Eins, zwei, drei, und so weiter. So kommen die Zahlen zustande, Und zwar alle Zahlen: Man beginnt mit eins und gibt zur zuletzt genannten Zahl Eins hinzu. So kommt man von eins zu zwei, von zwei zu drei. Und so weiter.
Dieses „und so weiter“ verbirgt einen bodenlosen Abgrund.
Denn das Zählen besitzt kein Ende. Zu jeder Zahl kann man eins hinzuzählen. Keine Zahl ist die letzte.
Wenn kleine Kinder zählen lernen, sind sie ganz stolz, über zehn, danach sogar über zwanzig hinaus zählen zu können. Sobald sie einundzwanzig erreicht haben, brauchen sie sich nur mehr die Zahlworte der Zehnerfolge zu merken. Begeistert stimmen sie den Singsang an, der sie von eins über jede Zahl bis zu hundert führt. Und wenn sie erkennen, dass man auch hundert überschreiten kann, zählen sie begierig weiter. Nur ihre Erschöpfung oder die ihrer Eltern setzt dem Zählen ein Ende.
Was aber, wenn man diese Erschöpfung zu überwinden trachtet?
Im Jahr 1965 begann der polnische Maler Roman Opalka – er war knapp 34 Jahre alt – das Projekt des Zählens als eine Tätigkeit, die im wahrsten Sinne des Wortes das Leben kostet. Die restlichen 46 Jahre seines Daseins widmete er sich ausschließlich der von ihm selbst gestellten Aufgabe: zu zählen. Auf großen Leinwänden, jede von ihnen 196 Zentimeter hoch und 135 cm breit, malte er mit dem feinsten verfügbaren Pinsel in titanweißer Schrift jeweils links oben Zeile für Zeile bis rechts unten in ein paar Millimeter großer Schrift eine Zahl nach der anderen. Ein paar Monate, nachdem er mit 1 begonnen hatte, war er bei 35 327 angekommen und hatte die dunkle Leinwand vollgeschrieben. Gleich danach fuhr er auf der nächsten Leinwand fort. Hunderte dieser Bildtafeln, die Opalka „Details“ seines unvollendbaren Werks „Opalka 1965: 1 − ∞“ nannte, beschrieb er, rund vierhundert Zahlen pro Tag. Immer, wenn er mit einer neuen Tafel begann, grundierte er zuvor das Leinen. Die ersten „Details“ sind schwarzgrau grundiert. 1972 entschied Opalka, als er bei einer Million, der Zahl 1 000 000 angelangt war, der Grundierungsfarbe bei jedem folgenden „Detail“ ein paar Tropfen zinkweißer Farbe beizumengen, so dass mit der Zeit die „Details“ immer heller wurden: von schwarzgrau über dunkelgrau, mittelgrau, hellgrau, mattweiß bis zu hellweiß – genauso weiß wie die Schrift der Zahlen.
Schließlich konnte der weit über 70 Jahre alte Opalka die von ihm gemalten Zahlen nur während des Schreibens im feuchten Zustand erkennen. Im getrockneten Zustand muss man in einem bestimmten Winkel auf das „Detail“ blicken, um den leisen Unterschied zwischen der zinkweißen Grundierung und der titanweißen Schrift erahnen zu können. Auf jeden Pinsel, den Opalka verwendete, wurde die Zahl eingraviert, die Opalka malte, als er diesen Pinsel zum ersten Mal in die Hand nahm, und jene, die Opalka malte, als er ihn endgültig aus der Hand legte. In die Farbe getaucht wurde ein Pinsel nur in der Atempause zwischen einer vollständig angeschriebenen Zahl und dem Zählbeginn der nächsten Zahl.
Während des Malens sprach Opalka die Zahl in seiner polnischen Muttersprache aus und zeichnete sein Zählen mit einem Tonbandgerät auf – kilometerlange Bänder zeugen von seiner monotonen Arbeit. Die polnische Sprache ist dafür deshalb gut geeignet, weil bei ihr die Zahlen in der Folge der Ziffern von links nach rechts genannt werden – nicht so wie im Deutschen, wo man zum Beispiel „vierzig-zwei“ schreibt aber „zweiundvierzig“ dazu sagt. Am Ende jedes Arbeitstages fotografierte sich Opalka vor dem Gemälde, an dem er gerade arbeitete: immer im weißen Hemd, immer mit nüchtern sachlichem Gesichtsausdruck, immer bei gleichem Lichteinfall. Sein Blick auf den Betrachter erinnert frappant an den Blick Dürers bei seinem „Selbstbildnis im Pelzrock“: der gleiche Ernst, die gleiche Erhabenheit, die gleiche Melancholie, der gleiche Stolz.
