Die „Pascaline“, zur Unzeit konstruiert

Es waren die elenden Beschwernisse des elementaren Rechnens, bei denen lange Kolonnen von Zahlen zu addieren sind, die Blaise Pascal zu einer brillanten Erfindung veranlassten, deren gesellschaftliche Sprengkraft allerdings weder von seinen Zeitgenossen noch von deren Kindern oder Kindeskindern erkannt wurde. Erst 300 Jahre später leitete sie ein neues Zeitalter der Menschheit ein.

Blaise Pascals Vater Étienne war ein angesehener hoher Finanzbeamter im von Kardinal Richelieu, Ludwig XIII. und danach dem noch blutjungen Ludwig XIV. regierten Frankreich des 17. Jahrhunderts. Einem Land, in dem Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende schuften mussten, damit es den wohlhabenden Bürgern, dem Klerus und der adeligen Gesellschaft an nichts fehlte, die Reichen in Saus und Braus ihre Tage und Nächte mit süßem Nichtstun verbringen konnten. Doch der Staat, der in letzter Instanz der König selbst war, brauchte Geld. Wo er nur konnte, presste er es der Bevölkerung ab. Nur der Klerus und der Adel waren von der Steuerlast befreit.

Étienne Pascal war bestrebt, das Geld von den Steuerpflichtigen möglichst gerecht eintreiben zu lassen. Er bemühte sich, die von den ihm untergebenen Beamten erhobenen Summen auf den Sol genau zu prüfen. Und dafür waren schier unzählige nervtötende Additionen und Subtraktionen vonnöten.

Étienne Pascals Sohn Blaise galt bereits in jungen Jahren als mathematisches Wunderkind. Der gebildete Vater lehrte seinen Sohn im Privatunterricht alle Sprachen, das gesamte Wissen seiner Zeit. Wie später Mozart, den ebenfalls sein Vater unterrichtete, hatte Pascal das Glück, nie eine Schule besuchen zu müssen. Allerdings verschob der gewissenhafte Vater den Mathematikunterricht für den kleinen Buben auf später, wenn dieser der Ansicht des Vaters nach dafür reif genug sei. Mit dem Erfolg, dass sich das geniale Kind die Mathematik selbst beibrachte. Schon mit vierzehn Jahren, so berichtet seine ebenso begabte ältere Schwester Jacqueline, habe er sich alle Lehrsätze des Geometriebuches von Euklid erarbeitet. Ja, er gewann Erkenntnisse, die völlig neu und unerhört beeindruckend waren und noch heute nach ihm benannt sind.

Blaise Pascal, der seit frühester Jugend unter ständig wiederkehrenden peinigenden Kopfschmerzen litt, behauptete einmal, dass einzig die Beschäftigung mit Mathematik ihn von den Qualen erlöse. Allein diese Bemerkung zeichnet ihn als besonderen Menschen aus, denn für Normalsterbliche hat die Mathematik den üblen Ruf, gerade das Gegenteil zu bewirken. Eine Nachrede, die – wie zumindest hoffentlich die Leserinnen und Leser dieses Buches bestätigen werden – zu Unrecht Verbreitung findet.

Ödes Rechnen hingegen kann bei niemandem, nicht einmal bei Blaise Pascal, von Schmerzen erlösen, gar Entzücken hervorrufen. Es ist einfach nur lästig. Diese Last, die Pascals Vater tagein, tagaus tragen musste, abzuschütteln und einer Maschine zu übertragen, war das Ziel seines Sohnes. Als dieser neunzehn Jahre alt war, hatte er es verwirklicht: Er hatte die erste Rechenmaschine der Welt entworfen und hergestellt. Er taufte sie „Pascaline“.

Die Pascaline war kein Rechengerät. Derer gab es schon seit der Antike viele. Der berühmte Abakus – das Wort stammt vom griechischen ábakos, übersetzt: die Tafel, das Brett – ist wohl das bekannteste unter ihnen. Er besteht aus einem Rahmen mit Kugeln, von den Römern Calculi genannt – denn calculus ist der kleine Stein –, die auf Stäben aufgefädelt sind beziehungsweise in Nuten, Rillen oder Schlitzen geführt werden. Ein anderes Rechengerät ist der sogenannte Rechenschieber, ein aus verschiebbaren und eigenartig skalierten Linealen bestehendes Rechenhilfsmittel, mit dem man nach eingehender Schulung sogenannte höhere Rechenoperationen wie Multiplikationen, Divisionen, das Ermitteln von Potenzen, Wurzeln und anderes mehr durchführen kann. Schließlich seien die Neperschen Stäbchen erwähnt, benannt nach John Napier, die auf eine sehr raffinierte Weise für Multiplikationen und Divisionen dienlich sind. Doch all dies sind Geräte und keine Maschinen. Bei einem Gerät muss die kluge Handhabung von Menschen erfolgen, die für das Gerät geschult wurden. Bei einer Maschine ist eine Schulung des Bedienungspersonals nicht mehr erforderlich: Sie rechnet scheinbar „von selbst“, buchstäblich „automatisch“ – wie es das griechische Wort „autómata“ nahelegt, das für Dinge steht, die sich von selbst bewegen, wie in der Ilias die sich selbsttätig öffnenden Türen des Olymp.

