Nicht Rechnen, Schätzen will gelernt sein

Kehren wir noch einmal zu menschlichen Dimensionen zurück. Mit dem Alltag haben die astronomisch großen Zahlen zwar nichts zu tun, aber die Überlegungen, wie Archimedes und seine modernen Epigonen mit groben Schätzungen zu Zahlen gelangten, sind auch jenseits der Schnurren, in denen Dezillionen und Untrigintillionen vorkommen, von Interesse. Schon immer nämlich zeichnen sich kluge Köpfe dadurch aus, dass sie Größenordnungen gut zu überschlagen verstehen. Geradezu ein Magier des geschickten Schätzens war der aus Rom stammende und bis zu seinem frühen Tod 1954 in Chicago lehrende theoretische Physiker Enrico Fermi. Von ihm konnte man am eindrucksvollsten lernen, dass die Kunst bei der Anwendung von Mathematik nicht darin besteht, alles fehlerfrei zu berechnen, sondern vielmehr darin, die unvermeidlichen Fehler nicht zu groß werden zu lassen, sie jedenfalls sicher im Griff zu haben.

„Wie viele Klavierstimmer gibt es wohl in Chicago?“, soll Fermi einmal einen verdutzten Studenten gefragt haben. Der hatte natürlich keine Ahnung. Aber Fermi wusste, wie man zur Antwort gelangt: Wenn Chicago vier Millionen Einwohner hat, ein Durchschnittshaushalt aus vier Personen besteht und jeder fünfte Haushalt ein Klavier besitzt, dann gibt es zweihunderttausend Klaviere in der Stadt. Wenn jedes Klavier alle vier Jahre gestimmt wird, müssen jährlich fünfzigtausend Klaviere gestimmt werden. Wenn ein Stimmer vier Klaviere pro Tag schafft, sind das bei 250 Arbeitstagen 1000 Klaviere pro Jahr pro Stimmer. Folglich gibt es in Chicago rund 50 Klavierstimmer.

Der weltberühmte Wiener mathematische Physiker Walter Thirring beherrscht solche Rechnungen souverän. Als ihm einst als Schüler gesagt wurde, Alfred Wegeners Theorie, die Kontinente könnten wie Eisschollen auf der Erdoberfläche treiben, sei Unsinn, antwortete er, ihm käme das Bild eines Erdbebens in den Sinn, bei dem sich die Erde eine Handbreit auftut. Wenn sich irgendwo pro Jahr ein solches Beben ereignet, verschiebt sich die Erdkruste pro Jahr um zehn Zentimeter, in 100 Millionen Jahren daher um eine Milliarde Zentimeter, also um zehntausend Kilometer, da hat der Abstand zwischen Europa und Amerika bequem Platz. Damals ermahnten die Lehrer den jungen Thirring, solche Zahlenspielereien bleiben zu lassen. Heute ist die Kontinentaldrift das Dogma einer ganzen Wissenschaft.

Das Faszinierende dieser Rechnungen ist, dass sie zwar alles andere als genau sind, aber gut die Größenordnung der gesuchten Antwort liefern – und all das ohne großen Informationsbedarf, allein gewonnen aus vernünftigen Argumenten. Das Schönste daran: Man kann die Rechnungen leger ohne technische Hilfsmittel meistern. Wie schwer das Wasser in einem Schwimmbecken ist, wie viel Müll ein Haushalt im Jahr wegwirft, aus wie vielen Zellen der menschliche Körper besteht – all diese mehr oder weniger sinnvollen Fragen lassen sich mit Fermi-Rechnungen beantworten.

Oder wie sich die Zahl der Pensionsbezieher des Staates zu jener der Berufstätigen verhält. Auch ohne die Daten von einem statistischen Amt abzufragen, kann man die Größenordnung des erschreckend hohen Werts schätzen. Eine Fermi-Rechnung genügt. Sie ist so genau, dass der Zwang deutlich wird, in diesem heiklen Bereich politische Maßnahmen zu treffen.

Ob die deutsche Bundeskanzlerin als studierte Physikerin so wie Fermi berechnet hat, ob beim großen Energiebedarf ihres Landes andere CO2-neutrale Energiequellen den Ausfall der Kernenergie abfedern können, wurde von den deutschen Medien, die sonst eigentlich alles wissen, nicht verraten.

Fehlerfrei rechnen hat wenig mit Mathematik zu tun. Fehlerfrei rechnen kann auch ein Computer. Mathematische Genauigkeit bedeutet: abschätzen zu können und sich der dabei in Kauf genommenen Fehler bewusst zu sein. „Durch nichts zeigt sich“, behauptete Gauß, „mathematischer Unverstand deutlicher als durch ein Übermaß an Genauigkeit im Zahlenrechnen.“

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