Wobei man es sich als bitteres Los vorstellen muss, ein griechischer Gott zu sein, eine jener Gestalten, die Hesiod und Homer in ihren phantasievollen Erzählungen beschrieben haben. Die Götter der Griechen sind – die aufgeklärten Griechen zur Zeit Platons wussten es natürlich – ein Ausbund von Widerlichkeit: der nach allem, was weiblich ist, gierende Göttervater Zeus, die ihn eifersüchtig verfolgende Hera, die aus dem Schaum des Meeres geborene Aphrodite, die jedem Gott und jedem Sterblichen die Augen verdreht, die aus dem Kopf des Zeus entsprungene, ewig jungfräuliche und zickig launische Athene, der dunkle, die Unterwelt beherrschende Hades und die verzweifelt in seinem Schattenreich hausende Persephone: All diese und noch viele andere Gottheiten und Halbgötter sind Produkte überspannter Phantasien. Sie sind glatter Schwindel. Modern gesprochen: Homer und Hesiod erfanden in den Augen der aufgeklärten Griechen das, was man heute Soap-Operas nennt: Am Olymp, jenem Berg, auf dem die Götter hausen, spielen sich Intrigen, Tragödien und Komödien sonder Zahl ab, die – wie bei Soap-Operas üblich – kein Ende finden. Denn der einzige Unterschied zwischen Menschen und Göttern ist, so hören wir von den einfallsreichen Dichtern, dass jene sterblich sind, diese aber nicht sterben können.
Trotzdem wurden die Ilias und die Odyssee, die beiden großen dichterischen Werke des Homer, von den gebildeten Griechen mit Begeisterung gelesen. Weil sich hinter all den vordergründigen Geschichten von Liebe, Hass und Verrat tiefe Wahrheiten verbergen, in der Schönheit der Sprache, in der Pracht der damals gesungenen Verse und in der Kraft des dichterischen Einfallreichtums. Auch Archimedes hatte die Odyssee gut gekannt und eine ihn offenkundig faszinierende Episode für ein mathematisches Rätsel verwendet, das seinesgleichen sucht.
Nachdem Odysseus und seine Gefährten den schrecklichen Ungeheuern Skylla und Charybdis entkommen waren, näherten sie sich der von Helios, dem Sonnengott, beschützten Insel Sizilien, Trinakria genannt, der späteren Heimat des Archimedes. Odysseus selbst wollte an ihr vorbeisegeln, aber seine Gefährten überredeten ihn, auf der paradiesischen Insel Halt zu machen, um für ein paar Tage Ruhe zu finden. Odysseus warnte sie, sich ja nicht an den auf Sizilien weidenden Rindern zu vergreifen. Denn sie waren heilige Tiere, dem Gotte Helios geweiht. Doch als sich die mitgebrachten Vorräte zu Ende neigten und ungünstige Winde keine Weiterfahrt erlaubten, missachteten die hungrigen Gefährten des Odysseus seine Warnung und schlachteten einige der Rinder. Das sollte ihnen nicht gut bekommen. Helios verlangte vom Göttervater Zeus Genugtuung für die frevelhafte Tat. Kaum hatten Odysseus und seine Gefährten Sizilien verlassen, brach ein Unwetter herein. Zeus schmetterte Blitze gegen das Schiff, und bis auf Odysseus, der keines der Rinder des Helios berührt hatte und sich an einen Mast geklammert retten konnte, ging die gesamte Mannschaft unter.
Archimedes stellte nun sich und einem Akademikerfreund die Frage, wie viele Rinder damals eigentlich auf Siziliens sonnendurchtränkten Weiden gegrast hatten.
1773 entdeckte Gotthold Ephraim Lessing, damals Bibliothekar der Herzoglich-Braunschweigischen Bibliothek in Wolfenbüttel, in einem Codex dieser Bibliothek einen von Archimedes verfassten Brief, der an den von Archimedes als Kollegen geschätzten alexandrinischen Gelehrten Eratosthenes gerichtet war. Zum Inhalt hatte er ein ausgeklügeltes mathematisches Rätsel, das in einem aus 44 Doppelzeilen bestehenden Gedicht formuliert war. In ihm stellte Archimedes eben diese Frage: Wie viele Rinder des Sonnengottes Helios gab es an den Gestaden Siziliens?
