Ron Montana Der letzte Picasso



Der alte Mann wirkte zugleich gebeugt und groß. Er trug das Fell eines schon lange toten Tieres, das mit den Jahren unter der Sonne braun geworden war wie seine Haut. Sein langes, buschiges Haar war mit grauen Knoten durchsetzt und verschmolz übergangslos mit dem Vollbart, der bis zur Brust hinabreichte. Um Füße und Waden hatte er sich dunkle, ungegerbte Felle von kleineren Tieren gewunden. In der rechten Hand hielt er einen Bogen, den er aus der Federung eines Autos gemacht hatte; das Metall war geglättet, nachdem er es unzählige Male in der Hand gehalten hatte.

Es war früh am Morgen, die Sonne hing rot und dunstig über dem Horizont. In zwei Tagen hatte er Geburtstag. Er besaß keinen Kalender und keine Uhr, doch er wußte es, und er seufzte, als er den Hügel hinaufstieg zur Mündung der Höhle, in der er lebte.

Die Höhle war ein dunkles Loch in der Hügelflanke, vor Wind und Wetter durch eine Gruppe hoher Pappeln geschützt. Sie war groß genug, um ein Feldbett, das mit Fellen bedeckt war, um ein Bücherregal aus grob behauenen Stämmen aufzunehmen. Er hatte viele Bücher, doch sie waren schmutzig und vergilbt, und er hatte sie schon lange nicht mehr in die Hand genommen. Der alte Mann hatte nicht mehr das Bedürfnis zu lesen. Die bunten Einbände hatten mit der Zeit eine trübe Patina angesetzt; sie waren ihm fremd geworden, und vielleicht würde er sie dann verbrennen, wenn die Regenzeit kam und das Holz zu feucht war, um ihn zu wärmen.

Er legte die Beute des Morgens, ein mageres Kaninchen, auf den flachen Stein neben der Feuergrube und begann seine Mahlzeit vorzubereiten. Während er das verfilzte Fell abzog, fiel ihm ein, daß dies für die nächsten zwei Tage sein letztes Essen sein würde. Wenn das Ereignis so nahe war, konnte er sich nicht mehr zum Essen überwinden. Danach würde er wieder jagen und sich vollstopfen, vielleicht einen kleinen Hirsch oder ein Wildschwein, doch jetzt hatte er keinen Appetit, und er zwang sich, mechanisch das zähe Fleisch hinunterzuschlingen, damit er nicht vor dem Ereignis krank würde.

Als der alte Mann sein Frühstück beendet hatte, legte er die Hände in den Schoß und wartete. Es war fast Zeit zu beginnen, doch er wollte es nicht überstürzen. Nach zwanzig Jahren war das Ereignis ein heiliges Ritual geworden, und er mußte dem Plan entsprechend vorgehen. Er bekam Angst, daß etwas nicht funktionieren könnte, und er versuchte, die Furcht zu verdrängen, indem er an etwas anderes dachte, doch es hatte keinen Zweck. Es hatte nur zweimal Probleme gegeben, und beide Male hatte er sie mühelos beheben können. Doch wenn etwas wirklich Wichtiges schiefging, konnte er sich vielleicht nicht mehr an die notwendigen Schritte erinnern, und das machte ihm angst. Aber, dachte er, es würde schon reichen, es nur wieder anzusehen. Eines Tages würde das alles sein, was ihm noch blieb, und er wußte, daß er sich auf diese Möglichkeit einrichten mußte.

Er verwarf die Zweifel, stand auf, und verließ die Höhle. Als der alte Mann den baumbeschatteten Pfad zur Straße hinuntertrabte, brach die Sonne durch die schmutziggraue Wolkendecke. Er blieb mitten auf der Straße stehen, die einmal der Highway 17 gewesen war, blickte in beide Richtungen und suchte sie nach Hindernissen ab. Der Wind blies scharf durch das Tal und hielt die Straße einigermaßen frei. Die Baumlinie war so weit entfernt, daß umgestürzte Bäume kein Problem waren. Nach all den Jahren war es immer noch möglich.

Er nickte und ging mitten auf der Straße. Er ging zuerst sehr langsam, fast humpelnd unter dem Gewicht des Alters, das er auf den eingesunkenen Schultern trug. Als er sich seinem Ziel näherte, begann er schneller zu gehen, die Vorfreude kitzelte seine Fußsohlen.

