der Schlaufuchs, sie alle werden hier sein. Und wir werden ihnen die Hände schütteln. Halleluja.«

Alles brach in Hochrufe aus und trampelte mit den Füßen. Micky brachte sie mit einer Handbewegung zum Verstummen. Sein Blick richtete sich auf Sherlock Holmes, und er beugte sich zu ihm, während Minny ihn an den Hosenträgern festhielt, daß er nicht vornüber fallen konnte. »Also ist jetzt die einzige Frage, bist du mit uns oder gegen uns?«

Sherlock Holmes trank sein Glas aus. Er tat dies mehr, um Zeit zu gewinnen als den Bourbon zu genießen. Er empfand ein unerwartetes Mitgefühl für diese seltsamen, fremdartigen Geschöpfe, die ihn mit ihren starren Knopfaugen umringten. Er wußte, daß ihre bloße Existenz alles bedrohte, was er schätzte und als zivilisiert betrachte: Logik, zum Beispiel, und rationales Verhalten. Aber in seinem Innern regte sich etwas. Wer hatte einmal gesagt, daß aus dem Meisterdetektiv allzu leicht der Meisterverbrecher werden könnte?

»Ich fürchte«, murmelte er, »daß ich zu alt bin, um ein Revolutionär zu werden.«

»Dummes Zeug«, rief Micky. »Warte, bis Heathcliffe kommt. Dann geht es erst richtig los. Wenn wir dein Gehirn verbunden mit unserer Geschicklichkeit haben, brauchen wir nur noch die Stärke Supermans. Heute Disneyland und morgen die ganze Welt. So einfach ist es. Komm schon, laß dein Glas auffüllen. Es hat eben erst angefangen. Du sollst von Anfang an dabei sein, Sherlock-Baby.«

Sherlock Holmes ließ sein Glas auffüllen. Er war sich mit Unbehagen bewußt, daß alle ihn anstarrten. »Dann nehme ich an«, sagte er, »in Anbetracht aller Umstände … äh … bin ich auf eurer Seite.« Er nahm einen kräftigen Zug. »Vorwärts mit der Revolution!«

Die Hochrufe, die diese Erklärung begrüßten, wurden von Major Liebestraum gehört, der nahe am Stacheldrahtwall kauerte, und dann spielte die Kapelle auf. Micky streckte die Hand aus, zauste Sherlock Holmes das Haar, und Schneewittchen pflanzte ihm einen Kuß auf die Lippen. Endlich kam auch Bambi herübergehüpft, und nachdem es ihm seelenvoll ins Auge geblickt hatte, begann es ihm die Hand zu lecken.

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