Schneller kommt man beim Zählen voran, wenn man nur die geraden Zahlen 2, 4, 6, 8, 10, … zählt und die ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7, 9, … auslässt. Lange Zeit dürfte in der Geschichte der Menschheit diese Bündelung in Paaren vorgeherrscht haben. Andere Bündelungen kannte man wohl noch nicht. Die Sprache belegt diese Vermutung. Während wir für Zahlen, die durch zwei teilbar sind, den Namen „gerade Zahlen“ haben, kennen wir keine Bezeichnung für Zahlen, die durch drei teilbar sind. Und während eine Zahl, die bei der Division durch zwei den Rest eins lässt, mit dem Wort „ungerade“ bezeichnet wird, ist für eine Zahl, die bei der Division durch drei den Rest eins oder den Rest zwei besitzt, kein besonderer Name geläufig.
Während die Folge der geraden Zahlen auch von kleinen Kindern in Windeseile begriffen wird, tun sie sich beim Aufzählen der Folgen der durch drei teilbaren, der durch vier teilbaren und der durch noch größere Ziffern teilbaren Zahlen erheblich schwerer. Aber zum Einüben des „kleinen Einmaleins“ müssen sie die „Dreierfolge“ 3, 6, 9, 12, 15, …, die „Viererfolge“ 4, 8, 12, 16, 20, … und alle weiteren Folgen bis hin zur „Neunerfolge“ 9, 18, 27, 36, 45, … brav auswendig lernen. Erst bei der „Zehnerfolge“ 10, 20, 30, 40, 50, … fühlen sie sich erlöst, weil sie so einfach wie das Zählen selbst ist.
Zwar erreicht man mit Bündeln gleichen Umfangs, wenn man zum Beispiel in Dutzenden oder – heute fast schon unbekannt – in Schocks, also in 60er-Bündeln zählt, bei ähnlichem Aufwand größere Zahlen als beim Zählen der Einzeldinge. Aber zu Zahlen, die von gänzlich anderer Größenordnung sind, gelangt man dadurch nicht.
Was hingegen das Bündeln die Menschen früher Hochkulturen lehrte, war das Multiplizieren. Und zugleich ein geometrisches Bild dessen, was die Multiplikation bedeutet. Wenn man zum Beispiel ein „Sechserbündel“ als sechs dicke Punkte in einer Zeile darstellt und wenn sieben derartige Zeilen untereinander geschrieben werden, hat man die Zahl 42 als „Rechteckzahl“, nämlich als 7 × 6 dargestellt. Töricht ist jener, der die Punkte dieser Rechteckzahl der Reihe nach abzählt, bis er bei 42 zu Ende kommt. Dieses Zählen ist unnötig, denn das Rechnen liefert einem sofort das Ergebnis: es ist die Zahl 7 × 6.
So kommt man mit dem Multiplizieren zu größeren Zahlen als mit dem Zählen allein. Allerdings nicht zu allen Zahlen. Die sogenannten Primzahlen sträuben sich dagegen – wir kommen später darauf zu sprechen. Aber wenn zum Beispiel Platon verlangt, dass in seinem idealen Staat genau 5040 Bürger leben sollen, braucht er diese nicht einzeln abzuzählen. Es genügt, wenn sie in der Formation eines Rechtecks antreten: 60 Bürger jeweils in einer Reihe. Dann muss es 84 derartige Reihen geben, denn 84 × 60 stimmt mit 5040 überein.
Ungeschickter wäre es gewesen, Platon hätte die Bürger in einer Zweierreihe antreten lassen. Dann hätte er bis 2520 zählen müssen. Je näher also das Rechteck einem Quadrat gleichkommt, umso effektiver ersetzt das elegante Multiplizieren das stümperhafte Zählen.
Können die Punkte, die eine Zahl symbolisieren, zu einem quadratischen Muster geordnet werden, nennt man die Zahl eine Quadratzahl. Es ist klar, dass die ersten Quadratzahlen
1 × 1 = 1, 2 × 2 = 4, 3 × 3 = 9, 4 × 4 = 16,
5 × 5 = 25, …
lauten. Die Folge 1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, 64, 81, 100, 121, 144, … der Quadratzahlen wächst rasch. Und es ist bemerkenswert, dass die Folge der Differenzen jeder Quadratzahl zu ihrer vorhergehenden, also
4 − 1 = 3, 9 − 4 = 5, 16 − 9 = 7, 25 − 16 = 9,
36 − 25 = 11, …
mit 3 beginnend die ungeraden Zahlen liefert.
Multipliziert man nicht zwei, sondern drei Zahlen miteinander, zum Beispiel 3 × 4 × 5, bildet man gleichsam Bündel von Bündeln. Sieht man 4 × 5 als Rechteckzahl, bei der vier aus jeweils fünf Punkten bestehende Zeilen untereinandergeschrieben sind, werden bei 3 × 4 × 5 drei dieser Rechtecke aufeinandergestapelt. Es entsteht ein Quader, der aus insgesamt 60 Punkten besteht. Die Tatsache, dass man die relativ große Zahl 60 so einfach mit drei Ziffern fassen kann, beeindruckte die frühen Rechenmeister in grauer Vorzeit sicher sehr. Die größte auf diese Weise aus drei einstelligen Ziffern gebildete Zahl ist 9 × 9 × 9 = 729, im Vergleich zur Ziffer 9 ein wahres Zahlenmonster.