An der Stelle, an der die unbefestigte Nebenstraße nach links in die Hügel abzweigte, mußte er stehenbleiben und ein wucherndes Gebüsch abschlagen, das fast so groß war wie er. Seine Messerklinge grub sich in die Wurzeln, und er wurde wütend, als er die widerspenstigen Zweige heftig aus dem harten Boden riß. Er sollte eigentlich nicht wütend werden, denn er hatte diese Aufgabe jedes Jahr zu erledigen, und inzwischen sollte er sie als Routine betrachten können. Vielleicht sollte er dieses Mal in die alte Scheune gehen und ein Entlaubungsmittel suchen. Ja, das würde er tun; doch er hatte das Gefühl, daß er im nächsten Jahr vor den Büschen zurückweichen würde, wenn sie dann immer noch lebten. Sie waren wichtig. Sie verschafften ihm eine Pause, und der Gedanke, nach so langer Zeit etwas zu verändern, beschämte ihn. Seine Hände zitterten, als er den letzten Busch von der Straße zerrte.

Als er das Unkraut beseitigt hatte, ging er die Seitenstraße hinauf; unterwegs klaubte er umsichtig kleine Steine vom rissigen Weg und warf sie zwischen die Bäume, die neben ihm den Hügel hinaufmarschierten. Es war anstrengend, die vielen Steine wegzuwerfen, und es kostete ihn wertvolle Zeit, doch er ging seiner Aufgabe abwesend nach, ohne die Steine wirklich zu sehen. Als er endlich die Hügelkuppe erreichte, keuchte er. Er starrte zur Lichtung hinunter und konnte sich nicht erinnern, ob er im letzten Jahr genauso erschöpft gewesen war, und das machte ihm Sorgen. Was, wenn er nicht mehr genug Kraft dazu hatte? Der Gedanke verließ sein Bewußtsein wie ein flatternder Schmetterling, als er die Lichtung betrachtete.

Das Haupthaus war fast verschwunden, es war von der zerstörten Veranda bis zum fehlenden Dach von Moos und Gräsern bedeckt. Es war kaum mehr als ein Schatten im Unterholz, und wenn er nicht so lange darin gewohnt hätte, dann hätte er es nicht mehr als Haus erkannt. Er ließ die Schultern sinken und starrte die Ruine lange an. Die Erinnerung schmerzte ihn, doch der Schmerz war ihm nicht neu, und er sah keinen Grund, warum es dieses Jahr hätte anders sein sollen.

Die Erinnerungen waren verschwommen und stumpf, doch er wußte noch, wie er vor genau zwanzig Jahren an dieser Stelle gestanden und zugesehen hatte, wie das Haus niederbrannte. Es waren Menschen im Haus gewesen, und der alte Mann konnte noch ihre leisen Schreie über dem Tosen der Flammen hören und die leichte Brise, die in den Wipfeln der hohen Bäume rauschte. Er müßte sich an ihre Namen erinnern. Doch diese Menschen, seine Familie, waren unter alten, verdrängten Erinnerungen begraben, und er machte sich nicht die Mühe, sie aus den Tiefen seines Bewußtseins heraufzubeschwören.

Die Scheune sah nicht viel besser aus als das Haus, und er beachtete sie kaum, als sein Blick zu dem Tor weiterwanderte, das in den Fels der Hügelflanke eingelassen war. Das Tor war schmutzig, die Farbe blätterte ab, und er ging hinüber und schlug hart mit der Handfläche dagegen. Staub wirbelte auf, der galvanisierte Stahl hallte unter dem Schlag. Er lächelte, es war eher ein Entspannen der schmalen Lippen als ein Grinsen, und griff nach der Silberkette, die er am Hals trug. An der Kette hingen zwei Schlüssel. Er schob den kleineren ins Schloß und zog. Das Tor hob sich mühelos bis zum Anschlag und rastete ein.

Der alte Mann richtete sich ganz auf und holte tief Luft und schnaufte erleichtert, als er in die Garage blicken konnte. Der Zementboden war mit einer Jahresladung Staub bedeckt, doch trotz der Dunkelheit konnte er sehen, daß alles so war, wie er es verlassen hatte. Er ging zur Rückwand des stockfinsteren Raums, und er stolperte nicht und zauderte nicht, als er den dunklen Umriß in der Mitte der Garage umrundete. Trotz der langen Zeit wußte er noch, wo alles war, und er hätte die Bewegungen auch blind ausführen können.

