Hilberts Programm

So eigenartig die Szenarien von „Hilberts Hotel“, von „Hilberts Haltestelle“ und von „Hilberts Garderobe“ klingen, so wichtig war es Hilbert, bei diesen Szenarien Klarheit zu schaffen. Denn in ihnen spiegelt sich sein Rechnen mit unendlichen Dezimalzahlen wider. Wir erinnern uns: Die Größe

π = 3,141 592 653 589 793 238 462 643 383 279 502 88 …

gilt es in ihrer Gesamtheit zu beherrschen. Das Dämonische an dieser Darstellung von π sind die drei Punkte … nach den ersten 35 Nachkommastellen. Wie haben wir sie zu verstehen? Die naheliegende Antwort lautet: „π hat nicht nur 35, π hat vielmehr unendlich viele Nachkommastellen. Die ersten 35 von ihnen sind oben angeführt. Alle restlichen – und dies sind unendlich viele! – sind durch die drei Punkte … symbolisiert.“

„Dann muss die Frage erlaubt sein“, könnte ein Skeptiker bei dieser Erklärung einhaken, „ob zum Beispiel die Ziffer Null, die ja bei den ersten 35 Nachkommastellen nur ein einziges Mal aufscheint, in der ganzen unendlichen Dezimalentwicklung von π unendlich oft vorkommt oder nicht.“

„Ganz recht“, würde Hilbert auf diesen Einwurf antworten, „und soweit man π bisher berechnet hat, scheint die Null so oft auf wie jede andere Ziffer auch: Im Großen gesehen kommt im Mittel bei hundert aufeinanderfolgenden Nachkommastellen von π zehnmal die Null vor, bei tausend aufeinanderfolgenden Nachkommastellen hundertmal, bei zehntausend aufeinanderfolgenden Nachkommastellen tausendmal, und so weiter.“

„Soweit man π bisher berechnet hat, sagen Sie“, wirft der Skeptiker ein. „Beim Rest der noch nicht berechneten Nachkommastellen – und das betrifft ja unendlich viele, also die weitaus meisten – wissen Sie es anscheinend nicht.“

„Zugegeben. Für alle unendlich vielen Nachkommastellen weiß ich derzeit die Antwort nicht. Wohl aber bin ich überzeugt, dass entweder der Satz stimmen muss, dass in der Dezimalentwicklung von π unendlich viele Nullen vorkommen, oder aber der Satz stimmen muss, dass in der Dezimalentwicklung von π nur endlich viele Nullen vorkommen.“

„Und welcher der beiden Sätze stimmt?“

„Sicher einer von ihnen.“ Die insistierenden Fragen des Skeptikers gehen Hilbert bereits auf die Nerven. „Aber glauben Sie mir: Ich habe viel Wichtigeres zu tun, als mich dieser im Grunde unerheblichen Frage nach dem Vorkommen der Null in der Dezimalentwicklung von π zu widmen.“

„Es kommt Ihnen also nur darauf an, dass man im Prinzip diese Frage beantworten kann.“

„Ganz recht. Jede Frage, die erlaubt ist – und Ihre Frage, obwohl von geringstem Interesse, ist erlaubt –, muss eine Antwort besitzen. Denn in der Mathematik gibt es kein ,Ignorabimus‘.“

„Und woher nehmen Sie Ihre Überzeugung? Wie können Sie diese begründen?“

Auch wenn dieser Dialog mit Hilbert erfunden ist: Die letzte Frage des Skeptikers veranlasste Hilbert, ein Programm zu entwerfen, das er am 4. Juni 1925 anlässlich eines Vortrags mit dem Titel „Über das Unendliche“ vor der „Mathematiker-Zusammenkunft“ in Münster in Westfalen verkündete. Ziel dieses Programmes ist, dass „die Schlussweisen mit dem Unendlichen durch endliche Prozesse ersetzt werden, die gerade dasselbe leisten, d. h. dieselben Beweisgänge und dieselben Methoden der Gewinnung von Formeln und Sätzen ermöglichen.“ Was ist damit gemeint?

Hilbert sieht drei Vorgehensweisen, sich der Frage zu stellen, wie viele Nullen in der Dezimalentwicklung von

π = 3,141 592 653 589 793 238 462 643 383 279 502 88 …

auftauchen: Erstens der naive Vorschlag, der vom Rezeptionisten von „Hilberts Hotel“ stammen könnte: Man stelle sich vor, die unendliche Folge der Nachkommastellen von π zu durchlaufen und dabei die auftretenden Nullen abzuzählen. Auf diese Weise gelangt man sofort zur Antwort.