Tatsächlich ist die Pascaline ein Rechenautomat. Wer sie sieht, nimmt ein ziegelsteingroßes Messinggehäuse wahr, auf dessen Deckfläche sich oben fünf (bei späteren Versionen der Pascaline sogar mehr als fünf) Sehschlitze befinden, die den Blick auf die Ziffern einer fünfstelligen Zahl freigeben.22 Unter jedem Schlitz befindet sich auf der Deckfläche der Pascaline ein kleines Rad mit zehn Speichen. Um das Rad sind auf der Deckfläche die Ziffern Null bis Neun so eingraviert, dass die Speichen des Rades immer in die Lücken zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ziffern weisen. Das Rad kann mit einem Stift, der in einen der Zwischenräume gesteckt wird, im Uhrzeigersinn bewegt werden. Eine kleine an der Deckfläche angebrachte Haltevorrichtung bewirkt, dass der Stift das Rad wie bei einer Wählscheibe der uralten Telefone nur bis zum Anschlag drehen kann.

Zeigt die Pascaline auf den Schlitzen die Zahl 00000 an, ist sie im Ausgangszustand. Nun kann man mit ihr eine Addition, zum Beispiel die Rechnung 16 + 45, durchführen. Zuerst gibt man die Zahl 16 ein: Der Stift wird im vorletzten Rad von links in den Zwischenraum der Ziffer 1 gesteckt und bis zum Anschlag gedreht: Es zeigt sich die Zahl 00010. Dann wird der Stift im letzten Rad von links in den Zwischenraum der Ziffer 6 gesteckt und bis zum Anschlag gedreht: Es zeigt sich die Zahl 00016. Sodann gibt man die Zahl 45 ein: Der Stift wird im vorletzten Rad von links in den Zwischenraum der Ziffer 4 gesteckt und bis zum Anschlag gedreht: Jetzt zeigt sich die Zahl 00056. Schließlich wird der Stift im letzten Rad von links in den Zwischenraum der Ziffer 5 gesteckt und bis zum Anschlag gedreht: Verfolgt man dabei die Bewegungen der Ziffern in den Schlitzen, erkennt man, dass bei dieser Drehung nacheinander die Zahlen 00056, 00057, 00058, 00059, dann, wie von Zauberhand erzeugt, 00060 und schließlich, beim Erreichen des Anschlags, 00061 aufscheinen.

Die Mechanik im Inneren der Pascaline, welche die Bewegung des Rades in eine entsprechende Drehung der Walze übersetzt, ist leicht nachzuvollziehen. Auf der Walze sind die Ziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 eingetragen. Die jeweils oberste Ziffer unterhalb des geöffneten Sehschlitzes kann durch diesen gesehen werden. Die Drehung des Rades, auf die Drehung der Walze übertragen, führt zum Wandel der durch den Schlitz sichtbaren Ziffer. So weit, so einfach. Was Pascal aber gelang, war der sogenannte mechanische Übertrag: Mit einem raffinierten Hebelmechanismus wird, wenn bei einem Rad der Übergang von der Ziffer 9 zur Ziffer 0 erfolgt, gleichzeitig beim linken Nachbarn dieses Rades eine Drehung der Walze um eine Ziffer weiter bewerkstelligt. Dass dies wirklich funktioniert, dass bei der mechanischen Addition von 1 der Übertrag von 00009 zu 00010, auch der Übertrag von 00099 zu 00100, auch der Übertrag von 00999 zu 01000, auch der Übertrag von 09999 zu 10000 und schließlich der Übertrag von 99999 zu 00000 gelingt – mangels eines sechsten Rades wird Einhunderttausend nur mit den letzten fünf Nullen angezeigt –, ist der Clou bei Pascals Erfindung.23

Zwei Hemmnisse sind dafür maßgeblich, dass Pascal mit seiner Erfindung kein spektakulärer wirtschaftlicher Erfolg beschieden war.

Das erste und zugleich wichtigere Hemmnis betrifft die gesellschaftliche Situation zur Zeit Pascals. Seine Maschine war einfach zu teuer. Rechenknechte, die für lächerlich wenig Bezahlung die gleichen Dienste leisteten, gab es genug. Erst als die menschliche Arbeitskraft gerecht bezahlt wurde, rechnete sich der technische Fortschritt. Darum wurde nicht Pascal mit seiner Maschine zum reichen Unternehmer, sondern erst Jahrhunderte später Thomas J. Watson, der Gründer von IBM, nach dem die Zahlenmaschine benannt ist, die in Jeopardy den glänzenden Sieg davontrug.

Das zweite, zwar auch schwerwiegende, aber vielleicht eher behebbare Hemmnis betrifft die Anfälligkeit der Pascaline gegenüber Fehlern: Nicht immer funktionierte der Mechanismus einwandfrei. Bei wichtigen Rechnungen waren Kontrollrechnungen erforderlich – all das kostete Zeit. Der Vater war im händischen Rechnen so geübt, dass die Eingabeprozedur in Pascals Maschine weitaus länger dauerte als sein Schreiben mit Bleistift und Papier. Doch der Anfang war getan.

Schon zwanzig Jahre vor der Erfindung und Konstruktion der Pascaline hatte der deutsche Astronom Wilhelm Schickard eine ganz ähnliche Idee eines Rechenautomaten skizziert. Von einer Verwirklichung seiner nur mit groben Skizzen umrissenen Maschine sprach man bloß gerüchteweise: Ein angeblich für Johannes Kepler gefertigtes Modell soll einem Brand zum Opfer gefallen sein, nur die ein wenig hilflos wirkenden Zeichnungen sind erhalten geblieben. Selbst wenn Schickard das Räderwerk hergestellt hätte, wäre es bei einem Übertrag zum Beispiel von 09999 zu 10000 wegen der mechanischen Unzulänglichkeiten zerbrochen. Ohne Zweifel darf man Blaise Pascal die Ehre zusprechen, als Erster die Idee der Rechenmaschine nicht nur genial und gewissenhaft entworfen, sondern solche Automaten bis hin zur Serienreife produziert zu haben.

Noch aber war es eine Rechenmaschine, der Weg zur Zahlenmaschine wurde erst Generationen nach Pascal beschritten.

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