Er nahm einen roten Plastikkanister und hielt ihn unter den Auslaß des Achthundertlitertanks, der den größten Teil der hinteren Wand einnahm. Als der Kanister voll war, ging er zum Generator neben dem Tank und schüttete den Treibstoff hinein. Es wurde Zeit. Er legte die Schalter um und tastete nach dem Anlasserseil an der Seite des Generators. Er zog einmal, zweimal am Seil. Der Generator spuckte, und beim dritten Zug sprang er an, wie er es immer getan hatte. Die Garage erwachte unter dem Lärm des Generators zum Leben, als er den Choke zog. Die Leuchtstoffröhren an der Decke flackerten, dann verströmten sie blendend helles Licht.

Der alte Mann blinzelte und rieb sich die Augen. Als sein Blick sich auf das grelle künstliche Licht eingestellt hatte, betrachtete er das Ding in der Mitte der Garage. Es war mit einer enganliegenden grünen Plane abgedeckt, doch der Umriß war ihm so vertraut wie die Linien seiner Hände.

Er trat darauf zu und entfernte sanft, fast andächtig die Plane und faltete sie zu einem ordentlichen Quadrat zusammen, das er auf einem Regal ablegte. Sein Herz machte einen Sprung, als er sich wieder umdrehte und den Wagen betrachtete.

Es war ein 1978er Datsun 280 Z Two Plus Two. Er war burgunderrot und hatte goldene und silberne Streifen, und selbst der Staub, der durch die Plane gedrungen war, konnte die erstklassige Lackierung nicht verschandeln. Der Wagen hockte auf dem Zement wie ein lauernder Berglöwe, und der alte Mann umrundete ihn mehrmals langsam und bewunderte ihn aus allen Richtungen.

Schließlich klappte er den Tankverschluß auf und schüttete den Rest des Benzins aus dem Kanister in den Tank des Wagens. Dann stellte er den Kanister weg, legte sich auf den Bauch und inspizierte den rechten Vorderreifen. Der Druck war gefährlich niedrig. Er nahm die Pumpe aus dem Wandhalter, pumpte den Reifen auf und maß den Druck mit dem Druckmesser aus dem Werkzeugkasten. Erst als er ganz sicher war, daß der Wagen von außen völlig in Ordnung war, öffnete der alte Mann die Fahrertür. Abgestandene Luft zischte ihm ins Gesicht. Er kurbelte beide Fenster herunter; dabei beugte er sich vorsichtig über den Fahrersitz, um mit seinen schmutzigen Kleidern nicht das glatte schwarze Leder zu berühren.

Er öffnete die Motorhaube und legte ein Kabel von den Polen der Batterie zum Ladegerät und steckte den Stecker des Ladegeräts in den Anschluß des laufenden Generators. Seine Bewegungen waren präzise und seine Hände ruhig, obwohl er wußte, daß ein Dutzend Dinge schiefgehen konnten. Die Batterie war seit vier Jahren im Auto, und es war seine letzte. Er wußte, daß er keine weitere finden würde, und so betete er, während die Nadeln der Ladeanzeigen hinter den Glasdeckeln tanzten.

An dem Tag, als das Haus abgebrannt war, hatte der Kilometerzähler des Wagens auf 7800 Meilen gestanden, und ohne nachzusehen wußte er, daß er jetzt auf 8360 stand. In den letzten zwanzig Jahren war er jedesmal an seinem Geburtstag genau achtundzwanzig Meilen gefahren. Vierzehn Meilen bis zum großen Erdrutsch, der ein Stück vor Santa Cruz den Freeway blockierte, und vierzehn Meilen zurück. Seine Hände begannen zu zittern, als er an diese Ausfahrten dachte. Er schnappte sich ein zerfranstes Handtuch, ein Stück Seife und eine Schere von einem Regal und eilte hinaus, unfähig, seine Erregung länger zu unterdrücken.