Als Information teilte Archimedes dem Eratosthenes höchst verwickelte Beziehungen zwischen den Zahlen der weißen, der schwarzen, der braunen und der gefleckten Rinder, sorgfältig nach Kühen und Stieren getrennt, mit.7 Die Aufgabe bestand aus zwei Teilen. Der erste war – jedenfalls im Vergleich zum zweiten – noch einfach. Archimedes konnte annehmen, dass sein Kollege Eratosthenes dieser ersten Teilaufgabe gewachsen war. Bei ihr brauchte man nur die vier Grundrechenarten zu beherrschen – allerdings musste man sehr geübt sein, denn der Rechenaufwand ist beachtlich. Falls Eratosthenes die erste Teilaufgabe gelöst hat, wird er erkannt haben, dass die Zahl der Rinder ein Vielfaches von 50 389 082 beträgt. Wie groß dieses Vielfache ist, bleibt bei der ersten Teilaufgabe noch offen. Bei der mühseligen Art, wie die Griechen der Antike Zahlen benannten, ist eine so große Zahl wie 50 389 082 zu fassen ein fast unlösbares Unterfangen. Archimedes dürfte sich diebisch gefreut haben, als er sich vorstellte, wie sehr sich Eratosthenes schon beim ersten Aufgabenteil abmühen musste.
Aber der zweite Teil der Aufgabe ist noch viel verwickelter. Er verlangt, wenn man die Angaben des Archimedes richtig übersetzt, dass man zur Berechnung der Gesamtzahl der Rinder, die ein ganzzahliges Vielfaches von 50 389 082 beträgt, noch zwei zusätzliche Zahlen berechnen muss. Aus ihnen ergibt sich nämlich, wie groß das ganzzahlige Vielfache mindestens ist. Und diese beiden zusätzlichen Zahlen stehen, so Archimedes, zueinander in einer sehr subtilen Beziehung, bei der 410 286 423 278 424, ein wahrer Zahlenriese, die entscheidende Rolle spielt.8 Das Geschick des Archimedes bei seiner Aufgabenstellung bestand überdies darin, dass er die oben genannte 410-Billionenzahl mit keiner Silbe erwähnte, sondern sie in poetischen Worten zu verkleiden verstand.
Allein dass Archimedes das plumpe griechische Zahlensystem überwand und mit einer so großen Zahl wie 410 286 423 278 424 rechnete, ringt Bewunderung ab. Aber noch erstaunlicher ist, dass er offenbar wusste, dass sein zweiter Aufgabenteil jedenfalls im Prinzip einer Lösung zugänglich ist. Im Prinzip, weil niemand die Lösung ohne moderne technische Hilfsmittel berechnen kann. Zu groß sind die dabei auftretenden Zahlen, zu mühselig die dafür notwendigen Rechnungen. Auch Archimedes wird sich nicht damit abgemüht haben. Es wird ihm genügt haben zu wissen, dass es die Lösung sicher gibt. Und vor allem war sich Archimedes einer Tatsache gewiss: Eratosthenes stand bei dem zweiten Teil des Rätsels auf heillos verlorenem Posten. Er, Archimedes, aber wusste um die Existenz der Lösung. Kein anderer, nicht einmal der ihm fast ebenbürtige Eratosthenes, konnte ihn in der Beherrschung der Mathematik übertreffen.
Erst im Jahre 1965 haben Hugh Williams, Gus German und Bob Zarnke mit den damals besten Rechenmaschinen, einer IBM 7040 und einer IBM 1620, nach einer Gesamtrechenzeit von fast acht Stunden aus dem Rätsel des Archimedes die Zahl der Rinder des Sonnengottes ermittelt. Es handelt sich um ein schier überwältigendes Ergebnis, eines Gottes wahrhaft würdig. Sind es doch mehr als 7,76 × 10206 545 Rinder – dies ist eine Zahl, die mit den Ziffern 776 … beginnt und sage und schreibe 206 546 Stellen besitzt!
Die Zahl der Atome im Universum ist im Vergleich dazu fast ein Nichts. Und ein solch einzigartiges Genie erledigte ein barbarischer Soldat mit einem Handstreich. „O quam cito transit gloria mundi!“ („Oh wie schnell vergeht der Ruhm der Welt!“) klagt zu Recht Thomas von Kempten, der große niederländische Mystiker des ausgehenden Mittelalters.