Mit diesem Stolz antwortet Opalka auf die Feststellung, er sei zum Sklaven seines Konzepts geworden: „Das sagen diejenigen, welche zu Sklaven ihrer Existenz geworden sind.“ Bei ihm sei es anders: „Wenn ich die Zahlen male, ist das wie ein Spaziergang“, erklärte er im Sommer 2008 dem Kunsthistoriker Peter Lodermeyer: „Und dann hat man die Chance, die Freiheit, interessante Fragen zu stellen. Nicht, dass ich beim Malen immer philosophische Fragen habe. Von Zeit zu Zeit ist dieser Moment da, wo ich mich diesen Fragen stellen kann, weil ich dieses Programm realisiere. Nie hat ein Mensch so viel Zeit gehabt, sich mit solchen Fragen zu treffen. Das genau ist das Programm, dieser Weg, dieser Prozess, die Zahlen zu malen. Nie ist ein Mensch so frei gewesen. Die Pharaonen vielleicht, sie haben große Macht gehabt und die Pyramiden. Das ist in gewissem Sinn auch eine Pyramide, was ich da male. Das ist eine Freiheit, die sich vielleicht nicht einmal ein Philosoph schaffen kann. Ein Philosoph hat den Zwang, immer etwas Intelligentes zu produzieren. Ich brauche das nicht.“
Zählen ist keine Kunst. Auch der Künstler Roman Opalka war dieser Ansicht – obwohl sich seine „Details“ als Kunstwerke gut verkaufen: Christie’s erzielte 2010 für drei seiner Gemälde stolze 1 285 366 Dollar. Opalka sieht in den „Details“ mehr als Kunst, er sieht in ihnen die Dokumente seines Lebens: „Der Sinn meines Lebens liegt in der Sinnlosigkeit, auf dem Aufeinanderreihen von logischen Zeichen zu beharren, ohne bestimmtes Ziel, auf dem Weg zu mir selbst.“
Als sich Opalka der Zahl 4 000 000 näherte, lud er ein Kamerateam in sein Atelier im südfranzösischen Bazérac ein, das ihn beim mönchischen Zählen filmte. Dabei waren es nicht einmal so sehr die „runden“ Zahlen, die ihn in den Bann zogen, sondern vielmehr jene, die aus der gleichen Ziffer gebildet sind. Ganz besonders angetan war er von diesen Zahlen, wenn auch die Zahl der Stellenwerte mit jener der Ziffer übereinstimmt. Das sind also nach 1 die Zahlen 22, 333, 4444. Sie brachte er auf seiner ersten Bildtafel unter. Danach folgt 55 555; erst in einem späteren „Detail“ taucht sie auf. Bis Opalka die Zahl 666 666 malen konnte, musste er schon Jahre vergehen lassen. Wunderbar wäre es, so hoffte er bis kurz vor seinem Tod, bis zu 7 777 777 vordringen zu können. Die Zahl 88 888 888 ist hingegen jenseits seiner irdischen Kraft. Hätte er früher mit seinem Unternehmen begonnen, wäre 7 777 777 für ihn möglicherweise noch erreichbar gewesen. Es mag die bittere Einsicht gewesen sein, die ersten 34 Jahre seines Lebens sinnlos vergeudet zu haben, die ihn schon zu Beginn seines Projekts in eine Krankheit stürzte. Als Peter Lodermeyer ihn fragte: „Aber wann hat Ihr Werk denn angefangen, als Sie die 1 gemalt haben oder damals in Warschau, als Sie im Café auf Ihre Frau gewartet haben und Ihnen die Idee zu dem Konzept gekommen ist?“, antwortete er: „Um im Bild zu bleiben, die Liebe hat damals im Café angefangen, aber die Realisierung dieser Liebe kam erst nach ungefähr sieben Monaten. Also, die 1 wäre die Realisierung. Ich hatte es schon in Amsterdam erzählt: Ich hätte sterben können in dem Moment, wo ich eine echte Emotion gehabt habe, weil ich schon wusste, was da anfängt als Konzept. Ich wusste, das wird sich durch mein ganzes Leben ziehen. Wenn du so eine kleine Zahl malst, die 1, dann hast du eine Emotion, das kannst du dir nicht vorstellen. Nach ein paar Wochen hatte ich ein Herzproblem, denn die Spannung war so unglaublich stark. Nicht nur, weil das so gut war, sondern wegen des Opfers, das ich mein ganzes Leben lang für dieses Werk bringen musste. Das war das Problem. Ich war einen Monat mit Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus, das war beängstigend. Nach einem Monat bin ich zurück – und habe weitergemacht, bis heute. Kunst braucht Intelligenz, aber nicht unbedingt mehr als die emotionalen, körperlichen, mentalen Anteile. Leonardo da Vinci hat das gesagt, und wie recht hat er: ,L’arte e una cosa mentale’. Das ist phantastisch. Dieser Satz enthält eine ganze Welt.“
Am 6. August 2011 starb Roman Opalka. Er hat 233 „Details“ gemalt, mehr als fünfeinhalb Millionen Zahlen gezählt.