Er ging zum Bach, der von der Quelle im Hügel herunterkam, und watete ins hüfthohe Wasser hinein. Es war kalt, doch er bemerkte die Kälte nicht. Er streifte die Häute, die er als Kleider trug, ab und stand nackt im brodelnden Wasser. Er benutzte reichlich Seife und schrubbte den Dreck ab, der seinen ganzen Körper überzog. Als er fertig war, betrachtete er die Seife in seiner Hand und überlegte, daß der Seifenvorrat wahrscheinlich länger halten würde als das Benzin. Ein Stück Seife im Jahr. Er lachte laut darüber, und der Widerhall seiner Stimme zwischen den Bäumen erschreckte ihn.

Er setzte sich ans Ufer und nahm die Schere. Er brauchte zehn Minuten, um sich den Bart abzuschneiden und das Gesicht mit der Schneide sauberzukratzen. Diesmal schnitt er sich nicht, und er fand, daß es ein gutes Omen war. Er richtete sein Haar, ohne sein Spiegelbild im silbernen Wasser zu betrachten, weil es noch nicht Zeit war, sich selbst zu sehen. Er schnitt es zurück, bis es nur noch knapp über die Ohren fiel. Es war ein schlechter Schnitt, doch der alte Mann wußte es nicht, weil er keine Vergleichsmöglichkeiten mehr hatte.

Er nahm das Handtuch, trocknete sich ab und ging in die Garage zurück. Er nahm ein Staubtuch aus einer Schublade in der Werkbank und stand mit zitternden Waden neben dem Wagen. Das dichte schwarze Haar auf seinen Beinen und seiner Brust kräuselte sich in der Kälte der Garage. Er beugte sich über den Wagen, streichelte die Staubflecken fort und wischte die feuchten Stellen ab, die sich unter der Plane gebildet hatten, als die Luftfeuchtigkeit in den langen Sommermonaten ihren Höhepunkt erreicht hatte. Im Hintergrund summte der Batterielader, und er lehnte sich gegen die Heckklappe, um hinauf zugelangen und den hinteren Teil des geneigten Daches abzuwischen. Er fuhr nur ganz leicht über das Metall, als wäre er ein Museumswärter, der ein kostbares Gemälde reinigt. Das war der schönste Teil, erinnerte er sich. Fast so schön wie das, was noch kommen würde.

Doch plötzlich war die schreckliche Einsamkeit wieder da, packte seinen Bauch wie eine Stahlklammer. Er und das Ereignis waren das einzige, was wirklich etwas bedeutete, beruhigte er sich. Er hatte oft geträumt, wieder in einer Zeit zu leben, in der er sein Meisterwerk mit anderen teilen konnte, mit Menschen, die es zu schätzen wußten. Doch sie waren nur Träume; niemand war mehr da, der im Wald die Bäume umstürzen hörte. Er war der einzige Hüter, und die Dinge, die er tat, tat er für sich. Doch das war gut, denn niemand war mehr da, der über ihn urteilen konnte – oder was noch wichtiger war, der über ihn lachen konnte.

Seine Erektion drängte gegen den Kotflügel, und er umarmte den Wagen, bewegte den Körper auf und nieder, während der Druck in seinen Lenden wuchs. Schließlich ergoß sich sein Samen auf den Boden; er trat rechtzeitig vom Wagen zurück, um die dicke Schicht Politur über der Farbe nicht zu beflecken.

Ein Tropfen seines Samens fiel auf die Radspeichen, und er rieb fluchend mit dem Tuch über die Speiche, um den Fleck zu entfernen. Schuldgefühle packten den Magen des alten Mannes, doch er wußte nicht, ob sie aus dem entstanden waren, was er gerade getan hatte, oder weil er das Auto besudelt hatte.

Er polierte die Speiche, bis sie wieder glänzte, und ging zu einem Metallschrank. Er öffnete ihn und begann sich anzuziehen. Neben dem Schrank stand ein verhängter, körpergroßer Spiegel, und als er fertig war, trat er davor und zog den Vorhang weg. Der alte Mann deckte den Spiegel immer erst auf, wenn er ganz angezogen war, denn er wollte sich nicht so sehen, wie er vorher gewesen war.