Allgemein spricht man von einer Kubikzahl, wenn sie sich als dreifaches Produkt einer Zahl mit sich selber schreiben lässt. Ihr geometrisches Bild ist ein Würfel, lateinisch cubus, daher ihr Name. Die ersten Kubikzahlen lauten
1 × 1 × 1 = 1, 2 × 2 × 2 = 8, 3 × 3 × 3 = 27,
4 × 4 × 4 = 64, 5 × 5 × 5 = 125, … .
Wie man sieht, wächst die Folge 1, 8, 27, 64, 125, 216, 343, 512, 729, 1000, 1331, 1728, … der Kubikzahlen erheblich rasanter als die Folge der Quadratzahlen. Die 200. Kubikzahl lautet 200 × 200 × 200, beträgt also 8 000 000, acht Millionen. Sie ist größer als die Zahl 7 777 777, die Roman Opalka vorschwebte, nach jahrzehntelangem Malen noch erreichen zu können.
Auf den ersten Blick wirkt 200 × 200 × 200 niedlich: Zweihundert Punkte in einer Zeile angeschrieben, das kann man sich ganz gut vorstellen. Zweihundert derartige Zeilen der Reihe nach untereinander gesetzt, auch dieses Punktequadrat überfordert unsere Vorstellungskraft kaum. Und zweihundert derartige Quadrate übereinandergeschichtet, was sollte daran gigantisch sein? Aber trotzdem: Roman Opalka nahm sich, bildhaft gesprochen, vor, jeden einzelnen Punkt dieses Kubus zu berühren, seine Nummer auf die Leinwand zu bannen. Und selbst nach 46 Jahren dieser ermüdend monotonen Tätigkeit ist es ihm nicht gelungen, bis zum letzten Punkt dieses Kubus vorzudringen. Opalka erlosch mitten in ihm.
Wie sehr uns die Kubikzahlen narren können, begreifen wir, wenn wir hören, dass die Sonne ziemlich genau hundertzehnmal größer sei als die Erde. Dieses „hundertzehnmal“ stimmt schon, wenn man sich auf den Radius der Sonnenkugel und den Radius der Erdkugel bezieht: jener beträgt knapp 700 000 Kilometer, dieser knapp 6400 Kilometer. Und tatsächlich ist 110 × 6400 = 704 000. Aber was das Volumen betrifft, ist die Sonne
110 × 110 × 110 = 1 331 000,
also mehr als 1,3 Millionen mal größer als die Erde. Und in Wahrheit kommt es beim Vergleich darauf an, und nicht auf den Radius.
Abb. 5: In der Graphik hat das rechts gezeichnete Haus zwar die doppelte Höhe des linken Hauses, es besitzt aber dessen achtfaches Volumen.
Niemand behaupte, dass ihn diese „Verwirrung im Kubik“ im täglichen Leben nie beträfe. Ein simples Beispiel belehrt eines anderen: Eine Nachrichtenagentur meldet, dass sich in den letzten zehn Jahren die Zahl der errichteten Eigentumshäuser verdoppelt habe. Flugs entscheidet die Redaktion einer Zeitschrift, diese Botschaft mit einer anschaulichen Grafik zu verdeutlichen. Auf einer waagrechten Achse werden der Zeitpunkt vor zehn Jahren und der gegenwärtige Zeitpunkt eingetragen, senkrecht über dem Zeitpunkt vor zehn Jahren ein Punkt, dessen Höhe über der waagrechten Achse die damalige Zahl der Eigentumshäuser symbolisiert, und senkrecht über dem gegenwärtigen Zeitpunkt ein doppelt so weit von der waagrechten Achse entfernter Punkt, der die jetzige Zahl der Eigentumshäuser darstellt. So weit, so richtig. Die beiden eingetragenen Punkte werden geradlinig verbunden – was ein wenig gewagt ist, weil niemand weiß, ob die Zahl der Eigentumshäuser wirklich so gleichmäßig stieg. Aber dem Chefredakteur ist diese Grafik immer noch zu abstrakt. „Wir müssen das griffiger hinkriegen“, feuert er die Grafiker an, „zeichnen wir zwei Häuser in die Grafik hinein! Ein kleines, das links beim Zeitpunkt vor zehn Jahren errichtet ist und bis zu dem Punkt über ihm reicht, und ein doppelt so hohes für den jetzigen Zeitpunkt.“ Gesagt, getan: Die Grafik wird damit zum begehrten Blickfang der Leser, die erstaunt sind, wie gewaltig die Zahl der Eigentumshäuser zugenommen hat. Denn die meisten unter ihnen beobachten weder den Verlauf der ansteigenden Geraden, noch lesen sie die angeführten Zahlen, sondern sie werden vom Bild der beiden Häuser gefangen genommen. Und dadurch getäuscht. Denn das größere, graphisch aufgeblasene Haus hat zwar die doppelte Höhe, aber die vierfach größere Fassade und sogar das achtfache Volumen …
Mundus vult decipi – die Welt will betrogen werden.