Doch das ist purer Unsinn. Niemand kann unendlich viele Nachkommastellen so durchlaufen wie ein Polizist die Verbrecherkartei in seinem Aktenordner. Denn es gibt Gott sei Dank nur endlich viele Verbrecher, aber die Nachkommastellen von π gelangen nie an ein Ende. Schon Gauß hatte in einem am 12. Juli 1837 an seinen Freund Hans Christian Schumacher gerichteten Brief „gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe als einer vollendeten“ protestiert, weil dies „in der Mathematik niemals erlaubt ist“. Und Hilbert schließt sich dem Protest von Gauß an, wenn er schreibt, die mathematische Literatur sei „stark durchflutet von Ungereimtheiten und Gedankenlosigkeiten, die meist durch das Unendliche verschuldet sind“.

Zweitens die vorsichtige Zurückhaltung: Die Frage, ob in der Folge der Nachkommastellen von π unendlich oder nur endlich viele Nullen auftauchen, ist selbstverständlich erlaubt. Aber es ist denkbar, dass wir nie eine Antwort auf diese Frage bekommen – wobei die Trauer darüber beherrschbar ist, denn obwohl die Frage erlaubt ist, ist sie doch ziemlich weit hergeholt und von geringem Interesse.

Mit diesem Vorbehalt will sich Hilbert nicht abfinden. Für ihn gibt es prinzipiell kein „Ignorabimus“. Auch nicht bei unerheblichen Fragen.29 Ob in der Dezimalentwicklung von π unendlich viele Nullen auftauchen oder nicht, muss doch – so seine Überzeugung – wenigstens prinzipiell feststehen: „Aber es verhält sich doch so, oder es verhält sich nicht so (mag ich auch vielleicht außerstande sein, es zu entscheiden)!“30

Drittens der Königsweg, den Hilbert als Programm formuliert: Er greift hier wieder auf den Brief von Gauß an Schumacher zurück, in dem steht: „Das Unendliche ist nur eine Façon de parler“, eine Redensart. So wie Hilbert knapp vor 1900 die gesamte Geometrie als ein Spiel mit den leeren Begriffen „Punkt“, „Gerade“, „Ebene“ auffasste – wobei die Regeln dieses Spiels in seinen zwanzig Axiomen zusammengefasst sind – und ihm damit gelang, die Geometrie als eine vollständige und widerspruchsfreie Theorie zu etablieren, so soll es auch mit den unendlichen Dezimalzahlen, ja mit dem Unendlichen schlechthin geschehen.

Auch das Rechnen mit dem Unendlichen ist in Hilberts Augen ein großes Spiel, eine Art überdimensionales Schach. Wie es beim Schachspiel Figuren gibt, die man nach bestimmten Regeln ziehen kann, gibt es auch in der Mathematik die Zahlen, mit denen man nach bestimmten Regeln rechnet. Und so wie es beim Schachspiel unumstößlich feststeht, ob der gegnerische König matt gesetzt wurde oder nicht, so erwartet man auch in der Mathematik, dass man von jeder Formel jedenfalls im Prinzip nachprüfen kann, ob sie stimmt oder nicht.

Das Wort „unendlich“ ist in diesem Schachspiel der Mathematik nichts anderes als eine Figur. Und wie der König im Schach kein Reich besitzt, kein Volk regiert, keine Geschichte schreibt, sondern nur ein geschnitztes Stück Holz in der Hand des Spielers ist, ist auch das Unendliche im Regelspiel Hilberts ein leerer Begriff, dem nichts gewaltig Großes, nichts Überwältigendes anhaftet. „Unendlich“ ist nur ein Wort, mit dem man nach vorgegebenen Regeln umgeht. Und es gilt zu zeigen, dass ein nach einem strengen Regelsystem ausgefeiltes mathematisches „Schachspiel“, bei dem „unendlich“ genauso eine Spielfigur darstellt wie beim gewöhnlichen Schach der König und man einfach nur den Gesetzen der endlichen Arithmetik, also dem Rechnen mit den wohlbekannten endlichen Zahlen folgt, Folgendes zu leisten vermag: einerseits alle in ihm auftretenden Formeln entweder als korrekt oder als falsch zu entlarven und andererseits vielleicht zu Paradoxien, also zu erstaunlichen Phänomenen, aber nie zu Widersprüchen, also in logische Sackgassen zu führen.