Er starrte in das bläuliche Glas und sah Martin Rismiller zurückstarren. Das Gesicht im Spiegel war tiefbraun, abgesehen von den teigig weißen Stellen, die vom Bart bedeckt gewesen waren. Und er war kein alter Mann. Er war fünfundvierzig Jahre alt und heute war sein Geburtstag. Er stand aufrecht in seinem rostfarbenen Rollkragenpullover und der teuren vorgebleichten Levis. Seine Schuhe waren aus Wildleder, und er trug ein 24karätiges goldenes ID-Armband am rechten Handgelenk. Er lächelte, als er die braune Lederjacke und die Autohandschuhe anzog. Die Kleidung paßte immer noch gut, und er freute sich darüber. Ohne diese Kleidung wäre es nichts gewesen.

Er nahm die polarisierte Foster-Grants-Brille aus dem Halter auf dem Armaturenbrett und setzte sich in den hochlehnigen Fahrersitz. Er legte beide Hände auf das mit schwarzem Leder bezogene Lenkrad, packte es fest, bis er wußte, daß seine Knöchel unter den Handschuhen weiß angelaufen waren. Dann schob er den Schaltknüppel in den Leerlauf und setzte den Fuß auf die Kupplung. Er nahm den Schlüssel, den er jetzt über dem Pullover trug, schob ihn ins Zündschloß, atmete tief aus und drehte den Schlüssel herum.

Der Anlasser jaulte, die Maschine startete. Die Inspektionen, die er nach jeder Fahrt gemacht hatte, waren die Zeit wert gewesen, dachte er, als er sah, wie der Drehzahlmesser auf 1100 stieg. Der Öldruck war inzwischen normal, und die Batterieanzeige stand auf Ladung. Der Tageskilometerzähler stand auf 28, und er stellte ihn auf Null zurück, bevor er ausstieg, um die Batteriekabel abzuziehen und das Ladegerät auszuschalten. Er ließ den Wagen fünf Minuten lang warmlaufen. Dann legte er den Sicherheitsgurt an und überprüfte noch einmal die Anzeigen.

Er legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung langsam kommen, und der Z glitt langsam aus der Garage. Er machte eine Bremsprobe. Dann drehte er den Motor hoch. Trotz der geschlossenen Fenster konnte er hören, wie das tiefe Brummen des Motors von den Bergen widerhallte. Es war ein schönes Geräusch, er liebte es. Eine pochende, gedämpfte Melodie, die durch den dicken Teppich auf dem Boden heraufsummte, seine Beine herauf bis in die Schultern. Sie kam aus allen Richtungen. Berauschend.

Martin löste die Handbremse und fuhr auf die Lichtung hinaus. Die Sonne spiegelte sich im burgunderfarbenen Lack, als der Z den Schatten des Hügels verließ. Der Lack glänzte wie ein Spiegel und warf tanzende Reflexe in alle Richtungen, wie ein Laserstrahl aus weinrotem Licht, der vom Grün und Braun der Berge reflektiert wurde.

Martin fühlte sich wie ein Gott, als er eine Achtspurkassette aus der Mittelkonsole nahm und sie durch die Klappe ins Kassettendeck des Radios schob. Viele Jahre lang hatte er zuerst immer das Radio eingeschaltet, doch irgendwann hatte er es aufgegeben. Das eine Band, das er noch besaß, war mehr als genug. Die anderen waren verschlissen oder kaputt, doch er war dankbar, daß das Blaupunkt-Gerät überhaupt noch funktionierte. Er drückte das Band in den Abspieler, und Chuck Berry brüllte Johnny B. Goode über die Lichtung. Es hallte wie Kanonendonner. Vögel stoben in wilder Flucht durch die Baumwipfel, ein Eichhörnchen hörte zu knabbern auf und starrte mißbilligend das Auto an, dann huschte es einen Baum hinauf. Martin lächelte über das fliehende Nagetier und drehte die Lautstärke etwas zurück. Dann lenkte er den Wagen vorsichtig den Weg zum Freeway hinunter.

Er bekam Lust, dem Z die Sporen zu geben und wild schleudernd hinunterzurasen, doch er beherrschte sich, denn es war die Sache nicht wert, eine Spurstange oder einen Stoßdämpfer zu demolieren. Am Highway 17 hielt er kurz an und lauschte dem im Leerlauf drehenden Motor. Er lief rund, und Martin gab zweimal Vollgas und beobachtete, wie die Nadel des Drehzahlmessers tanzte. Er fuhr langsam weiter, bis er die Straße überblicken konnte, dann sah er in beide Richtungen, bevor er ganz hinausrollte.

Der Freeway vor ihm war auf zweihundert Meter schnurgerade, dann neigte er sich anmutig in eine Serie leichter Kurven. Er ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Der Z reagierte ohne Zögern, genau wie immer. Er wartete, bis der Drehzahlmesser auf 4500 zeigte, dann schaltete er rasch in den zweiten Gang. Die Reifen quietschten, als der Wagen einen Satz machte, der Motor zog mühelos durch. Der Wagen raste das gerade Straßenstück hinunter, und Martin spähte über die stumpfe Schnauze nach vorn, um Hindernisse rechtzeitig zu bemerken.

Als der Z sich nach links in die erste Kurve neigte, schaltete Martin in den dritten Gang. Die Tachonadel kroch auf 70 Meilen, dann 75. Er nahm etwas Gas weg; die nächsten Kurven waren schärfer. Er lächelte wie ein Kind, die Musik war laut und schnell und der Wind wehte frisch durchs offene Fenster.

Chuck Berry sang jetzt Maybellene, und Martin lachte laut und sang mit, während er den Z mit 65 Meilen durch die Kurven lenkte. Ab und zu mußte er herunterschalten, doch hinter den Kurven trat er das Gaspedal wieder durch.

An der langen Steigung hinter Scott Valley stand der Tageskilometerzähler auf 8. Noch sechs Meilen, dachte er und bremste leicht ab. Er wollte sein Ziel nicht zu schnell erreichen. Kurz vor der Kuppe schaltete er in den vierten Gang, und die Tachonadel sprang auf 90. Martin war traurig, daß er sich nicht an seine Vorsätze halten konnte, doch das Gefühl verging rasch, als der Wagen über die Kuppe glitt und bergab raste.

Martins rechte Hand ruhte auf dem Schaltknüppel, und die Vibrationen des Motors zitterten durch die Hand und den Arm hinauf. Er schaltete krachend in den Dritten und hing schwer im Sicherheitsgurt, als der Wagen gefährlich durch die erste Kurve hinter der Hügelkuppe schlingerte. Er spürte, wie sich das Heck etwas anhob, als der Z zu rutschen begann. Die Hinterreifen verloren die Haftung, und Martin wußte, daß er Gas wegnehmen und schalten mußte, doch er wartete noch ab. Die seitliche Bewegung des Wagens trieb ihn in einen hypnotischen Zustand.

Der Z rutschte jetzt stärker, und Martin sah die Granitklippe näherkommen. Dann brach das Heck ganz aus. Er riß sich aus seiner Trance und tippte zweimal auf die Bremse, ganz kurz nur, bevor er den zweiten Gang einlegte und Gas gab.

Der Z knurrte wie ein verwundetes Tier und hockte sich auf seine Michelinklauen, als wollte er zornig das Gleichgewicht halten. Martin drehte das Lenkrad in die Richtung, in die er rutschte, begradigte die Kurve und schoß Zentimeter an der Klippe vorbei. Martin lachte wild über das Motorengeräusch und die Musik. So knapp war es noch nie gewesen. So war es eben. Und wenn ihr das nicht paßte, dann konnte er ihr auch nicht helfen. Es war sein Geburtstag.

Der Geist seiner schon lange toten Frau schalt ihn wegen seines Leichtsinns, und er schmollte und blickte zu ihr auf dem Beifahrersitz hinüber. Sie grub die langen Fingernägel ins Armaturenbrett, und er betrachtete ihre Stirn, als sie die großen braunen Augen zusammenzog und nach vorn blickte. Er betrachtete das kurze schwarze Haar, das ihr ovales Gesicht umrahmte, und wünschte, sie würde lächeln, damit er wieder das vergangene Glück sähe. Doch sie lächelte nicht mehr, und das war traurig.


Tell me who’s the queen

Standin’ by the record machine

Looking like a model

On the cover of a magazine …


Er seufzte über die Wahrheit der Zeilen und blickte wieder zur Straße. Der Kilometerzähler stand auf 13. Noch zwei Kurven, und er würde auf das lange abschüssige Stück nach Santa Cruz einbiegen. Dort unten blockierte die eingestürzte Überführung die Straße wie ein verirrter Wolkenkratzer. Er würde den Z anhalten und den inzwischen überwucherten Haufen Zement anstarren. Dann würde er wenden und zurückfahren. Noch ein ganzes Jahr bis zu seinem nächsten Geburtstag. Er zwang sich, an die näherkommende Kurve zu denken.