Mitarbeiter Hilberts, unter ihnen Paul Bernays, Wilhelm Ackermann, Jacques Herbrand und John von Neumann, nahmen den Auftrag sofort ernst, dieses Programm ihres Mentors zu verwirklichen. Ein paar Worte seien zu diesen Protagonisten verloren:

Paul Bernays, in London geborener Züricher Bürger, kam als Bub und junger Mann über Paris und Berlin nach Göttingen. Er lehrte dort nach einem Zwischenaufenthalt in Zürich bis zum Jahre 1933. Als Jude aus Deutschland vertrieben, zog er in die Schweiz und verbrachte seine letzten Jahre an der ETH in Zürich. Er entwarf zusammen mit von Neumann das elegante Regelsystem, in dem die Axiome stehen, die sowohl die Zahlen wie auch das Unendliche als „Spielfiguren“ des mathematischen „Spiels“ befolgen. Von diesem System von Axiomen galt es zu beweisen, dass es vollständig und widerspruchsfrei ist.

Wilhelm Ackermann war einer der treuesten Schüler Hilberts, dem trotz unermüdlicher Bemühungen um das Programm seines Lehrers eine Laufbahn an der Universität verwehrt blieb. Er schlug den Beruf eines Gymnasiallehrers ein, den er bis knapp vor seinem Tod vorbildhaft ausfüllte. Das Gerücht will nicht verstummen, dass Hilbert ihm wegen seiner Heirat keine Stelle an der Universität verschaffte. „Oh, das ist wunderbar“, soll Hilbert ausgerufen haben,31 als er von Ackermanns Hochzeit erfuhr, „das sind gute Neuigkeiten für mich. Denn wenn dieser Mann so verrückt ist, dass er heiratet und sogar ein Kind hat, bin ich von jeder Verpflichtung befreit, etwas für ihn tun zu müssen.“

Jacques Herbrand, 1925 der beste Absolvent der Pariser Eliteuniversität École Normale Supérieure, studierte danach in Göttingen bei John von Neumann und Emmy Noether. Er war mit Hilberts Programm vertraut, lieferte auch einige vielversprechende Beiträge, starb jedoch schon mit 23 Jahren, als er beim Bergsteigen in den Alpen verunglückte.

John von Neumann kam 1903 im damals noch kaiserlich-königlichen Budapest als Neumann János in einer steinreichen Bankiersfamilie zur Welt. Seit seiner frühesten Kindheit beeindruckte er durch seine unerhörte Vielseitigkeit: Er sprach Dutzende Sprachen, einige davon schneller als die jeweiligen Muttersprachler, er brillierte gleichzeitig mit einem Chemie- und einem Mathematikstudium in Budapest und in Zürich, er entwickelte für die Quantenphysik ein logisch in sich geschlossenes System von Axiomen, ähnlich wie einst Hilbert für die Geometrie, man verdankt ihm die Erfindung der „Architektur“, die den programmierbaren Rechenmaschinen zugrunde liegt, er entwickelte zusammen mit Oskar Morgenstern die mathematische Spieltheorie, und gegen Ende seines Lebens beriet er die Strategen der amerikanischen Außen- und Verteidigungspolitik. Mit seinem quirligen Wesen, seiner unglaublichen Auffassungsgabe, seinem rasanten Denken, seinem dandyhaften Verhalten galt er als Tausendsassa der Wissenschaft. Wem, wenn nicht ihm, war zuzutrauen, dass er Hilberts Programm binnen weniger Jahren verwirklichte.

Tatsächlich stellten sich schon in den ersten Jahren bei der Verfolgung von Hilberts Programm ermutigende Teilresultate ein. Ganz nahe schien Hilberts Truppe dem Ziel, das „Ignorabimus“ des du Bois-Reymond aus der Mathematik zu verbannen.

Hilbert hatte jedoch gar nicht mehr so sehr den alten Erfinder des „Ignorabimus“ im Sinn, als er 1925 sein Programm proklamierte, denn du Bois-Reymond war damals schon fast 30 Jahre tot. Es war eine lebendigere und aktuelle Gegnerschaft, die ihn zu diesem Schritt bewog: die zu Hermann Weyl, dem kritischsten Zweifler des unbeschwerten Rechnens mit unendlichen Dezimalzahlen, das Hilbert mit seinem Programm verteidigen wollte, der, bitter genug, Hilberts bester Schüler gewesen war.

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