Der Z schoß aus der letzten Biegung, und Martin starrte verblüfft geradeaus. Er trat unwillkürlich hart auf die Bremse, die Reifen quietschten, und der Z drehte sich einmal um sich selbst und blieb in einer riesigen Staubwolke knirschend am Straßenrand stehen. Der Motor war aus, weil er nicht die Kupplung getreten hatte, und der Ruck hatte die Kassette aus dem Abspieler gerissen.

Es war still. Martin saß nur da und starrte. Der Steinhaufen, der einmal eine Überführung über den Highway gewesen war, war gespalten, als wäre die Hand eines Giganten mit einem Karateschlag dazwischengefahren. Er konnte den Freeway auf der anderen Seite der Lücke sehen: frei und leer. Seine Gedanken rasten. Das Zittern, das er vor zwei Monaten im Paß gespürt hatte, mußte ein recht ansehnliches Erdbeben gewesen sein. Es hatte das Hindernis so weit auseinandergerissen, daß er hindurchfahren konnte.

Er löste den Sicherheitsgurt und stieg aus. Er nahm den Feldstecher, mit dem er sonst die Straße nach umgestürzten Bäumen absuchte. Der Asphalt, auf dem die Trümmer gelegen hatten, war rissig und verworfen, doch passierbar. Er konnte den Z hindurchbugsieren, ohne die Kotflügel aufzuschrammen. In der Ferne erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Eine Rauchsäule. Er kletterte die Überführung hinauf, vorsichtig, um seine Kleidung nicht zu beschmutzen, bis er auf einem Zementblock stand, von dem aus er den Hafen überblicken konnte. Im vollen Sonnenlicht hob er das Fernglas an die Augen.

Im Hafen ankerten mehrere kleine Boote mit geflickten Segeln. Die meisten Gebäude in der Stadt waren eingestürzt, doch hin und wieder sah er eins, das gut erhalten schien. Aus diesen Hütten stieg der Rauch von Kochfeuern auf, und er hörte das Lachen spielender Kinder in der stillen Luft. Er sah Frauen mit Säuglingen an der Brust, alte Männer mit grauen Bärten und halbnackte Jungs, die mit Speer und Bogen trainierten. Auf den Booten arbeiteten Männer, ihre dunkel gebräunte Haut glänzte vor Schweiß. Leben. Menschen. Also war er doch nicht der einzige Überlebende. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er die Szenerie da unten beobachtete, und zum erstenmal seit zwanzig Jahren fühlte er Schmerz, echten Schmerz. Einen brennenden Schmerz, der aus seinem Bauch aufstieg und ihm die Luft nahm.

Also haben sie es doch nicht geschafft, alle Leute umzubringen, dachte er, während ihm die Tränen in Sturzbächen über die Wangen rollten. Er wischte sich die Augen und ließ das Fernglas sinken und ging zum Wagen zurück. Sein Gesicht zeigte einen entschlossenen Ausdruck, als er den Motor anließ und das Auto zum Spalt in der Überführung lenkte. Dort blieb er stehen, drehte den Motor hoch, stellte sich die bestürzten Gesichter vor, wenn er hupend, mit lauter Musik, die Straße hinunterdonnerte. Sie würden ihn für einen Gott halten. Er erinnerte sich an Wells’ Zeitmaschine. Wie hießen die Leute noch? Die ELOI? Er würde der Häuptling sein, und sein Leben würde einen Sinn bekommen, ein Ziel. Er würde König im Land der Blinden sein.

Oder ein Anormaler im Land der Normalen. Er blickte zu seiner Frau, und sie lächelte ihn an. Er erwiderte das Grinsen und legte den Rückwärtsgang ein. Er wendete gekonnt, gab dem Wagen Zunder und entfernte sich rasch vom Dorf und den Menschen.

Vielleicht im nächsten Jahr, dachte der alte Mann.

Oder vielleicht im übernächsten.


Originaltitel: ›The Last Picasso‹

Copyright © 1982 by Ultimate Publishing Corp.

(erstmals erschienen in ›Amazing‹, März 1982)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Langowski

Illustriert von Jobst Teltschik

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